Die Zeit der Birken (eBook)

Roman
eBook Download: EPUB
2020 | 1. Auflage
392 Seiten
Aufbau Verlag
978-3-8412-2565-8 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die Zeit der Birken -  Christine Kabus
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Die Frauen vom Birkenhof.

Schleswig-Holstein, 1977: Die Liebe zwischen Gesine und dem Pferdetrainer Grigori endet jäh, als er plötzlich spurlos verschwindet. Doch eines Tages stößt Gesine auf Hinweise über seinen Verbleib, die sie nicht nur tief in die Vergangenheit ihrer Familie, sondern auch in die Abgründe europäischer Geschichte führen.

Estland,1938: Charlotte verliebt sich Hals über Kopf in den jungen Esten Lennart. Doch ihre Eltern würden diese Verbindung niemals billigen, und so halten sie ihre Beziehung geheim. Als Charlotte ein Kind von Lennart erwartet, brechen die Wirren des Zweiten Weltkriegs über sie herein, und die Liebenden werden getrennt.

Historisch fundiert und hochemotional erzählt: eine große Saga um die Geheimnisse einer Familie



Christine Kabus, 1964 in Würzburg geboren und in Freiburg aufgewachsen, arbeitete nach ihrem Studium der Germanistik und Geschichte zunächst einige Jahre als Dramaturgin und Lektorin bei verschiedenen Film- und Theaterproduktionen, bevor sie sich 2003 als Drehbuchautorin selbstständig machte. 2013 wurde ihr erster Roman veröffentlicht.

Schleswig-Holstein, September 1977

– 1 –


Frühmorgens, kurz nach sechs, steckte Gesine den Kopf aus ihrem Zimmer und spähte in den dunklen Flur. Kein Lichtschimmer drang unter den Türen zu den Schlafgemächern ihrer Eltern hervor, kein Laut störte die Stille. Gesine griff nach ihren Reitstiefeln und schlich auf Strümpfen zur Treppe. Ein Knacken ließ sie zusammenfahren. Sie blieb stehen und lauschte mit angehaltenem Atem. Es rührte sich nichts. Rasch huschte sie die Stufen hinunter ins Erdgeschoss und prallte um ein Haar mit Anneke zusammen, die gerade aus der Küche kam.

Die Haushälterin, eine zierliche Mittvierzigerin mit dunkelblonder Pagenfrisur, machte erschrocken einen Schritt rückwärts und hielt mit Mühe das Tablett gerade, auf dem Marmeladengläser, Butterdose, Brotkorb und Teller mit Aufschnitt und Käse ins Rutschen geraten waren und leise schepperten. »Nu man sachte, mien Krüselwind!«

»Psst!« Gesine legte einen Finger auf den Mund und schielte zur Treppe. »Tschuldige«, murmelte sie. »Wollte dich nicht erschrecken.« Sie beugte sich zu Anneke hinunter, die sie um einen Kopf überragte, gab ihr einen Kuss auf die Wange und stibitzte gleichzeitig eines der frisch gebackenen Hörnchen, die in einem Korb auf dem Tablett verführerisch dufteten. Sie hielt es mit den Zähnen fest, während sie ihre Stiefel anzog und anschließend zu einer schmalen Tür neben der Küche ging, dem ehemaligen Dienstboteneingang.

»Wo willst du denn hin?«, fragte Anneke. »Hast du nicht Hausarrest?«

Gesine machte eine abwinkende Handbewegung. »Bis zum Frühstück bin ich längst zurück«, antwortete sie. »Du hältst doch dicht, oder?«

Anneke zog die Augenbrauen zusammen.

»Bitte!« Gesine schaute sie flehentlich an.

»Natürlich. Aber komm ja nicht zu spät. Deine Mutter wird sonst …«

Gesine warf ihr eine Kusshand zu und verließ das Haus, ohne Annekes Bedenken zu Ende anzuhören. Der weitläufige Hofplatz lag noch im Schatten. Er wurde von mehreren Gebäuden eingerahmt: Am östlichen Ende stand das ursprünglich im barocken Stil erbaute Herrenhaus, das Ende des 18. Jahrhunderts klassizistisch überformt worden war. Der zweigeschossige verputzte und hellgelb angestrichene Backsteinbau hatte neun Achsen und ein Mansarddach. An der Hofseite ragte ein übergiebelter, dreiachsiger Risalit hervor, in dessen Mitte sich das Eingangsportal befand, zu dem eine breite Treppe führte. Gesine verharrte ein paar Atemzüge lang auf dem oberen Absatz und sog die kühle Morgenluft ein, die vom süßen Duft der Goldruten erfüllt war, die in dichten Stauden auf dem Rondell in der Mitte des Hofplatzes wuchsen. Leises Summen verriet ihr, dass die gelben Rispenblüten bereits von Bienen umschwärmt wurden. Eine Amsel, die zwischen den Stängeln nach Regenwürmern suchte, flog mit einem aufgeregten Tixen davon, als Gesine die Stufen hinuntersprang. Rechts und links des Herrenhauses hatten einst eine reetgedeckte Scheune und das Kavaliershaus für die Bediensteten sowie weitere einstöckige Wirtschaftsgebäude gestanden. Nachdem sie Ende des 19. Jahrhunderts einem Feuer zum Opfer gefallen waren, hatte Gesines Urgroßvater an ihrer Stelle großzügige Stallungen errichten lassen, um seiner Pferdezucht den nötigen Raum zu verschaffen.

Anneke hat ja recht, meldete sich eine leise Stimme in Gesine, während sie zum Stall lief. Mama rastet aus, wenn sie merkt, dass ich ihr Verbot missachte. Sie schob die Unterlippe vor. Es war so ungerecht. Wenn es nach ihrer Mutter gegangen wäre, hätte Gesine die gesamten Sommerferien damit verbracht, für die Schule zu büffeln und sich aufs Abitur vorzubereiten, das sie im kommenden Frühjahr ablegen würde. In den ersten Wochen hatte sie die mütterliche Aufforderung, mindestens drei Stunden täglich zu lernen, weitgehend ignoriert – unterstützt von ihrem Vater Carl-Gustav, der der Meinung war, »das Kind« solle sich erholen, möglichst viel Zeit an der frischen Luft verbringen und den Sommer genießen. Außerdem hielt er es für unnötig, dass sich Gesine bereits zu diesem frühen Zeitpunkt auf die Prüfungen vorbereitete.

Nachdem ihre Appelle an die Vernunft ihrer Tochter unbeachtet verhallten, war Henriette von Pletten schließlich vor vier Tagen – eine Woche vor Schulbeginn – der Kragen geplatzt. In ihren Augen ließen Gesines schulische Leistungen zu wünschen übrig. Von einer guten, geschweige denn hervorragenden Abiturnote war sie weit entfernt. Sie würde es nicht zulassen, dass sich ihre einzige Tochter aus purer Faulheit ihre Zukunft verbaute. Außerdem war sie nicht länger gewillt, sich von ihr auf der Nase herumtanzen zu lassen. Es war höchste Zeit, ihren ungestümen Wildfang an die Kandare zu nehmen und zur Ordnung zu rufen. Die letzten Ferientage sollte Gesine über ihren Büchern verbringen. Und da sie anders nicht dazu zu bewegen war, bekam sie Hausarrest. Zumindest so lange, bis Henriette von Pletten mit ihren Lernfortschritten zufrieden sein würde. Also nie, erkannte ihre Tochter, und setzte alles daran, das mütterliche Verbot auszuhebeln.

Gesine legte den Kopf in den Nacken. Der Himmel wölbte sich wolkenlos über ihr. Hinter den Bäumen des Parks, der sich auf der Rückseite des Wohnhauses Richtung Ostsee ausdehnte, kündete ein heller Streifen vom Aufgang der Sonne. Es versprach, ein herrlicher Tag zu werden. Gesine streckte dem Fenster im ersten Stock, das zu den Zimmern ihrer Mutter gehörte, die Zunge heraus und schlüpfte in den Stall. Es war einfach unmenschlich, sie im Haus einzusperren! Noch dazu bei so wunderbarem Wetter!

Gesine eilte zur Box von Cara, ihrer Holsteiner Stute. Das dunkelbraune Pferd begrüßte sie mit einem Schnauben und ließ sich bereitwillig aufzäumen. Gesine führte Cara hinaus, schwang sich in den Sattel und dirigierte sie zum alten Torhaus, das den Hof nach außen abschloss. Blickfang war der Glockenturm mit seinem an eine Pickelhaube erinnernden Dach über dem Torbogen, an dessen Frontseite ein Relief mit dem Familienwappen prangte: ein Pferd, das sich über drei stilisierten Wasserwellen aufbäumte.

Auf der von alten Eichen gesäumten Allee, die zum Gestüt führte, ließ Gesine die Stute antraben und bog nach etwa fünfzig Metern auf einen Feldweg Richtung Küste ab. Das Anwesen ihrer Familie lag im Kirchensprengel Gundelsby – mitten in Angeln, dem Gebiet zwischen der Flensburger Förde und dem Ostseefjord Schlei. Eine von einstigen Gletschern geprägte hügelige Landschaft mit kleinen Wäldern und Feldern, die mit den typischen Wallhecken voneinander getrennt waren. Diese »Knicks« waren teilweise uralte, von Haselsträuchern, Schlehenbüschen und anderen Gehölzen bewachsene, breite Erd- oder Steinwälle und stammten häufig noch von den Angeln, die bis ins 5. Jahrhundert hier gelebt hatten, bevor sie nach Britannien ausgewandert waren.

Gesine sah ihren Großvater Paul vor sich, der die verschiedenen Ausgrabungen in der Region mit großem Interesse verfolgte. Von klein auf hatte Gesine ihn auf seinen »Streifzügen in die Vergangenheit« begleitet. Besonders aufregend und gruselig hatte sie das Thorsberger Moor in der Nähe von Süderbrarup gefunden. Im 3. und 4. Jahrhundert nach Christus hatten sich verschiedene Stämme in der Gegend erbitterte Kämpfe geliefert. Die Sieger hatten Waffen und Ausrüstung der Unterlegenen im heiligen Moor geopfert – als Dank an ihren obersten Gott Thor. Opa Paul hatte die Welt der Germanen und Wikinger so anschaulich geschildert, dass sie sich damals bei der Erkundung der alten Opferstätte an seine Hand geklammert hatte – halb hoffend, halb fürchtend, dem Geist eines alten Kriegers zu begegnen.

Das ungeduldige Schnauben ihrer Stute riss Gesine aus ihren Gedanken. Sie hatten mittlerweile den Strand erreicht, den sie gewöhnlich für einen Galopp nutzten. Gesine beugte sich vor. »Auf geht’s!«, rief sie und klopfte Cara den Hals.

Die Stute wieherte, beschleunigte ihre Gangart und sauste auf dem feuchten Sand an der Wasserlinie entlang. Gesine jauchzte auf und gab sich ganz der Geschwindigkeit und den kraftvollen Bewegungen des Pferdes hin. Die Welt bestand nur noch aus dem Trommeln der Hufe, dem Geräusch der Brandung, dem Glitzern der Sonnenreflexe auf den Wellen, dem kühlen Wind, der ihre Haare zauste, und dem Glücksgefühl, das sie erfüllte und alles andere für den Augenblick verdrängte.

Eine Stunde später hastete Gesine durch die große Eingangshalle ihres Elternhauses. Aus einer Ecke schoss ein braunes Bündel auf sie zu und sprang bellend an ihr hoch.

»Anton, sei leise«, flüsterte Gesine.

Der Rauhaardackel wedelte mit dem Schwanz und warf sich auf den Rücken, um sich am Bauch kraulen zu lassen.

Gesine bückte sich und streichelte ihn kurz. »Ich hab jetzt leider keine Zeit«, sagte sie und richtete sich wieder auf.

Anton sah sie vorwurfsvoll an und trollte sich in Richtung Küche, während Gesine zum Speisezimmer lief. Vor der Tür hielt sie inne und lauschte den erregten Stimmen, die dumpf nach draußen drangen. Sie verdrehte die Augen. Streit schon am frühen Morgen.

»… so nicht weiter!«, hörte sie ihre Mutter sagen. »Sie ist ungehorsam und aufmüpfig. Das lasse ich mir nicht bieten!«

»Sei doch nicht so streng, meine Liebe«, antwortete der sonore Bariton des Grafen.

Gesine presste ihre Lippen aufeinander. Kein Zweifel, es ging wieder einmal um sie. Vielleicht hätte ich doch auf Anneke hören und nicht ausreiten sollen, dachte sie.

»Auch...

Erscheint lt. Verlag 8.12.2020
Reihe/Serie Die große Estland-Saga
Die große Estland-Saga
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Historische Romane
Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 2. Weltkrieg • Birkenhof • Christine Kabus • Eiserner Vorhang • Emanzipation • emanzipierte Frauen • Estland • Familiengeheimnis • Familien-Saga • Pferde • Pferdeflüsterer • Pferdehof • RAF • Reiten • Schleswig-Holstein • Verbotene Liebe • Zweiter Weltkrieg
ISBN-10 3-8412-2565-9 / 3841225659
ISBN-13 978-3-8412-2565-8 / 9783841225658
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