Das doppelte Gesicht (eBook)

Ein Fall für Emil Graf

(Autor)

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2020 | 1. Auflage
368 Seiten
Aufbau Verlag
978-3-8412-2545-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Das doppelte Gesicht -  Heidi Rehn
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München, Stunde null - ein grausames Verbrechen und eine alte Schuld.

München, August 1945. Der Krieg ist zu Ende, die Stadt versinkt im Chaos. Die Reporterin Billa Löwenfeld, eine aus dem Exil zurückgekehrte Jüdin, soll den Kriegsheimkehrer Viktor von Dietlitz interviewen - und findet ihn erschossen auf. Der junge und noch unerfahrene Ermittler Emil Graf soll den vermeintlichen Routinefall aufklären. Schon bald geschehen zwei weitere Morde nach demselben Muster. Und Emil findet heraus, dass ausgerechnet Billa die gesuchte Verbindung zwischen den drei Opfern sein könnte ...

Ein hervorragend recherchierter Kriminalroman im München der Nachkriegszeit über die Frage, was einen Menschen zum Täter macht.



Heidi Rehn, geboren 1966, studierte Germanistik und Geschichte in München. Seit vielen Jahren schreibt sie hauptberuflich. In München bietet sie literarische Spaziergänge 'Auf den Spuren von ...' zu den Themen ihrer Romane an, bei denen das fiktive Geschehen eindrucksvoll mit der Historie verbunden wird. Im Aufbau Taschenbuch ist von ihr der Roman 'Die Tochter des Zauberers - Erika Mann und ihre Flucht ins Leben' erschienen. Mehr zur Autorin unter www.heidi-rehn.de

1


Donnerstag, 16. August

Schon nach kurzer Zeit an der frischen Luft waren Billas Wangen nass. Nass vom Sommerregen, der aus stetig wechselnden Richtungen durch die Straßen fegte, und nass von Tränen. Mit der rechten Hand zog sie das Revers ihres hellen Trenchcoats eng über der Brust zusammen, mit der linken hielt sie den Schirm schräg vors Gesicht. Der Lederriemen der schweren Tasche schnitt schmerzhaft in ihre Schulter.

Vor ihr lag ein gutes Stück Weg. Sie war froh, noch etwas Zeit zu haben, um ihre Gedanken zu sortieren. Zu viele Eindrücke schwirrten ihr seit ihrer Ankunft in München vor gut zwei Wochen durch den Kopf. Deshalb war sie einige Hundert Meter vor dem Ziel ausgestiegen und hatte ihren Lieblingsfahrer Sam Shephard mit dem Wagen weggeschickt. Jetzt verlangsamte sie ihre Schritte, näherte sich zögernd der Gerner Brücke über den Nymphenburger Kanal und blickte sich reichlich verblüfft um. Binnen Minuten war sie in eine völlig andere Welt versetzt. Eben noch war sie von Sam im Jeep der US-Army in halsbrecherischem Tempo durch die nahezu vollständig zerstörte Innenstadt chauffiert worden. Nach unzähligen Luftangriffen befand sich dort kaum noch ein Stein auf dem anderen. Die ehemaligen Prachtbauten der Wittelsbacher Könige in der Maxvorstadt waren nur mehr kümmerliche Relikte, das legendäre Schwabing ähnelte mehr einem verwirrenden Trümmerlabyrinth denn dem einstigen Lieblingsviertel der Bohème, und entlang der Eisenbahntrasse vom Hauptbahnhof westwärts nach Pasing zog sich eine breite Schneise der Verwüstung. Hunderttausende Münchner irrten, so hieß es, obdachlos zwischen den Ruinen umher, dabei war die Bevölkerung im Lauf des Krieges ohnehin um die Hälfte geschrumpft.

Das alles aber musste auf einem anderen Planeten stattgefunden haben. Der Eindruck drängte sich Billa jedenfalls auf, als sie jetzt mutterseelenallein am Nymphenburger Kanal stand und weder unbehauste, verzweifelte Münchner noch epochale Zerstörungen durch Fliegerangriffe oder Spuren von den Plünderungen der letzten Kriegstage entdeckte. Die schmucken Villen mit ihren runden Erkern, spitzen Türmchen, verglasten Veranden und verspielten Vorgärten schlummerten im Dornröschenschlaf und schienen von unbeschwerten Vorkriegstagen zu träumen.

Dunkel stiegen in Billa Erinnerungen an Einladungen bei steifen Gesellschaften auf, an denen sie hier vor einigen Jahren mit ihrer Mutter Lilo teilgenommen hatte. Schon damals war ihr die Atmosphäre der Gegend seltsam aufgestoßen. Nun wirkte sie geradezu unheimlich auf sie. Vielleicht rührte das auch daher, dass sie mit der Begegnung, die ihr gleich bevorstand, haderte.

Wahrscheinlich war es ein Fehler gewesen, sich überhaupt darauf einzulassen. Von irgendwoher kam ihr der Name ihres Gesprächspartners bekannt vor. Leider brachte sie nicht zusammen, von woher. Ihr Informant Piotr hatte den Termin arrangiert und sie bei der Gelegenheit um einen großen Gefallen gebeten. Äußerst ungern hatte sie eingewilligt. Sie hasste es, sich als Botin missbrauchen zu lassen, vor allem in einer etwas zwielichtigen Angelegenheit. Andererseits wollte sie helfen. Die Ungerechtigkeit, die Piotr widerfahren war, stank zum Himmel. Also hatte sie seiner Bitte trotz aller Bedenken zugestimmt.

Entschlossen lief sie weiter. Zum Umkehren war es ohnehin zu spät. Erst in zwei Stunden würde Sam sie wie verabredet am östlichen Ende des Nymphenburger Kanals wieder aufsammeln. Unwillkürlich tastete sie nach der Pistole in der rechten Manteltasche. Sollte es gefährlich werden, war sie durchaus in der Lage, sich zu wehren. Den Gebrauch der Pistole beherrschte sie im Schlaf.

Ihre Schritte wurden sicherer. Dennoch knickte sie mehrmals auf dem holprigen Pflaster um oder tappte in eine Pfütze. Bald waren ihre Schuhe wasserdurchtränkt, die Füße pitschnass und die Seidenstrümpfe mit Dreck bespritzt. Obwohl es warm war, fror sie.

Auf der Brücke über den Kanal verharrte sie einen kurzen Moment, wandte den Kopf nach links zum Schloss. Wie eh und je ragte es unschuldig in den Himmel, als wäre nichts geschehen. Nicht darüber nachdenken!, mahnte sie sich. Doch plötzlich musste sie heftig schluchzen. Eine Windböe frischte auf, zerrte am Schirm. Der straff gespannte Stoffbezug klappte um, ein Schwall Wasser klatschte ihr auf den Kopf. Mit der nächsten Böe klappte der Schirm zurück. Sie zog ihn tiefer vors Gesicht und lief weiter.

Allzu weit konnte es nicht mehr sein. Wenn sie es richtig im Kopf hatte, lag die Malsenstraße nur eine Querstraße nördlich vom Kanal. Allmählich gewöhnte sie sich wieder an den Anblick intakter Häuser inmitten gepflegten Grüns und unversehrter Straßen, genoss es sogar, für eine Weile den herumstreunenden Jammergestalten aus der Innenstadt entflohen zu sein, die in der einst so stolzen ›Hauptstadt der Bewegung‹ mittlerweile jeden Stolz vergessen hatten und gegenüber den amerikanischen Besatzern so taten, als wären ausgerechnet sie die Opfer und nie die Täter gewesen.

Die ausgestorbenen Straßen in Nymphenburg konnten jedoch ebenfalls aufs Gemüt drücken. Weder Hund noch Katze oder sonst ein lebendiges Wesen ließ sich blicken, nicht einmal Vogelgezwitscher war zu hören. Unterm Strich war diese völlige Leere ebenso schaurig wie die Horden abgerissener Elendsfiguren, die einem rund um den Hauptbahnhof, am Stachus oder vor allem am Sendlinger Tor auflauerten.

Sams eindringliche Warnung vor Mitgliedern des berüchtigten Werwolf-Kommandos, der offiziell zwar längst aufgelösten, inoffiziell allerdings weiter existierenden Untergrundorganisation der Nazis, fiel ihr ein. Vermutlich waren in Nymphenburg aber eher plündernde Banden das Problem. Im Zweifelsfall war es einerlei, wer davon ihr begegnete – zu verlieren hatten die einen so wenig wie die anderen.

Billa hob den Schirm und betrachtete die Villen entlang der Straße. Vom üppigen Grün der Büsche und Hecken wurden sie nur dürftig verdeckt. Man konnte sich leicht ausrechnen, welche Schätze hinter den zugezogenen Vorhängen und Fensterläden noch verborgen waren, selbst wenn die Bewohner die Stadt vor Wochen schon mit Kisten und Koffern voll Schmuck, Silber und sonstigen Schätzen verlassen hatten.

Mit der freien Hand schlug sie den Kragen ihres Trenchcoats auf, zog fröstelnd die Schultern hoch. Was war das? Huschte da nicht etwas Schwarzes ins Gebüsch? Sie erstarrte. Automatisch glitt ihre Hand wieder in die Seitentasche mit der Waffe. Angestrengt lauschend wartete sie einen Moment, die Augen auf die Stelle gerichtet, hinter der sie das Versteck vermutete. Nichts. Sie atmete auf. Offenbar hatte sie sich getäuscht. Trotz weicher Knie zwang sie sich weiterzugehen, umklammerte die Pistole nur noch etwas fester.

Fast hätte sie sie gezogen. Zwei dunkel gekleidete Männer mit blauen Schiebermützen und bedrohlichem Blick bogen um die Ecke. In ihren Gürteln Gummiknüppel, an ihren rechten Oberarmen schmutzig weiße Armbinden, wie sie erst auf den zweiten Blick entdeckte. Mitglieder privater Wachdienste. Sie atmete auf und lockerte den Griff um die Waffe in ihrer Manteltasche. Die beiden patrouillierten im Auftrag der Militärpolizei, um die personell noch viel zu schwach aufgestellte Münchner Polizei zu unterstützen.

Höflich grüßte Billa sie. Überrascht über ihr akzentfreies Deutsch machte einer der beiden Anstalten stehen zu bleiben. Vermutlich, um ihre Papiere zu kontrollieren. Sein Kumpan winkte ab. Sie nickte ihnen zu und lief weiter. Nur zu gut wusste sie, dass man ihr inzwischen schon von Weitem ansah, dass sie Amerikanerin war. Die sieben Jahre in New York hatten ihre Spuren hinterlassen, nicht nur in Schuhen und Kleidung. Sie wechselte den Schirm in die rechte Hand, wischte sich mit der linken über die nassen Wangen und schob den verrutschten Riemen der schweren Fototasche über der Schulter hoch.

Wie erwartet wohnte oder vielmehr residierte Dietlitz in einem gut erhaltenen bürgerlichen Jahrhundertwende-Vorstadt-Traum. Während Billas Blick über die üppig verzierte Fassade wanderte, kramte sie in ihrem Gedächtnis nach Hinweisen, woher ihr der Name bekannt vorkam. War sie früher schon einmal hier gewesen? Sie konnte sich nicht entsinnen. Vielleicht fiel es ihr ein, wenn sie Dietlitz gegenüberstand. Zu ihrer Beruhigung tastete sie erneut nach der Pistole in der Manteltasche. Das kalte Metall an den Fingern zu spüren, tat gut.

Durch das Gartentor lief sie über den glitschigen Steinplattenweg zur Haustür. Noch einmal meinte sie kurz, aus dem Augenwinkel einen verräterischen Schemen zu erspähen. Jäh fuhr sie herum, maß ihre Umgebung unter größtem Herzklopfen Zentimeter für Zentimeter mit den Augen. Ein dürres Eichhörnchen sprang über den Weg und scheuchte einen Vogel auf, als es einen Baumstamm erreichte und emporkletterte. Erleichtert drehte Billa sich wieder zum Eingang um.

Auf dem goldglänzenden Schild befanden sich drei Klingeln, zwei auffällig dicke für die gediegenen Wohnungen in Erd- und erstem Obergeschoss, eine weitaus kleinere für die einfache Wohnung im Souterrain, in der vermutlich der Hausbesorger untergebracht war. In Zeiten wie diesen wichtiger denn je, auch wenn Billa sofort hässliche Erinnerungen mit dem Blockwart in den Sinn kamen.

Auf ihr Läuten tat sich nichts. In den nassen Schuhen und Strümpfen fror sie inzwischen erbärmlich. Sie stapfte von einem Fuß auf den anderen, um sich aufzuwärmen, rang um Geduld. Als sich immer noch nichts regte, drückte sie abermals den Klingelknopf, schließlich noch einmal und noch einmal. Zuletzt läutete sie Sturm. Wieder nichts. Verärgert sah sie auf die Armbanduhr. Neun Uhr. Sie...

Erscheint lt. Verlag 8.12.2020
Reihe/Serie Ein Fall für Emil Graf
Ein Fall für Emil Graf
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Krimi / Thriller / Horror Krimi / Thriller
Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 1945 • Andreas Götz • Babylon Berlin • historischer Krimi • Historischer Kriminalroman • Krimi • Kriminalroman • Michael Jensen • Mord • München • Stunde Null • Volker Kutscher • Zweiter Weltkrieg
ISBN-10 3-8412-2545-4 / 3841225454
ISBN-13 978-3-8412-2545-0 / 9783841225450
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