Die Uhrmacherin – Im Sturm der Zeit (eBook)
480 Seiten
Penguin Verlag
978-3-641-25433-9 (ISBN)
Schweiz, 1873: Neu anfangen - das ist es, was sich die junge, aus gutem Hause stammende Sarah sehnlichst wünscht. Entschlossen nimmt sie kurzerhand eine Stelle als Hauslehrerin an, doch kaum ist sie im aufstrebenden Uhrendorf Grenchen angekommen, überschlagen sich die Ereignisse. Als ein Dienstmädchen zu Tode kommt, weckt der mysteriöse Unfall Sarahs Neugier. Dabei kommt sie Paul, dem ältesten Sohn ihres Dienstherrn, näher und lernt durch ihn die Kunst der Uhrmacherei kennen. Fasziniert von dem filigranen Handwerk, verspürt sie den brennenden Wunsch, Uhrmacherin zu werden. Doch mit ihrem Traum stellt sie sich gegen die Konventionen ihrer Zeit ...
Claudia Dahinden lebt gemeinsam mit ihrem Mann in der Kleinstadt Grenchen in der Nordwestschweiz, in der sie auch aufgewachsen ist. Sie studierte Zeitgeschichte und arbeitet heute als freischaffende Autorin, Sängerin und Songwriterin. Wenn sie nicht gerade schreibt, singt oder liest, engagiert sie sich in der städtischen Literarischen Gesellschaft und in ihrer Kirche. Ihre Romane »Die Uhrmacherin - Im Sturm der Zeit« und »Die Uhrmacherin - Schicksalsstunden« standen wochenlang an der Spitze der Schweizer Bestsellerliste.
1
Die junge Frau war Hanna wie aus dem Gesicht geschnitten, und einen Moment lang kam es Sarah vor, als stünde sie neben ihrer kleinen Schwester am Bahnhof. Nur nach Branntwein roch Hanna natürlich nie. Und was den Bahnhof anging: Das hier war eher eine größere Hundehütte. Ein Meer aus Schlamm, das den Namen Straße nicht verdiente, führte nordwärts an ihr vorbei – kärglich beleuchtet von ein paar Petroleumlampen – und verschwand nach fünfzig Metern in der Finsternis. Es regnete in Strömen.
Das konnte unmöglich Grenchen sein. Wo war der »aufstrebende Ort«, den Herr Schneider gepriesen hatte?
Keine Kutsche weit und breit. Ihr Zug hätte am frühen Abend ankommen sollen, aber die Lokomotive war ausgefallen und die zusammengewürfelte Gästeschar auf Droschken verteilt worden. So viel zur überteuerten Fahrkarte erster Klasse, die ihre Mutter ihr aufgedrängt hatte.
Das Mädchen, das eben seinen dünnen Mantel zuknöpfte, hatte schon im Zug neben ihr gesessen und so verloren ausgesehen, dass Sarah ein Gespräch mit ihm angefangen hatte. Nach einem Blick auf die geballte Entrüstung der übrigen Passagiere hatte sie sich in ein Buch vertieft, aber es hatte ihr einen Stich versetzt.
Jetzt stapfte die Kleine los, dünn und barhäuptig, und zerrte ihren riesigen Koffer durch den Schlamm. Sarah griff nach ihrem Schirm. »Nehmen Sie den! Ich werde abgeholt.« Hoffentlich.
Die junge Frau drehte sich um. »Ich auch.« Ihre Stimme war ungewöhnlich rau.
»Nehmen Sie ihn trotzdem.«
Sie nahm den Schirm, und ein Lächeln blitzte über das schmale Gesicht. Sarah lächelte zurück, zog ihren Schnürschuh aus der schlammigen Brühe und warf einen letzten Blick auf ihren in der Ödnis entschwindenden Schirm. Wenn das ihr Vater sehen könnte!
Der letzte Montag fiel ihr ein: Vater hinter seinem Mahagonischreibtisch im Studierzimmer, in einem Buch blätternd, das er in der Luzerner Kantonalbibliothek ausgegraben hatte. »Hör’ dir das an: ›Dem Städter von Solothurn galten die Grenchner als ungefüge Dorfmenschen mit wilden Gewohnheiten, welche im Regen noch den leeren Sack um die Achseln schlugen statt eines Mantels und Regenschirme für eine verächtliche Neuerung hielten …‹« Seine dunklen Gelehrtenaugen blitzten hinter dem Kneifer. »Warum gehst du nicht nach Solothurn? Ich kann dir über von Surys oder von Hallers eine Hauslehrerinnenstelle besorgen, bei Menschen von unserem Schlag. Dieser Schneider ist ein unbeschriebenes Blatt!«
Stramm aufgereihte Bücher verströmten den trockenen Geruch vergangener Jahrhunderte, darunter ein paar Erbstücke ihres Großvaters. Die meisten aber hatte ihr Vater, aller Geldknappheit und dem Missmut ihrer Mutter zum Trotz, nach und nach gekauft und sich über die Jahre eine kleine Bibliothek aufgebaut. Immerhin hatte ihm seine Leidenschaft für das geschriebene Wort die Stelle im Kantonsarchiv verschafft, die ihm die Instandhaltung des verbliebenen Familienguts erlaubte.
Die Liebe zu den Büchern hatte er ihr vererbt, aber was in diesem Schinken stand, aus dem er am Montag vorgelesen hatte, interessierte sie nicht. Das Zitat war über vierzig Jahre alt; Grenchen konnte heute, im Jahr 1873, ganz anders aussehen. Und Schneiders? Wenn es nach ihr ginge, hätten sie von den Hottentotten abstammen können. Sie wollte nur weg – weg von den Erinnerungen an Hannes, weg von den verbissenen Bemühungen ihrer Mutter, sie an den Meistbietenden zu verschachern. Sie wäre sonst wohin gegangen.
Hatte sie zumindest gedacht …
Für Ende April war es in Grenchen ungewöhnlich neblig und kalt. Fröstelnd suchte Sarah die Umgebung nach Zeichen menschlichen Lebens ab. Inzwischen hätte sie auch einen Grenchner mit Sack um die Achseln begeistert begrüßt, aber es war niemand zu sehen. Südlich der Geleise stand nicht einmal eine Lampe; die Dunkelheit fraß alles, was auf dieser Seite des Bahnhofs lag. Falls die Erde allen wissenschaftlichen Erkenntnissen zum Trotz doch eine Scheibe sein sollte, war dies zweifellos ihr Ende.
Ein kaltes und schlammiges Ende und nicht gerade der Neuanfang, den sie sich ersehnt hatte. Aber was machte das schon? Neu war es allemal, und alles, was neu war, war gut. Sie schloss die Hand um den Koffergriff und stapfte los. Auch dieses Meer aus Schlamm musste ein Ufer haben.
Auf der anderen Straßenseite thronte eine Villa, am Giebel eine Schlange, die sich um einen Stock wand. Soweit sie sich an einen von Vaters Vorträgen erinnerte, war es eine Äskulapschlange; wahrscheinlich wohnte hier ein Arzt. Er konnte ihr vielleicht weiterhelfen.
Auf ihr Klingeln hin öffnete ein Dienstmädchen, und aus dem Korridor eilte ihr eine gut gekleidete Dame mittleren Alters entgegen.
»Sie müssen die neue Hauslehrerin von Schneiders sein! Sie haben uns gebeten, nach Ihnen Ausschau zu halten. Ich bin Frau Girard. Unser Kutscher Josef wird Sie zu den Schneiders fahren. Sie sind sicher froh, wenn Sie in trockene Sachen kommen.«
»Froh« war gar kein Ausdruck. »Das ist sehr freundlich von Ihnen, danke.«
Sarahs schlammversehrter Koffer stand auf gepflegtem Eichenparkett, das im Licht der Deckenleuchte in Schattierungen von Blassgelb über Karamell bis Schokolade schimmerte. In der Mitte prangte ein vielzackiger Stern mit winzigen Verzierungen, millimetergenau verlegt. Ölgemälde in mattgoldenen Rahmen zierten die Wände. Schneiders pflegten offenbar Kontakte zu den besseren Kreisen, das würde ihre Mutter beruhigen.
Ein säbelbeiniger Mann griff nach ihrem Koffer und wankte hinaus. Nach einer hastigen Verabschiedung von Frau Girard folgte Sarah dem knorrigen Kutscher, der eben die Tür zur Chaise öffnete.
»Wollen Sie hinten einsteigen? Das Wetter ist ja nicht besonders.«
»Ich würde gern bei Ihnen mitfahren. Nass bin ich ohnehin schon.« Die Aussicht vom Kutschbock würde hoffentlich trotz der Lichtverhältnisse offenbaren, ob Grenchen auf den zweiten Blick besser abschnitt.
Josef half ihr hoch, griff nach den Zügeln und schnalzte. Die Pferdeköpfe nickten auf und ab, während die Kutsche an den paar Petroleumlampen am Straßenrand vorbei Richtung Norden wankte. Rechts lag ein lang gezogener Bau, durch dessen Fenster die Töne eines Walzers drangen.
»Bad Hallgarten, ein Wirtshaus und Tanzsaal«, sagte Josef. »Grenchen hat einiges zu bieten!«
Das Gewinsel der Klarinette erinnerte an ein verendendes Nagetier, aber Sarah nickte. Kurz darauf erreichten sie eine Kreuzung mit Wohnhäusern und überquerten eine geschotterte Straße. Das sah schon besser aus.
»Wie viele Einwohner hat Grenchen denn? Nach dem, was Herr Schneider geschrieben hat, habe ich es mir größer vorgestellt.«
Stille. Ob sie überheblich geklungen hatte? Aber Josef schien ihr die Frage nicht übel zu nehmen. »Herr Schneider ist stolzer auf das Dorf als jeder Einheimische.« Er wies auf die Gebäude in der Nähe. »Das ist der Ortskern; bis vor zwanzig Jahren gab es sonst nicht viel. Damals lebten hier anderthalbtausend Menschen, aber bei der Volkszählung vor drei Jahren waren es tausend mehr.« Stolz schwang in seiner Stimme mit. »Das haben wir nur den Uhren zu verdanken!«
Sie passierten ein stattliches Wohnhaus, die Petroleumlampen neben dem Eisentor beleuchteten eine Buchsbaumhecke.
»Hier wohnt Urs Schild«, sagte Josef, »Patron der größten Uhrenfabrik im Ort. Sein Vater hat die Uhrenindustrie zusammen mit unserem lieben Doktor Girard – Gott hab ihn selig! – hier angesiedelt.« Das Gebäude glich ihrem Elternhaus in der Luzerner Altstadt.
»Sehr schön.«
Sein Brustkorb blähte sich. »Herr Schild ist ein umsichtiger Patron. Herr Schneider arbeitet für ihn.«
Während die Kutsche die Straße hochkroch, versuchte Sarah sich zu erinnern, was sie über Grenchen gelesen hatte. Das Dorf lag am Südfuß der Juraberge in der Mitte der Nord-Süd-Achse zwischen Basel und Bern. Zehn Kilometer westlich lag Biel, eine Uhrenstadt, die mit über zehntausend Einwohnern fast an Luzern heranreichte. In gleichem Abstand in östlicher Richtung lag die Patrizierstadt Solothurn mit siebentausend Einwohnern, einst prunkvoller Sitz der französischen Botschafter. Sie hatte sich Grenchen wie Biel vorgestellt, aber selbst das kümmerliche Licht konnte nicht verhehlen, wie spärlich der Dorfkern bebaut war. Sie passierten ein paar Fabrikhallen, die ein leichter Ölgeruch umgab, es folgten ein paar strohgedeckte Häuser. Die Uhrenindustrie mochte blühen, aber an einem winzigen Spross. Da war sie anderes gewohnt.
Allerdings: Mit Luzern konnte sich ohnehin kein Ort messen, mit seiner Kapellbrücke, der Hofkirche, dem Vierwaldstättersee und dem Pilatus, der wie ein Wächter neben der Stadt thronte. Seit der Niederlage im Bürgerkrieg vor sechsundzwanzig Jahren hatte die »Leuchtenstadt« an Bedeutung verloren; heute waren Bern und Zürich die Zentren des Landes. Aber für Sarah würde Luzern immer die schönste aller Städte sein.
Zehn Minuten später hielten sie vor einem schmiedeeisernen Tor, hinter dem Sarah eine Villa mit ausladendem Erker erahnen konnte. Josef sprang vom Bock, half ihr hinunter und stellte ihren Koffer ab. Die Eingangstür...
Erscheint lt. Verlag | 1.12.2021 |
---|---|
Reihe/Serie | Die Uhrensaga | Die Uhrensaga |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | eBooks • Geheimnis • Grenchen • Historische Romane • historische romane neuerscheinungen 2021 • Historischer Roman • Katherine Webb • kleine geschenke für frauen • Neuheiten 2021 • Petra Durst-Benning • Saga • Schicksal • Schweiz • Spannung • Starke Frau • Susanne Goga • Uhrenhandwerk • Weihnachten Buch • Weihnachtsgeschenke |
ISBN-10 | 3-641-25433-7 / 3641254337 |
ISBN-13 | 978-3-641-25433-9 / 9783641254339 |
Informationen gemäß Produktsicherheitsverordnung (GPSR) | |
Haben Sie eine Frage zum Produkt? |
Größe: 3,3 MB
DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasserzeichen und ist damit für Sie personalisiert. Bei einer missbräuchlichen Weitergabe des eBooks an Dritte ist eine Rückverfolgung an die Quelle möglich.
Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belletristik und Sachbüchern. Der Fließtext wird dynamisch an die Display- und Schriftgröße angepasst. Auch für mobile Lesegeräte ist EPUB daher gut geeignet.
Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise
Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.
aus dem Bereich