Milena und die Briefe der Liebe (eBook)

Kafka ist ihr Leben, das Schreiben ihre Leidenschaft
eBook Download: EPUB
2020 | 1. Auflage
368 Seiten
Aufbau Verlag
978-3-8412-2582-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Milena und die Briefe der Liebe -  Stephanie Schuster
Systemvoraussetzungen
9,99 inkl. MwSt
  • Download sofort lieferbar
  • Zahlungsarten anzeigen
Was nützt die Liebe in Gedanken? Prag, 1916: Die junge Milena ist selbstbewusst und abenteuerlustig. Am liebsten verbringt sie ihre Tage in Kaffeehäusern, den Treffpunkten der Bohème. Dort begegnet sie dem geheimnisvollen Schriftsteller Franz Kafka. Sofort ist klar, dass die beiden mehr verbindet als nur die Literatur. Da verbannt sie ihr Vater aus ihrer Heimat. Sie heiratet den Literaturkritiker Ernst Pollak und lebt mit ihm in Wien, doch die Ehe scheitert und Milena verarmt. In ihrer Not schreibt sie Franz Kafka, schlägt ihm vor, seine Texte ins Tschechische zu übersetzen. Schon bald entspinnt sich eine Liebe, die ihresgleichen sucht ... Die Geschichte einer emanzipierten Frau und Journalistin, die allen Widrigkeiten ihrer Zeit trotzte. Von der Autorin des Bestsellers 'Die Wunderfrauen'

Stephanie Schuster, geboren 1967, studierte Grafikdesign und illustrierte viele Jahre die Bücher anderer Autoren, bevor sie selbst zu schreiben begann. Heute arbeitet sie als Schriftstellerin, Malerin und Illustratorin. Sie lebt mit ihrer Familie am Starnberger See in Bayern. Als sie Kafkas »Briefe an Milena« las, war sie fasziniert von der Frau, der er diese Briefe widmete, und fragte sich, was sie wohl Kafka geantwortet haben könnte. Denn Milenas Briefe an Kafka sind bis heute verschollen.

1. Kapitel


ENZIAN

Milena konnte ihre Aufregung kaum verbergen. Seit Wochen freute sie sich auf diesen Abend. Obwohl sie eine Platzkarte besaß, glaubte sie bis zuletzt, dass etwas dazwischenkäme, die Aufführung angesichts des Krieges abgesagt wurde, die Hauptdarsteller erkrankten oder dergleichen. Wie durch ein Wunder saß sie dann tatsächlich rechtzeitig, sogar ein wenig zu früh, in der zweiten Reihe des Ständetheaters. Die barocken, goldverzierten Logen, die sich bis unter die Decke zogen, füllten sich langsam mit behandschuhten Damen und ihren Begleitern, älteren zylindertragenden Herren der obersten Prager Gesellschaft, die nicht eingezogen worden waren. Milena hätte ihren Vater um einen Logenplatz bitten können, schließlich war die Karte sein Geschenk zu ihrem zwanzigsten Geburtstag gewesen. Doch sie bevorzugte das Parkett, wollte so dicht wie möglich an der Bühne sein und die Schauspieler aus nächster Nähe sehen, um das, was sie im Stück durchlebten, hautnah mitzuerleben, sich dabei in Lachen und Tränen aufzulösen. Darum war es ihr sogar lieber, allein, ohne ihre Freundinnen, hier zu sein, sie wollte jedes Wort einsaugen und nicht durch Gespräche über den neuesten Klatsch und Tratsch abgelenkt werden. Noch ein Jahr, dann war sie großjährig, konnte tun, was sie wollte. Sie grinste in sich hinein, als sie daran dachte. Als ob sie nicht schon jetzt tat, wozu sie Lust hatte, und zusammen mit Jarmila und Staša, als stadtbekannte »Minervistinnen« ständig etwas Neues ausheckte. Auch noch im Studium haftete ihnen der Ruf der rebellischen Mädchen an. Kam ihnen etwas davon zu Ohren, schürten sie es fleißig weiter, halfen mit, die Legenden auszuschmücken, die das »Minerva«, das erste Mädchengymnasium der österreichisch-ungarischen Monarchie umrankte. Geschichten von Frauenliebe, Anleitungen, um aufzubegehren, bis hin zur weiblichen Machtübernahme. Frauen in Führungspositionen, welch Absurdität! Wer von diesen »freien Weibern« wollte dann noch Kinder gebären und sich dem Haushalt widmen, ereiferten sich die Männer, die um ihre Positionen bangten. Sollten sie das am Ende selbst übernehmen, reichte es nicht, dass sie bereits ihr Leben an der Front riskierten? Wozu musste eine Frau Altgriechisch lernen? Wären nicht Sockenstricken und ein Kochkurs hilfreicher? Besonders die gleichaltrigen Jungen reagierten mit Spott und riefen ihnen »Achtung, da kommt eine nervige Minerva« in den Gassen hinterher. Auch wenn kaum etwas von den Gerüchten stimmte und Milenas Schulzeit oft von Leid, Drill und Strenge geprägt war, so war sie doch stolz, zu den Auserwählten gehört zu haben, und nun als eine der ersten Frauen zur Universität zugelassen worden zu sein. Trotzdem dauerte es noch ein Weilchen, bis sie großjährig wurde. Aber die Zeit bis zu ihrem einundzwanzigsten Geburtstag würde sie sich zusammen mit ihren Freundinnen schon versüßen und gelegentlich aufbegehren.

Zu Ehren von Emilia Galotti hatte sie sich extra neu eingekleidet und trug ein pastellfarbenes kniekurzes Samtkleid mit einer großen Schleife an der Hüfte. Ihre Locken hielt eine enzianblaue Blüte, die sie an eine Haarspange gebunden hatte, aus der Stirn. Die langen Beine betonte sie mit übers Knie geknöpften Gamaschen. Das war der neueste Schrei der Prager Modewelt, laut Verkäufer erst vor Kurzem aus London eingetroffen. Zusammen mit Staša hatte sie sich die Gamaschen beim Damenausstatter Veselý gekauft, ihre Beste-Freundinnen-Kluft nannten sie die eleganten Beinwärmer seitdem. Jarmila, die zurzeit nur noch Augen für einen gewissen Josef hatte, blieb dabei außen vor. Leider machte sich auch Staša nichts aus Theater, schon gar nichts aus Trauerspielen. Als Ausgleich zu den Vorlesungen, wo sie lange genug stillsitzen und zuhören musste, ging sie lieber tanzen. Und auch Jarmila hatte es nicht so mit der Klassik. In etwas Tragisches zu versinken, war nichts für ihre Freundinnen. Im Gegensatz zu Milena. Ihr konnte es nicht dramatisch genug sein, und die Romantik durfte dabei auch nicht zu kurz kommen. Sie wollte schwärmen und laut aufseufzen, mit um ein Leben und die große Liebe flehen. Gespannt hoffte sie, dass es bald losging.

Auch die Parkettreihen füllten sich, neben Milena setzte sich ein Herr in einem schlichten Sakko, das aufgenähte Flicken an den Ellbogen hatte. Er grüßte sie auf Deutsch, was ungewöhnlich war. Normalerweise mieden die Deutschen das tschechische Theater. Als sie nicht reagierte, sagte er »Dobrý večer«, guten Abend auf Tschechisch. Sie nickte kurz, das Licht erlosch und der Vorhang hob sich.

Auf einem Tisch türmten sich Pergamentrollen, hinter denen der Prinz kaum zu erkennen war. »Klagen, nichts als Klagen! Bittschriften, nichts als Bittschriften!«, rief er mit rauer Stimme, die bei Milena eine Gänsehaut verursachte. »Traurige Geschäfte, und man beneidet uns noch.« Ihr Sitznachbar murmelte die deutsche Übertragung mit, er musste das Stück auswendig kennen. Ab und zu streifte seine Jacke ihren Arm. Doch bald vergaß sie alles um sich herum, tauchte voll und ganz in das Geschehen ein.

»Schlimmer als der Tod«, diese Aussage klang ihr noch in den Ohren, als sich der Vorhang endgültig senkte, der Schlussapplaus verebbte und die Bühne verwaist war. Konnte das, was Emilia Galotti widerfahren war, schrecklicher sein, als zu sterben? In der damaligen Zeit bestimmt, in der der Verlust der Jungfräulichkeit vor der Ehe einer Entwertung gleichkam. Als ob eine Frau kein Mensch war, mehr ein Gebrauchsgegenstand. Welch Ungerechtigkeit! Emilia war von ihrem Vater erdolcht worden. Sie hatte ihn sogar angefleht, es zu tun, nur um ihre Tugend zu retten. So weit konnte die eigene Verblendung gehen. Wut keimte in Milena auf, aber zugleich tropften ihr Tränen von der Nase. Sie schniefte. Wahrscheinlich hatte sie auch wieder diese roten Flecken auf der Stirn, wie immer, wenn sie sich in etwas hineinsteigerte. Besser, sie wartete, bis alle gegangen waren, Professor Jesenskýs eigensinnige Tochter sollte niemand so aufgelöst sehen. Das Publikum drängte zu den Saaltüren hinaus, bloß ihr Sitznachbar machte keine Anstalten, sich zu erheben.

Er reichte ihr sein Einstecktuch. »Ich versichere Ihnen, dass es frisch gewaschen ist«, sagte er auf Deutsch, als sie zögerte. »Meine Hauswirtin bestand darauf, wollte mich nicht ohne fortgehen lassen.« Milena nahm es, trocknete sich das Gesicht, den Hals. Dann wusste sie nicht, wohin mit dem Tuch, gab es ihm einfach zurück. Vielleicht würde er nun gehen, und sie konnte sich ungestört beruhigen. Er beugte sich vor, drehte sich zu ihr, legte seine Finger unter ihre und küsste ihre rechte Hand. »Gnädiges Fräulein, darf ich mich vorstellen? Pollak mein Name. Ernst Pollak, zu Ihren Diensten.«

Gegen ihren Willen lächelte sie.

Sie wandte sich ihm zu. »Milena Jesenská.« Sein schwarz-glänzendes Haar hatte er über der hohen Stirn streng zurückgekämmt. Er wirkte deutlich älter als sie, war wahrscheinlich kein Student mehr, eher ein Lehrer, ein Professor vielleicht wie ihr Vater. Seinen schweren Augenlidern nach schien er ebenfalls von der Darbietung berührt worden zu sein. Milena musste genau hinsehen, um seinen Blick zu erraten. Schon fing er sie aus kleinen Pupillen ein und schaute sie geradewegs an.

»Und, wie hat Ihnen das Stück gefallen?«, fragte sie, bemüht, korrektes Deutsch zu sprechen.

»Ich habe lieber Ihnen zugehört.«

»Mir? Außer meinem Namen habe ich doch noch gar nichts gesagt.«

»Ich habe trotzdem viel gehört.«

»Sie scherzen, Herr Pollak.«

»Keineswegs.«

Milena schwieg, versuchte sich einen Reim auf all das zu machen. Wie konnte er wissen, was in ihr vorging? Hatte er sie im Schein der Bühne schweigend beobachtet? In der Pause war sie schnell hinausgelaufen, um dann mit der Damenwelt vor nur zwei Wasserklosetts anzustehen, und als sie endlich an ihren Platz zurückkehrte, verdunkelte sich der Saal bereits wieder. In den letzten beiden Akten war sie vor Tränen halb zerflossen, hatte mit Emilia Galotti mitgefiebert, gehofft, dass es einen anderen Ausweg gäbe als diesen Schluss. Vermutlich war Milena auch in allen anderen Szenen körperlich mitgegangen, als stünde sie selbst im Rampenlicht und bangte um ihr Leben.

»Das ist ein Schusternagel in Ihrem Haar, stimmt’s?«, durchbrach Pollak ihr stummes Beisammensitzen im leeren Theater.

Blumenkenner war er auch, jetzt erhielt er ihre volle Aufmerksamkeit. Die Verehrer, die Milena bisher getroffen hatte, waren Jünglinge im Vergleich zu ihm gewesen. Sie lobten ihre Anmut, machten ihr Komplimente, brachten sogar gelegentlich Blumen mit, die sie aber nicht benennen konnten. Und in Wirklichkeit bemerkten sie nicht einmal, was Milena für Kleidung trug, waren mehr an dem darunter interessiert. Dass ein Mann etwas in ihrem Inneren hörte und sie zugleich äußerlich wahrnahm, sogar Enziangewächse voneinander unterscheiden konnte, war ihr neu. »Ich habe Sie ebenfalls reden hören«, sagte sie. »Sie scheinen das Stück genau zu kennen. Sind Sie Theaterkritiker?«

Er lachte. »Schön wäre es! Das ist in der Tat ein Beruf nach meinem Geschmack. Einer meiner Freunde, Max Brod, übt ihn aus. Er ist heute verhindert, musste zu einem Konzert, und hat mir die Karte geschenkt. Dabei dürfte man meinen, ich bekäme in diesem Theater Hausrabatt, ich wohne auf der Rückseite des Gebäudes.« Ein Türsteher näherte sich ihnen. »Wollen wir gehen, bevor sie uns hinauswerfen?« Pollak reichte ihr erneut die Hand und führte sie galant ins Freie.

»Sie sind nicht aus Prag, oder?«, fragte Milena kurz darauf, als sie im Mondlicht am Ufer der...

Erscheint lt. Verlag 10.11.2020
Reihe/Serie Außergewöhnliche Frauen zwischen Aufbruch und Liebe
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Historische Romane
Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 20. Jahrhundert • Außergewöhnliche Frauen zwischen Kunst und Aufbruch • Bohème • Die Pianistin • Ernst Pollak • Franz Kafka • Frida Kahlo • George Sand • Kafka • Lou Andreas-Salomé • milena • Milena Jesenska • Milena Jesenská • Mutige Frauen zwischen Kunst und Liebe • Prag • Thérèse Lambert • Tschechien
ISBN-10 3-8412-2582-9 / 3841225829
ISBN-13 978-3-8412-2582-5 / 9783841225825
Haben Sie eine Frage zum Produkt?
EPUBEPUB (Wasserzeichen)
Größe: 2,2 MB

DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasser­zeichen und ist damit für Sie persona­lisiert. Bei einer missbräuch­lichen Weiter­gabe des eBooks an Dritte ist eine Rück­ver­folgung an die Quelle möglich.

Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belle­tristik und Sach­büchern. Der Fließ­text wird dynamisch an die Display- und Schrift­größe ange­passt. Auch für mobile Lese­geräte ist EPUB daher gut geeignet.

Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise

Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.

Mehr entdecken
aus dem Bereich
Die Geschichte eines Weltzentrums der Medizin von 1710 bis zur …

von Gerhard Jaeckel; Günter Grau

eBook Download (2021)
Lehmanns (Verlag)
14,99
Historischer Roman

von Ken Follett

eBook Download (2023)
Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG
24,99