Zeugin der Toten (eBook)

Thriller
eBook Download: EPUB
2020
480 Seiten
Goldmann Verlag
978-3-641-26379-9 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Zeugin der Toten - Elisabeth Herrmann
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Judith Kepler ist ein Cleaner. Sie kommt, wenn die Spurensicherung geht. Sie macht aus Tatorten wieder bewohnbare Räume. Doch dann begegnet sie in der Wohnung einer grausam ermordeten Frau ihrer eigenen Kindheit. Es ist Judiths verschollene Heimakte. Als kleines Mädchen wurde Judith unter nie geklärten Umständen in ein DDR-Waisenhaus gebracht. Judith dunkelstes Geheimnis - in den Händen einer Fremden? Als Judith herausfindet, dass sie nicht nur die Akte mit der Toten verbindet, beginnt eine grausame Jagd auf sie. Denn sie stellt Fragen nach ihrer Vergangenheit, die ihr nur der Mörder beantworten kann. Und beide wissen: es gibt kein Vergessen ...

Elisabeth Herrmann wurde 1959 in Marburg/Lahn geboren. Nach ihrem Studium als Fernsehjournalistin arbeitete sie beim RBB, bevor sie mit ihrem Roman »Das Kindermädchen« ihren Durchbruch erlebte. Fast alle ihre Bücher wurden oder werden derzeit verfilmt: Die Reihe um den Berliner Anwalt Joachim Vernau sehr erfolgreich vom ZDF mit Jan Josef Liefers. Elisabeth Herrmann erhielt den Radio-Bremen-Krimipreis, den Deutschen Krimipreis und den Glauser für den besten Jugendkrimi 2022. Sie lebt mit ihrer Tochter in Berlin und im Spreewald.

1


Es war kein guter Ort zum Sterben.

Judith Kepler zog die Handbremse an und stellte den Motor ab. Sie betrachtete das graue Mietshaus durch die Frontscheibe des Transporters und spürte, wie sich ihr Magen zusammenzog. Ihre Handflächen, die das Lenkrad umklammerten, wurden feucht. Und ausgerechnet an diesem Morgen hatte sie einen absoluten Anfänger dabei.

Entlang der dichtbefahrenen Straße reihten sich Discountkleiderketten, Puffs und dubiose Gebrauchtwagenhändler aneinander. Eine Ecke für alles, was billig zu haben war: Frauen, Autos, auch Wohnungen. Einige Fenster des Hauses waren blind. Vor anderen hingen anstelle der Gardinen ausgeblichene Decken und Handtücher.

Ihr Beifahrer schaute begehrlich auf einen heruntergerittenen Ford Fiesta, der für die monatliche Rate von neunundneunzig Euro gleich mitgenommen werden konnte. Vorausgesetzt, man hatte einen festen Arbeitsplatz. Kai hatte weder das eine noch das andere. Keine neunundneunzig Euro und auch keinen Job. Er war ein breitschultriger, großgewachsener Junge mit einer dieser neumodischen, ins Gesicht gekämmten Pilzkopffrisuren. Sie verlieh seinen kräftigen Zügen etwas ungewollt Poetisches, von dem er selbst wahrscheinlich keine Ahnung hatte.

Sie klappte die Sonnenblende herunter und sah in den Spiegel. Was hielten Einundzwanzigjährige von Frauen über dreißig? Jenseits von Gut und Böse wahrscheinlich. Sie strich sich eine Haarsträhne zurück und merkte im gleichen Moment, wie eitel das in seinen Augen wirken musste. Dabei machte sie das jedes Mal, bevor sie an einen Einsatzort kam. Hände gewaschen, Haare gekämmt. Der erste Eindruck war entscheidend. Das galt für Wohnungen, für Jobs, für Männer und für alles andere, das korrekt erledigt werden sollte.

Judith verkniff sich die Frage, wann sie das letzte Mal einen Mann korrekt erledigt hatte. Ein seltsamer, absurder Gedanke. Sie sollte in Zukunft weniger Selbstgespräche führen.

Kai riss sich los von dem Auto, hob die dichten Augenbrauen bis unter den Ansatz seines Ponys und fragte mürrisch: »Geht es jetzt da rauf oder was?«

Du bist korrekt erledigt nach der ersten Schicht, dachte sie und versuchte, ihrem Lächeln das Hinterhältige zu nehmen.

Sie stieg aus. Hinter ihrem Rücken hörte sie, dass er den Wagen ebenfalls verließ. Er folgte ihr wie ein Welpe. Wahrscheinlich würde er auf dem Absatz kehrtmachen, sobald er mitbekam, auf was er sich eingelassen hatte, also konnte sie ihn auch gleich mit vorauseilender Rücksichtslosigkeit behandeln.

Am Hauseingang stieg ihr der stechende Geruch von Urin in die Nase – ein untrügliches Zeichen, dass die Schattengewächse der Metropole diese Ecke erobert und ihr Revier markiert hatten. Die Tür war eine Fünfziger-Jahre-Scheußlichkeit mit Aluminiumrahmen und mehrfach gebrochenem Sicherheitsglas. Sie wurde von innen geöffnet. Ein Mitarbeiter des Bestattungsinstituts trat heraus und arretierte den Flügel. Er nickte Judith kurz zu.

»Mensch, Mädchen.« Er griff in die Jackentasche und hielt Judith eine kleine Metalldose hin. Die Geste war die wortlose Zusammenfassung dessen, was sie oben erwartete.

»Danke.«

Judith rieb sich die Mentholpaste unter die Nase. Dann reichte sie die Dose an Kai weiter, der ratlos daran schnupperte und sie ihr zurückgab. Er hatte keinen Schulabschluss, und die Arbeitsagentur hatte ihm dieses Praktikum als letzte Chance verkauft. Statt um sieben war er um halb neun zur Arbeit erschienen und hatte eine vage Entschuldigung gemurmelt, in der ein kaputter Wecker und einige Lebensjahre vorkamen, in denen Wecker überhaupt keine Rolle gespielt hatten. Dass er trotzdem mit von der Partie war, lag daran, dass der Arzt noch einen Notfall gehabt hatte und sie auf die Leichenschau und die Freigabe hatten warten müssen. Und daran, dass Judith vielleicht die Einzige bei Dombrowski Facility Management war, die die Sache mit dem Wecker verstand. Sie hatte vier. Verteilt an strategisch wichtigen, weil schwer zu erreichenden Punkten in ihrer Wohnung und so programmiert, dass sie im Abstand von jeweils einer Minute klingelten. Der letzte stand im Bad.

»Nimm es.«

Aber Kai begriff entweder nicht, oder er hielt Mentholpaste für Kinderkram. Seine Entscheidung. Judith gab dem Bestattungshelfer die Dose zurück. Er schenkte ihr ein knappes Nicken und zündete sich eine Zigarette an, während er mit einem Blick den Himmel dieses Sommertages prüfte, der sich gerade von seinem dunstigen Morgen löste.

»Sechs Wochen unterm Dach, und das bei dem Wetter. Wir sind froh, dass wir sie in einem Stück in die Kiste bekommen haben.«

Sie kannten sich. Nicht gut genug, um zu wissen, wie der andere hieß. Aber so, wie man alle irgendwann kennenlernte, die in diesem merkwürdigen Gewerbe arbeiteten: der Verwaltung des Todes. Jeder war an seinem Platz. Der Arzt, der den Totenschein ausstellte. Die Bestatter, die die Leiche abholten und herrichteten. Die Cleaner, die ein Haus wieder bewohnbar machten. Man redete in einer zweckorientierten Sprache miteinander, die auf alle falschen Zwischentöne des Jammers verzichtete und sich aufs Wesentliche konzentrierte: den Job.

Kai wurde noch blasser, als er es schon war. Darauf hatte ihn die nette Sachbearbeiterin auf dem Amt wohl nicht vorbereitet. Gebäudereinigung. Putzen. Kann doch jeder. Geh mal hin und schau es dir an. Und dann das, gleich am ersten Tag. Polternde Schritte näherten sich. Der Arzt, erkennbar an der beflissenen Eile und einer ausgebeulten Ledertasche, kam die Treppe herunter. Ihm folgten zwei Bereitschaftspolizisten.

»Wir sind fertig da oben.« Wie so viele seiner Zunft redete er von sich in der Mehrzahl. »Natürliche Todesursache, sanft entschlafen. Mein Gott!«

Zwei LKW donnerten vorbei. Der Arzt trat auf den breiten Bürgersteig und zog die Melange aus Ammoniak und Diesel tief in seine Lunge. Dann schüttelte er den Kopf und eilte zu seinem Wagen. Die beiden Beamten folgten ihm. Der Bestatter rauchte.

»Dann mal los.« Judith machte eine Kopfbewegung, mit der man Hunde bei Regen ins Haus trieb. Kai trottete hinterher.

Sie stiegen die Treppen hoch. Kinderwagen standen im Flur, Schuhe, Gerümpel. Mit jedem Stockwerk entfernten sie sich mehr vom Straßenlärm und kamen dem Vergessen näher. Ganz oben waren es nur noch zwei Türen. Eine stand offen. Trotz Menthol roch Judith die schwere, süßliche Ahnung des Todes. Sechs Wochen, hatte der Mann gesagt. Und das Einzige, was den Nachbarn irgendwann aufgefallen war, war der Gestank.

Kai keuchte.

»Was riecht hier so?«, fragte er und ahnte die Antwort bereits.

Judith hatte nicht vor, ihn zu schonen. Wer mit ihr unterwegs war, musste sich darauf gefasst machen, mehr über seine eigenen Grenzen zu erfahren, als ihm lieb war. Das Gesundheitsamt hatte Dombrowski angerufen. Und Dombrowski schickte Judith. Und Judith nahm eben keine Rücksicht auf Anfänger.

»Hier lang.«

Ein enger Flur mit abgetretenem Läufer, alter Tapete, trotz Hochsommer Wintermäntel an der Garderobe. Vier offene Türen. Links das Wohnzimmer. Der erste Eindruck: Enge und Armut. Sie hatten das Leben von Gerlinde Wachsmuth bestimmt.

Und die Einsamkeit, dachte Judith, als sie das Schlafzimmer betrat. Über dem schmalen Bett hing ein schlichtes Holzkreuz. Der zweite Bestattungshelfer verschloss gerade den Zinksarg und tat das mit ganz besonderer Sorgfalt. Auch das Treppenhaus war eng, sie würden die Leiche an manchen Stellen hochkant transportieren müssen. Sein Kollege kam vom Rauchen zurück. Beide stellten sich neben den Sarg, falteten die Hände und murmelten ein leises Gebet.

Judith fragte sich, ob sie das auch taten, wenn keine Zeugen in der Nähe waren. Sie wollte Kai gerade ein Zeichen geben, dass auch er sich der Situation gemäß pietätvoll zu verhalten hatte, als sie seinen Gesichtsausdruck bemerkte. Er starrte an ihr vorbei auf das Bett. Seine Unterlippe begann zu zittern. Er schluckte krampfhaft, der Adamsapfel hüpfte seinen kräftigen Hals entlang wie ein Gummiball. Er schlug die Hand vor den Mund, drehte sich um und taumelte aus dem Zimmer.

»Sein erstes Mal?«

Die beiden hatten ihr Gebet beendet. Judith nickte. Sie sah auf ihre Armbanduhr und hoffte, Kai würde sich mit dem Kotzen beeilen. Sie hatten schon zu viel Zeit verloren. Aber die Geräusche, die aus dem Badezimmer drangen, hörten sich mehr nach einem ausgiebigen Hustenanfall an, waren also eher Vermeidungstaktik als echte Not. Am liebsten hätte sie den Jungen sofort nach Hause geschickt. Vor der Toilettentür trennte sich die Spreu vom Weizen.

»Ich fang schon mal an«, rief sie. »Geht alles von deiner Pause ab.«

Ein Argument, das bei Leuten wie Kai oft Erstaunliches bewirkte. Vielleicht hätte ihm jemand raten sollen, vor diesem Einsatz nichts zu essen.

Als Erstes prüfte sie das Bett und den Zustand der Matratze. Es stand mit dem Kopfende mittig an der Wand. Kissen und Decke lagen links auf dem Boden, rechts stand der Sarg. Von Gerlinde Wachsmuth war nur der Abdruck ihres Körpers auf dem Laken geblieben. Sie musste eine kleine Person gewesen sein, die sich zum Schlafen hingelegt hatte und nicht wieder aufgestanden war. Ein ruhiger Tod. Ein sanfter, erwarteter Abschied. Ein stiller Gang. Judith spürte den Frieden und die Abwesenheit von Angst. Manchmal war der Tod der einzige Freund, von dem man nicht vergessen wurde.

Und dann hatte Gerlinde Wachsmuths Leiche sechs Wochen Zeit gehabt, sich im Hochsommer im fünften Stock einer schlecht isolierten Wohnung aufzulösen. Die Silhouette ihres Körpers war aus einem zarten Gelb, dort, wo Arme, Beine und Kopf gelegen hatten. Doch zur...

Erscheint lt. Verlag 16.11.2020
Reihe/Serie Judith-Kepler-Roman
Judith-Kepler-Roman
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Krimi / Thriller / Horror Krimi / Thriller
Schlagworte Agententhriller • Aktion Rosenholz • Berlin • Deutscher Krimipreis • eBooks • Neuerscheinungen Bücher 2020 • Psychothriller bücher • Radio Bremen Krimipreis • Rügen • Sassnitz • Schweden • Tatortreinigerin • Thriller • Thriller Neuerscheinungen 2020 Taschenbuch
ISBN-10 3-641-26379-4 / 3641263794
ISBN-13 978-3-641-26379-9 / 9783641263799
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