Der Fall Alice im Wunderland (eBook)

Kriminalroman

*****

eBook Download: EPUB
2020 | 1. Auflage
315 Seiten
Eichborn AG (Verlag)
978-3-7325-8791-9 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Der Fall Alice im Wunderland -  Guillermo Martínez
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Die ehrwürdige Oxforder Lewis-Carroll-Bruderschaft ist einer Sensation auf der Spur: Aus dem Tagebuch des weltberühmten Schöpfers von Alice im Wunderland ist eine bis dato verschollene Seite aufgetaucht, die Brisantes offenbart. Doch bevor die Bruderschaft den Fund veröffentlichen kann, geschehen mehrere Morde, die durch das literarische Universum von Lewis Carroll inspiriert zu sein scheinen. Auch in ihrem zweiten Fall müssen Logik-Professor Arthur Seldom und sein junger argentinischer Mathematik-Doktorand scharf kombinieren, um den rätselhaften Fall zu lösen.



Guillermo Martínez, geboren 1962 in Bahía Blanca, ist promovierter Mathematiker und verbrachte zwei Jahre seiner Doktorandenzeit an der Universität Oxford. Für seinen weltweiten Erfolgsroman Die Oxford-Morde erhielt er den Premio Planeta; dessen Nachfolgeband Der Fall Alice im Wunderland wurde mit dem angesehenen Nadal-Literaturpreis ausgezeichnet. Guillermo Martínez lebt in Buenos Aires.

Guillermo Martínez, geboren 1962 in Bahía Blanca, ist promovierter Mathematiker und verbrachte zwei Jahre seiner Doktorandenzeit an der Universität Oxford. Für seinen weltweiten Erfolgsroman Die Oxford-Morde erhielt er den Premio Planeta; dessen Nachfolgeband Der Fall Alice im Wunderland wurde mit dem angesehenen Nadal-Literaturpreis ausgezeichnet. Guillermo Martínez lebt in Buenos Aires.

1


Ein paar Jahre vor der Jahrtausendwende bin ich kurz nach meinem Universitätsabschluss mit einem Stipendium nach England gereist, um in Oxford Logik zu studieren. In meinem ersten Jahr dort hatte ich das Glück, den großen Arthur Seldom kennenzulernen, Autor der Ästhetik des Denkens und der philosophischen Fortführung des Gödel’schen Unvollständigkeitssatzes. Ziemlich unverhofft, war es nun Zufall oder Schicksal, wurde ich an seiner Seite unmittelbarer Zeuge einer seltsamen Reihe von Todesfällen, alle so unauffällig und leise, fast schon abstrakt, dass die Zeitungen sie »unsichtbare Verbrechen« nannten. Vielleicht werde ich eines Tages in der Lage sein, den verborgenen Schlüssel zu enthüllen, den ich über diese Vorfälle in Erfahrung brachte; einstweilen soll ein Satz genügen, den ich Seldom einmal sagen hörte: »Ein Verbrechen ist nicht perfekt, wenn es ungelöst bleibt, sondern wenn ein falscher Täter gefasst wird.«

Als ich im Juni 1994 mein zweites Jahr in Oxford begann, wurde kaum noch über die Ereignisse gesprochen, alles war zur Normalität zurückgekehrt, und so hoffte ich, in den vor mir liegenden langen Sommertagen die verlorene Zeit nachzuholen, um die gefährlich näher rückende Frist für meinen Stipendiumsbericht einzuhalten. Die Betreuerin meiner Doktorarbeit, Emily Bronson, die meine mangelnde Produktivität während der letzten Monate gnädig übergangen hatte, in denen sie mich allzu oft in Tenniskleidung und in Begleitung einer hübschen Rothaarigen gesehen hatte, brachte mich auf sehr britische Weise ebenso diskret wie bestimmt dazu, mich für eines der verschiedenen Themen zu entscheiden, die sie mir am Ende des Semesters vorgeschlagen hatte. Ich wählte das einzige aus, das irgendwie mit meiner heimlichen Liebe zur Literatur vereinbar war.

Dabei ging es um die Entwicklung eines Programms, das es ermöglichen würde, anhand eines Manuskriptfragments die Linienführung der Schrift nachzuvollziehen, das heißt die Bewegung von Hand und Stift im Moment des Schreibens. Es handelte sich um die noch hypothetische Anwendung eines Satzes zur topologischen Dualität, über den sie gearbeitet hatte – eine Herausforderung, die mir ausreichend originell und komplex erschien, dass ich meiner Betreuerin eine gemeinsame Veröffentlichung vorschlagen konnte, sollte mein Vorhaben von Erfolg gekrönt sein.

Schneller als gedacht war ich ausreichend vorangekommen, um Seldom in seinem Büro aufzusuchen. Wir hatten uns angefreundet, seit wir an der Aufklärung jener Reihe von Morden beteiligt gewesen waren, und auch wenn Emily Bronson meine offizielle Betreuerin war, testete ich meine Ideen lieber bei ihm aus. Sein geduldiger, immer leicht amüsierter Blick gab mir eine größere Freiheit, Hypothesen zu wagen, die Tafel vollzukritzeln und mich – meistens – zu irren. Wir hatten lange über Bertrand Russells implizite Kritik an Wittgenstein in seinem Prolog zum Tractatus geredet, über das versteckte mathematische Element im zentralen Unvollständigkeitsphänomen, über Borges’ Pierre Menard und die Unmöglichkeit, aus der Syntax auf den Sinn zu schließen, die Suche nach einer perfekten künstlichen Sprache, die Versuche, den Zufall in einer mathematischen Formel einzufangen … Mit meinen dreiundzwanzig Jahren war ich überzeugt, die Lösungen zu einigen dieser Probleme gefunden zu haben, und waren sie vielleicht auch etwas naiv und größenwahnsinnig, so schob Seldom, sobald ich sein Büro betrat, dennoch seine eigenen Papiere zur Seite, lehnte sich in seinem Stuhl zurück und lauschte schmunzelnd meinen begeisterten Ausführungen, ehe er mich auf irgendeine Arbeit hinwies, in der meine Überlegungen bereits ausgeführt oder widerlegt worden waren. Ungeachtet Wittgensteins lakonischen Satzes, worüber man nicht reden könne, darüber solle man schweigen, redete ich doch immer ein wenig zu viel.

Doch dieses Mal war es anders: Seldom fand das Thema vernünftig, interessant, durchführbar. Außerdem habe es, sagte er ein wenig geheimnisvoll, auch mit anderen Fragestellungen zu tun, die wir in Erwägung gezogen hätten. Schließlich gehe es darum, ausgehend von einem statischen Bild – grafisch festgehaltenen Symbolen – eine mögliche Vergangenheit zu rekonstruieren. Ich nickte, und ermuntert von seiner Zustimmung zeichnete ich schnell eine Wellenlinie auf die Tafel, deren Verlauf ich dann direkt daneben langsam nachzog.

»Ich stelle mir einen Kopisten vor, der die Linienführung mit ruhiger Hand, beharrlich wie eine Ameise, zu imitieren versucht. Aber das Originalmanuskript wurde in einem bestimmten Rhythmus geschrieben, mit einer Leichtigkeit, in einem anderen Tempo. Meine Absicht ist es, die physische Bewegung im Moment des Schreibens nachzuvollziehen, den Entstehungsakt des Textes. Oder zumindest die unterschiedlichen Geschwindigkeiten aufzuzeichnen. Es ist so ähnlich wie das, was wir über Pierre Menard gesagt haben: Cervantes hat den Quijote sicherlich mit Verve geschrieben, wie Borges es sich vorstellt – dem Zufall, Impulsen und spontanen Einfällen folgend. Pierre Menard dagegen muss ihn mit den Schildkrötenschritten der Logik reproduzieren, an unerbittliche Gesetze und Überlegungen gekettet. Der Text, den er erhält, ist im Wortlaut identisch, nicht aber in den ihm zugrunde liegenden, unsichtbaren mentalen Vorgängen.«

Seldom schwieg einen Moment nachdenklich, als erwäge er das Problem aus einer anderen Perspektive oder als sehe er seine möglichen Komplikationen voraus, dann schrieb er mir den Namen eines Mathematikers und ehemaligen Studenten von ihm auf, Leyton Howard, der inzwischen in der wissenschaftlichen Abteilung der Polizei als Schriftsachverständiger arbeitete.

»Sie sind ihm bestimmt schon über den Weg gelaufen, ein Australier, der immer zum Vier-Uhr-Tee kam, auch wenn er kaum je ein Wort mit irgendjemandem wechselte. Sommers wie winters läuft er barfuß herum, das ist Ihnen bestimmt aufgefallen. Er ist ein wenig menschenscheu, aber ich werde ihm schreiben und ihn bitten, Sie eine Weile bei sich arbeiten zu lassen, es wird Ihnen helfen, Ihre Aufgabenstellung mit realen Beispielen zu untermauern.«

Seldoms Vorschlag erwies sich wie immer als goldrichtig, und so verbrachte ich im darauffolgenden Monat etliche Stunden in dem winzigen Büro unter dem Dach, das man Leyton im Polizeipräsidium zugewiesen hatte, und machte mich anhand seiner Archive und Notizen vertraut mit den Tricks von Scheckfälschern, Poincarés statistischen Argumenten als mathematischer Gutachter in der Dreyfus-Affäre, den chemischen Feinheiten von Tinte und Papier und historischen Fällen gefälschter Testamente.

Ich hatte mir für diesen zweiten Sommer ein Fahrrad geliehen, und wenn ich auf dem Weg zum Polizeipräsidium St. Aldate’s hinunterfuhr, begrüßte ich die junge Verkäuferin von Alice’s Shop, einem kleinen, funkelnden, an ein Puppenhaus erinnerndes Ladengeschäft voller Kaninchenfiguren, Uhren, Teekannen und Herzköniginnen, das sie stets um diese Zeit öffnete. Manchmal begegnete ich auf der Treppe des Präsidiums auch Inspektor Petersen. Beim ersten Mal zögerte ich, ihn zu grüßen, aus Sorge, er könnte Seldom und indirekt auch mir den Ausgang der Ermittlungen nachtragen, während derer sich unsere Wege gekreuzt hatten, aber zum Glück war dem nicht so; stattdessen machte er sich sogar immer wieder den Spaß, mir auf Spanisch einen guten Tag zu wünschen.

Wenn ich in das Büro unter dem Dach kam, war Leyton immer schon da, eine Kanne Kaffee vor sich auf dem Tisch. Mein Eintreffen bedachte er mit einem fast unmerklichen Nicken. Er war vielleicht fünfzehn Jahre älter als ich, hatte ein blasses, sommersprossiges Gesicht und einen langen rötlichen Bart, den er beim Nachdenken um einen Finger wickelte. Man hätte ihn für einen in die Jahre gekommenen Hippie halten können oder für einen der ausgesucht zerlumpten Bettler, die vor den Toren der Colleges Philosophiebücher lasen. Er sprach nur das Nötigste, und das auch nur, wenn ich ihm eine direkte Frage stellte – die er nach längerem Sinnieren schließlich mit einem kurzen Satz beantwortete, der ebenso notwendig und hinreichend war wie eine mathematische Bedingung. Ich stellte mir vor, dass er in diesen Momenten aus einem sinnlosen Stolz heraus im Geiste verschiedene Formulierungen durchging, bis er die kürzeste und prägnanteste gefunden hatte.

Als ich ihm mein Projekt dargelegt hatte, zeigte er mir zu meiner großen Enttäuschung ein Programm, das die Polizei vor einigen Jahren initiiert hatte und dem die gleiche Idee zugrunde lag wie meine: Anhand der unterschiedlichen Stärke der Tintenstriche sollte die Schreibgeschwindigkeit ermittelt werden, der Abstand zwischen den Wörtern markierte den Rhythmus, eine verstärkte Schräglage war ein Indikator für Beschleunigung … Wobei man sagen muss, dass das Programm der Polizei auf ziemlich groben Simulationen mit einem Algorithmus sukzessiver Approximation beruhte. Als Leyton mir meine Entmutigung ansah, ließ er sich zu einem vollständigen Satz des Zuspruchs herab: Ich solle das Programm trotzdem einmal gründlich analysieren, vielleicht könne das Theorem meiner Betreuerin, das ich ihm zu erklären versuchte, seine Effizienz ja steigern. Ich beschloss, auf ihn zu hören, und als er sah, dass ich mich ernsthaft an die Arbeit machte, öffnete er mir großzügig seine Zauberkiste, und ich durfte ihn sogar zu zwei Prozessterminen ins Gericht begleiten. Auf der Empore vor den Richtern war Leyton kurzzeitig kaum wiederzuerkennen, vielleicht, weil er zu dem Anlass Schuhe hatte anziehen müssen. Seine Ausführungen waren brillant, voller stichhaltiger und unwiderlegbarer Details.

Auf dem Rückweg ins Büro...

Erscheint lt. Verlag 29.5.2020
Übersetzer Angelica Ammar
Sprache deutsch
Original-Titel Los Crímenes de Alicia
Themenwelt Literatur Krimi / Thriller / Horror
Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 20. - 21. Jahrhundert • Alice im Wunderland • England / Großbritannien • Ermittlerteam • Jorge Luis Borges • Krimis • Lewis Carroll • Literaturgeschichte • Logik • Mathematik • Oxford • Symbolik • Umberto Eco • Universität
ISBN-10 3-7325-8791-6 / 3732587916
ISBN-13 978-3-7325-8791-9 / 9783732587919
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