Der verlorene Sohn (eBook)

Roman

(Autor)

eBook Download: EPUB
2020
304 Seiten
Aufbau digital (Verlag)
978-3-8412-2552-8 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Der verlorene Sohn - Olga Grjasnowa
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Ein Kind zwischen zwei Kulturen  

Akhulgo, 1838: Jamalludin wächst als Sohn eines mächtigen Imams im Kaukasus auf. Als Zar Nikolaus I. die Region mit Krieg überzieht, verlangt er den Jungen als Unterpfand. So gelangt der kleine Junge nach Sankt Petersburg, an den prächtigen Zarenhof. Jamalludin ist hin- und hergerissen zwischen der Sehnsucht nach seinem Elternhaus und den Möglichkeiten, die sich ihm in Petersburg bieten. 

Olga Grjasnowa erzählt sprachmächtig und eindringlich von einer uns unbekannten Welt, die doch unmittelbar mit unserer zu tun hat: Von einem Kind, das zwischen zwei Kulturen steht und seinen eigenen Weg finden muss. 

»Wie präzise und konsequent Olga Grjasnowa diese Geschichte erzählt ist beeindruckend. >Der verlorene Sohn< - ein großartiger Roman - fesselnd und voller Weisheit.« ttt - titel, thesen, temperamente.

»So sinnlich und anschaulich wie Olga Grjasnowa schreiben auf Deutsch nur wenige.« DER SPIEGEL.



Olga Grjasnowa, geboren 1984 in Baku, Aserbaidschan. Längere Auslandsaufenthalte in Polen, Russland, Israel und der Türkei. Für ihren vielbeachteten Debütroman 'Der Russe ist einer, der Birken liebt' wurde sie mit dem Klaus-Michael Kühne-Preis und dem Anna Seghers-Preis ausgezeichnet. Zuletzt erschien von ihr 'Gott ist nicht schüchtern'. Der Roman wurde zum Bestseller und hat sich 50 000 mal verkauft. Olga Grjasnowa lebt mit ihrer Familie in Berlin.

1


Sommer 1839

An jenem letzten Morgen seines alten Lebens wurde Jamalludin von seiner Mutter geweckt. Sie kam zu ihm ins Zimmer, setzte sich an sein Bettlager, und Jamalludin wusste, dass sich etwas Unwiederbringliches ereignet hatte. Er spürte Patimats Körperwärme, wollte sich an sie kuscheln, seine Sorgen durch ihre Berührungen vertreiben lassen. Ihre Hand fuhr durch sein Haar. Er hörte das vertraute Klirren ihrer Armbänder, spürte ihre Haut, ihre Liebe. Gierig sog er Patimats Geruch ein und blieb dabei unbeweglich liegen, eingewickelt in seine Decke. Er glaubte, so die Zeit anhalten zu können. Das Unausweichliche hinauszögern. Dennoch wollte er das sein, was alle Welt von ihm erwartete: ein Mann. Was das war, war ihm bereits mit neun Jahren nur allzu klar. Aber noch lieber wäre er heute ein kleiner Junge geblieben, hätte seine Mutter niemals losgelassen.

»Du musst stark sein, mein Kleiner. Sei stolz. Sei mein Stolz. Sei ein Sohn deines Vaters«, flüsterte Patimat ihm ins Ohr. »Es ist nicht für lange. Du wirst bald wieder bei mir sein.«

Patimat war die Mutter zweier Söhne, von denen einer heute den Russen als Pfand für die Dauer der Verhandlungen zwischen dem russischen Heer und den Gotteskriegern des Imam Schamil überlassen werden sollte. Schamil war es Jahre zuvor gelungen, zum ersten Mal zahlreiche kaukasische Stämme zu vereinen und sie vom heiligen Kampf, dem Dschihad, gegen Russland zu überzeugen. Bisher galt Schamil als unbesiegbar, ein Held seiner Zeit. Sein Mut und die entgegen aller Wahrscheinlichkeit errungenen Siege waren legendär.

Seine Frau war jung, gebildet und schön, auch wenn das kaum noch jemand sah. Jetzt legte sie die Hand auf den Rücken ihres ältesten Sohnes und wartete auf etwas, das nicht passierte. Jamalludin ließ diesen Augenblick ebenfalls verstreichen und richtete sich schweigend auf. Er hatte verstanden.

Patimat legte seine Kleider neben ihn und strich sie glatt. Sie waren schneeweiß, obwohl alles um sie herum voller Dreck war oder vielleicht gerade deswegen. Es waren die Kleider, die sie einst für den Tag des Sieges über die Russen zurückgelegt hatte. Jamalludin war ihnen fast entwachsen.

Sie half ihm, sich anzuziehen, obwohl sie sich selbst kaum noch bewegen konnte. In wenigen Wochen erwartete sie ihr drittes Kind. Die Schwangerschaft hatte ihre Gesichtszüge weich werden lassen, ihre Bewegungen langsam und schläfrig. Ihre Augen waren genauso olivgrün wie seine: »Du kannst deinen Dolch mitnehmen, aber hüte dich davor, ihn gegenüber deinen Wächtern zu benutzen. Sie sind unsere Feinde, aber du solltest sie nicht provozieren.« Patimat hielt inne, als ob sie selbst vor dem von ihr Gesagten erschrocken wäre, und fuhr dann entschieden fort: »Sie werden dich gut behandeln. Du brauchst keine Angst zu haben. Dir wird nichts geschehen.« Währenddessen veränderte sich etwas in ihrem Gesicht, es wurde verschlossener, strenger.

Ihre Ermahnung war nicht nötig, Jamalludin wusste genau, wer er war – Schamils Sohn, Sohn des Imams, der Liebling seiner Mutter, benannt nach Schamils Lehrer, dem sufistischen Scheich Jamal el-Din, einem Heiligen, obwohl die Sitten verlangten, dass man den ältesten Sohn nach dem Großvater väterlicherseits benannte. Jamalludin wusste fast nichts über seinen Großvater, doch über den heiligen Scheich so gut wie alles. Der Scheich war einer der größten Theologen, die es jemals gegeben hatte, und ein direkter Nachfahre Mohammeds. Genau wie Jamalludin war er etwas Besonderes, und es schien, als wäre diese Tatsache jedem geläufig – seitdem er denken konnte, wurde Jamalludin anders behandelt als der Rest der Jungen. Er war der Nachfolger seines Vaters, und nach dessen Tod würde er, Jamalludin, über den gesamten Nordkaukasus herrschen. Mit Gottes Hilfe wären die Russen bis dahin längst besiegt und falls nicht, wäre es an ihm, diese Aufgabe zu Ende zu führen.

Jamalludin hatte ein sanftes, angenehmes Wesen, das eher dem seiner Mutter als dem seines Vaters glich. Jamalludin hatte ihn von klein auf begleitet, bei Verhandlungen, Besuchen in anderen Aulen und sogar bei Kämpfen. Schamil hatte früh angefangen, seinen Sohn auf seine zukünftigen Aufgaben vorzubereiten. Der Junge konnte bereits reiten, schießen und beherrschte viele Suren des Korans auswendig.

Patimat überprüfte noch einmal Jamalludins Aussehen, und als sie zufrieden war, richtete sie sich auf und verließ das Zimmer. Die Tür fiel laut ins Schloss.

Noch vor einem Jahr hatte Jamalludin geglaubt, er würde im Himmel wohnen – so hoch und unerreichbar lag die Festung Akhulgo. Um sie herum gab es nichts außer den allmächtig wirkenden Bergen, die im Sommer mit Gras überzogen waren, im Frühling von einem Meer aus Blumen und im Winter mit Schnee und Wolken, die nicht fern am Himmel standen, sondern in unmittelbarer Nähe zu schweben schienen. Zu ihren Füßen wand sich ein schneller smaragdgrüner Fluss – der Andijskoje Koisu. Aus dieser Höhe erschien er unerreichbar, eine weitere Versuchung. Das Auge konnte sich an nichts ausruhen, auch nicht an den zweistöckigen Steinhäusern, die auf zwei Hochebenen direkt am Berghang standen und einander in ihrer Gleichförmigkeit zu übertreffen versuchten. Genauso einfach waren die Gewänder der Frauen und der Lebensstil – streng und genauestens überwacht. Keine Musik, kein Alkohol, nur Gebet und die Furcht vor dem Zorn Gottes wurden geduldet.

Um ihren Aul zu erreichen, musste man eine Woche lang ununterbrochen bergauf reiten. Den Aufstieg bewältigten nur die geschicktesten Reiter und die besten Pferde. Diese Tatsache und das vorrückende russische Heer trugen dazu bei, dass Gäste hier äußerst selten waren und wenn, kamen sie meistens als Gefangene.

Für Kinder war dies jedoch ein wunderbares Reich, sie wurden bis zu einem gewissen Alter nicht sonderlich streng beaufsichtigt und konnten im Gegensatz zu den Erwachsenen die meiste Zeit über tun und lassen, was ihnen einfiel. Ihre Tage waren voller Lachen und Abenteuer, die jeden Morgen aufs Neue erfunden wurden. Jamalludin war ihr Anführer, während Mohammed Gazi, sein kleiner Bruder, ihm überallhin folgte.

Während die Kinder auf den Felsen spielten, hatte Schamil Akhulgo zu einer Festung ausgebaut. Polnische Kriegsgefangene, die voller Hass auf die Russen waren, hatten ihm dabei geholfen, und die Kinder hatten ihnen scheu zugeschaut. Akhulgo wurde seit Monaten von der russischen Armee belagert. Schamils Kämpfer konnten nur wenig dagegen ausrichten. Die Russen hatten auf Zeit gespielt, und diese war nicht auf der Seite des Imams gewesen.

Ihre Situation war inzwischen mehr als schlecht. Die Vorräte waren aufgebraucht, die Menschen aßen Gras, und sogar das Trinkwasser neigte sich dem Ende zu. Die meisten Männer waren gestorben, genauso wie ihre Kinder und Frauen. Die Leichen konnten nicht mehr begraben werden, und so stand der Geruch der Verwesung in jedem Haus und jeder Straße. Er hatte sich in jede Ritze und jede Pore eingeschlichen. Schwärme von Fliegen schwirrten um die Leichen und die Lebenden.

Die Kinder, die noch am Leben waren, spielten schon lange nicht mehr miteinander. Sie verbrachten ihre Zeit völlig apathisch in irgendwelchen kühlen Ecken, von ihren Müttern möglichst fern vom Kanonenfeuer versteckt. Die Frauen eilten mit versteinerten Blicken durch die Gassen, vor Trauer dem Wahnsinn nahe. Es stank bestialisch, nach ungewaschenen Körpern, Wunden, Leichen, Körperausdünstungen und einer existentiellen Verzweiflung. Alle waren erschöpft, vom Kampf, dem Hunger, dem Durst, der Trauer um die Märtyrer. Man hörte laute Klagen und die Schmerzensschreie der Verletzten. Sogar die Frauen kämpften nun. Sie hatten die Kleidung ihrer getöteten Männer angezogen und standen ihnen im Kampf in nichts nach. Patimat sagte, dass sie sich nach dem Tod sehnten und deshalb mutiger als die Männer waren. Auch Schamil hatte immer wieder auf dem Vorhof der Moschee gesessen, ungeschützt vor den russischen Kanonen, mit Jamalludin auf dem Schoß, und wartete auf die Erlösung. Doch sie kam nicht. Also machte er weiter.

Als selbst die Muriden, seine Schüler, anfingen, Gott um einen schnellen Tod zu bitten, nahm Schamil die Verhandlungen mit den Russen auf. Der Krieg zehrte auch an seinen Feinden, viele Soldaten waren gefallen, der Nachschub kam nur langsam an, und die Moral war alles andere als hoch. Und der Zar wünschte sich einen schnellen Sieg. Allerdings stellten die Russen für den Waffenstillstand eine Bedingung, die Schamil unmöglich erfüllen konnte – sie wollten Jamalludin für die Dauer der Verhandlungen als Geisel nehmen, sozusagen als ein Zeichen guten Willens.

Schamil weigerte sich, seinen ältesten Sohn auszuliefern. Er liebte dieses Kind, und er liebte es vielleicht noch mehr, als er den Propheten liebte. Nur war das etwas, was er nicht zugeben konnte, schon gar nicht vor seinen Anhängern. So klar erinnerte er sich an die sternlose, kühle Nacht, in der dieser Junge geboren worden war. Es war eine lange und schwere Geburt gewesen. Sie hatten ihn erst in das Zimmer gerufen, als das Kind auf der Welt war und alle Spuren der Geburt beseitigt waren. Das Baby lag in Schamils Armen, während Patimat erschöpft eingeschlafen war. Jamalludin hatte Schamil lange angesehen, und obwohl seine Augen noch keinen Gegenstand fokussieren konnten, hatte Schamil sich noch nie jemandem so nahe gefühlt wie diesem Kind, auf das sie so lange gewartet hatten. Patimat war lange nicht schwanger geworden. Als Gott ihnen endlich ein Kind geschickt hatte, erlitt Patimat eine Fehlgeburt. Die Blicke der anderen Frauen waren lauernd gewesen, manche schon fast...

Erscheint lt. Verlag 7.9.2020
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Historische Romane
Literatur Krimi / Thriller / Horror
Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Charlotte von Preußen • Kaukasischer Krieg • Kaukasus • Olga Grjasnowa • Petersburg • Russland Roman • schamil • Seidenstraße • St. Petersburg • Zaren • Zarenreich • Zarin Alexandra Fjororowna • Zar Nikolaus I.
ISBN-10 3-8412-2552-7 / 3841225527
ISBN-13 978-3-8412-2552-8 / 9783841225528
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