Ihr Königreich (eBook)
592 Seiten
Ullstein (Verlag)
978-3-8437-2395-4 (ISBN)
Jo Nesbø, 1960 geboren, ist Ökonom, Schriftsteller und Musiker. Er gehört zu den renommiertesten und erfolgreichsten Krimiautoren weltweit. Jo Nesbø lebt in Oslo.
Jo Nesbø, 1960 geboren, ist Ökonom, Schriftsteller und Musiker. Er gehört zu den renommiertesten und erfolgreichsten Krimiautoren weltweit. Jo Nesbø lebt in Oslo.
Prolog
Es war der Tag, an dem Dog starb.
Ich war sechzehn, Carl fünfzehn.
Ein paar Tage zuvor hatte Papa uns das Jagdmesser gezeigt, mit dem ich ihn tötete. Die breite Klinge hatte in der Sonne geglänzt. Tiefe Rillen auf jeder Seite, die das Blut ableiten, wenn man ein Tier zerlegt. Carl war blass geworden, und Papa hatte ihn gefragt, ob ihm wie im Auto noch einmal schlecht werden würde. Ich glaube, in diesem Moment war in Carl der innige Wunsch entstanden, selbst auch ein Tier zu schießen, irgendeins – was, war ihm eigentlich egal –, und es dann zu zerlegen, es mit dem Messer in kleine Stücke zu schneiden. Nur das zählte.
»Und dann braten und essen wir es«, sagte er, als wir vor der Scheune standen, ich mit dem Kopf tief im Motorraum von Papas Cadillac DeVille. »Papa, Mama, du und ich. Okay?«
»Okay«, sagte ich und drehte den Verteiler, um den Zündzeitpunkt einzustellen.
»Und Dog kriegt auch was«, sagte er. »Es wird genug für alle sein.«
»Klar doch«, brummte ich.
Dog hieß Dog, weil Papa in der Eile angeblich kein anderer Name eingefallen war. Das behauptete er jedenfalls immer. Ich glaube aber, dass Papa diesen Namen liebte. Er war so typisch für ihn. Papa sagte nie mehr als absolut nötig und war amerikanischer als jeder Amerikaner. Und er vergötterte dieses Tier. Ich glaube, er war lieber mit diesem Viech als mit irgendeinem Menschen zusammen.
Unser Hof oben in den Bergen war nicht groß, dafür war die Aussicht fantastisch und die Landschaft wild und urtümlich. Papa bezeichnete das Land als sein Königreich. Von meinem Stammplatz aus, vor der offenen Haube des Cadillac, hatte ich Carl von da an Tag für Tag mit Papas Hund, Papas Flinte und Papas Messer herumlaufen sehen. Manchmal so weit entfernt, dass sie nur noch winzige Punkte weit draußen in der kahlen Landschaft waren. Einen Schuss hörte ich jedoch nie. Wenn sie zum Hof zurückkamen, behauptete Carl immer, keinen Vogel entdeckt zu haben, und ich hielt die Klappe, obwohl die auffliegenden Schneehühner immer anzeigten, wo Carl und Dog sich gerade befanden.
Dann kam der Tag, an dem es endlich knallte.
Ich zuckte zusammen und schlug mit dem Hinterkopf gegen die Innenseite der Motorhaube. Wischte mir das Öl von den Fingern und sah zu der heidebewachsenen Bergflanke, während das Dröhnen des Schusses über das Dorf unten am Budalsvannet weiterrollte wie ein Donner. Zehn Minuten später kam Carl auf den Hof gelaufen, verlangsamte seine Schritte aber, als er so nah war, dass Papa und Mama ihn aus dem Wohnhaus sehen konnten. Dog war nicht bei ihm. Auch die Flinte war weg. Ich glaube, ich wusste schon in diesem Moment, was passiert war, und ging ihm entgegen. Als er mich sah, drehte er sich um und lief langsam zurück in die Richtung, aus der er gekommen war. Tränen liefen ihm über die Wangen.
»Ich habe es versucht«, schluchzte er. »Sie sind vor uns aufgeflogen, ganz viele, ich hab auf sie gezielt, aber ich konnte einfach nicht abdrücken. Dabei wollte ich doch so sehr, dass ihr hört, dass ich es wenigstens versucht habe. Also hab ich die Waffe runtergenommen und abgedrückt. Als die Vögel weg waren, lag dann plötzlich Dog da.«
»Tot?«, fragte ich.
»Nein«, sagte Carl und fing an zu schluchzen. »Aber er wird … sterben. Er blutet aus dem Maul, und beide Augen … sind weg. Der liegt nur da und winselt.«
»Lauf«, sagte ich.
Wir rannten beide los, und nach ein paar Minuten sah ich eine Bewegung in der Heide. Es war ein Schwanz. Dogs Schwanz. Er witterte uns. Wir blieben vor ihm stehen. Die Hundeaugen sahen aus wie zwei kaputte Eidotter.
»Das schafft er nicht«, sagte ich. Nicht weil ich Ahnung von Tieren hatte, wie die Cowboys in den Western, sondern weil ich mir nicht vorstellen konnte, dass Dog als blinder Jagdhund dahinvegetieren wollte, sollte er auf wundersame Weise doch noch überleben. »Du musst ihn erschießen.«
»Ich?«, platzte es aus Carl heraus, als wäre es ein Ding der Unmöglichkeit, dass er, Carl, jemandem das Leben nahm.
Ich sah ihn an. Mein kleiner Bruder.
»Gib mir das Messer«, sagte ich.
Er reichte mir Vaters Jagdmesser.
Ich legte eine Hand auf Dogs Kopf, und er leckte meinen Unterarm. Dann schob ich die Hand unter die Schnauze, drückte den Kopf hoch und schnitt ihm mit der anderen Hand die Kehle durch. Aber ich war nicht energisch genug. Es passierte nichts, Dog zuckte nur leicht. Erst beim dritten Versuch drang die Klinge durch die Haut, und da war es so, als hätte ich einen Saftkarton aufgeschnitten. Das Blut quoll mit einem derartigen Druck heraus, als hätte es nur darauf gewartet, an die Luft zu kommen.
»So«, sagte ich und ließ das Messer in die Heide fallen. Sah das Blut in den Rillen und fragte mich, ob das Warme auf meinen Wangen Blutspritzer waren.
»Du weinst«, sagte Carl.
»Sag Vater nichts davon«, antwortete ich.
»Dass du geweint hast?«
»Dass du es nicht geschafft hast … Dog zu töten. Ich hab dir gesagt, dass es sein muss, und dann hast du es getan. Das sagen wir ihm, okay?«
Carl nickte. »Okay.«
Ich legte mir den Hundekadaver über die Schultern. Er war schwerer als gedacht und rutschte immer wieder herunter. Carl wollte mir helfen, ich sah aber die Erleichterung in seinem Blick, als ich das ablehnte.
Vor der Auffahrt zur Scheune legte ich Dog ab, ging ins Haus und holte Papa.
Auf dem Weg nach draußen gab ich ihm die vereinbarte Erklärung.
Er sagte nichts, hockte sich nur neben seinen toten Hund und nickte, als hätte er das alles erwartet und vielleicht sogar selbst verschuldet. Dann stand er auf, nahm Carl die Flinte aus der Hand und klemmte sich Dogs Leiche unter den Arm.
»Kommt«, sagte er und nickte in Richtung Heuboden.
Er legte Dog auf ein Bett aus Stroh, kniete sich hin, senkte den Kopf und murmelte etwas. Es hörte sich wie ein amerikanischer Psalm an, einer von denen, die er mitunter aufsagte. So hatte ich meinen Vater in meinem ganzen kurzen Leben noch nie gesehen. Er war … er löste sich irgendwie auf.
Als er sich zu uns umdrehte, war er noch immer blass, seine Lippen zitterten aber nicht mehr, und in seinem Blick lag die gewohnte Ruhe.
»Jetzt sind nur noch wir übrig«, sagte er.
Und so war es. Obwohl Papa uns nie schlug, zog Carl neben mir den Kopf ein. Papa strich über den Lauf seiner Flinte.
»Wer von euch hat …« Er suchte nach den richtigen Worten und fuhr mit den Fingern wieder und wieder über die Flinte. »… ihm die Kehle durchgeschnitten.«
Carl blinzelte aufgeregt. Öffnete den Mund.
»Das war Carl«, sagte ich. »Ich habe ihm gesagt, dass es getan werden muss und dass er das selbst tun soll.«
»Wirklich?« Papa sah von mir zu Carl und zurück. »Wisst ihr, mein Herz weint. Es weint, und ich habe nur einen Trost. Und wisst ihr, was das ist?«
Wir standen stumm da, weil wir wussten, dass Papa bei dieser Frage keine Antwort erwartete.
»Dass ich zwei Söhne habe, die sich heute als Männer bewiesen haben. Die Verantwortung übernommen und Entscheidungen getroffen haben. Die Qual der Wahl, wisst ihr, was das ist? Wenn einen die Entscheidung, die man treffen muss, beinahe umbringt und nicht die Tat selbst. Wenn man weiß, dass man, egal, was man tut, nachts wach liegen und sich wieder und wieder fragen wird, ob man das Richtige getan hat. Ihr hättet vor dieser Entscheidung weglaufen können, habt euch ihr aber gestellt. Dog leben und leiden lassen oder ihn töten und zu seinem Mörder werden. Es verlangt Mut, nicht wegzulaufen, wenn man plötzlich vor einer solchen Wahl steht.« Er streckte seine Arme aus. Eine Hand legte sich auf meine Schulter, die andere etwas höher auf Carls. Seine Stimme hatte mit einem Mal das Vibrato von Prediger Armand. »Diese Fähigkeit, in solchen Situationen nicht den Weg des geringsten Widerstands zu gehen, sondern den der höchsten Moral, unterscheidet den Menschen vom Tier.« Er hatte wieder Tränen in den Augen. »Ich stehe hier als gebrochener Mann, aber ich bin sehr, sehr stolz auf euch, Jungs.«
Das waren nicht nur große Worte, es waren mehr zusammenhängende Worte, als ich jemals über die Lippen meines Vaters hatte kommen hören. Carl begann zu weinen, und auch ich hatte einen verdammt dicken Kloß im Hals.
»Jetzt gehen wir und sagen es Mama.«
Davor graute uns. Mama machte bei jeder Ziege, die Vater schlachtete, lange Spaziergänge und kam mit verweinten Augen zurück. Auf dem Weg ins Haus hielt Papa mich kurz zurück, damit etwas Abstand zwischen Carl und uns kam.
»Bevor sie diese Version zu hören bekommt, solltest du dir die Hände gründlich waschen«, sagte er.
Ich hob den Blick, in Gewissheit dessen, was kommen würde. Aber ich sah nur Milde und müde Resignation in seinem Gesicht. Dann strich er mir über den Hinterkopf. Ich kann mich nicht erinnern, dass er das jemals zuvor getan hätte. Oder danach.
»Du und ich, wir sind aus demselben Holz geschnitzt, Roy. Wir sind härter als Mama oder Carl. Deshalb müssen wir auf sie aufpassen. Immer. Verstehst du?«
»Ja.«
»Wir sind eine...
Erscheint lt. Verlag | 2.9.2020 |
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Reihe/Serie | Die Ihr Königreich-Serie |
Übersetzer | Günther Frauenlob |
Verlagsort | Berlin |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Schlagworte | abgehängt • Arm und Reich • Aufklärungsrate • Ausverkauf • Brudermord • Cold Case • gesellschaftlicher Aufstieg • Missbrauch • Neuanfang • Polizeiarbeit • Rache • Rivalität • Sozialer Abstieg • Stalker • Stalkerin • Tourismus • toxische männlichkeit • Ungleichheit |
ISBN-10 | 3-8437-2395-8 / 3843723958 |
ISBN-13 | 978-3-8437-2395-4 / 9783843723954 |
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