Die Erzählungen des Folio Club (eBook)

(Autor)

Rainer Bunz (Herausgeber)

eBook Download: EPUB
2021 | 1. Auflage
320 Seiten
Manesse (Verlag)
978-3-641-26725-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die Erzählungen des Folio Club -  Edgar Allan Poe
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Erstmals auf Deutsch: ein unvollendetes Frühwerk des großen US-Klassikers!
Der große Edgar Allan Poe als literarischer Stimmenimitator und Erzschelm: In seinem hier erstmals auf Deutsch erscheinenden Geschichtenreigen «Tales of the Folio Club» brilliert der US-Klassiker mit extravaganten Teufelsburlesken, schrägen Gothic Novels, spleenigen Piratenabenteuern und launigen Gruselmärchen.

Parodistisch nimmt der hochbegabte Jungautor sämtliche Schreibmoden seiner Zeit auf die Schippe und zettelt ein doppelbödiges, zwischen Hommage und Satire angesiedeltes Spiel an. Die bekanntesten «Opfer» seines jugendlich-genialen Übermuts sind die Größen der angloamerikanischen Literatur im frühen 19. Jahrhundert: Thomas Moore, ein Freund Lord Byrons, Washington Irving oder Samuel Taylor Coleridge. Und auch einen selbstironischen Cameo-Auftritt gönnt sich Mr. Poe. Dank Herausgeber Rainer Bunz, der die «Tales of the Folio Club» kundig rekonstruiert und kommentiert hat, lässt sich das Debüt des amerikanischen Kultautors in seinem Anspielungsreichtum erstmals auf Deutsch entdecken.

Edgar Allan Poe (1809-1849) ist die schillerndste amerikanische Dichterpersönlichkeit des 19. Jahrhunderts. Er wurde als Sohn zweier Schauspieler in Boston geboren, wurde jedoch schon im Alter von zwei Jahren zur Waise und wuchs im Haus des Kaufmanns John Allen auf. 1815-1820 ging er in London zur Schule, kehrte im Alter von elf Jahren in die USA zurück. Er studierte in Charlottesville, Virginia, war vier Jahre bei der Armee und arbeitete dann als Journalist und Herausgeber verschiedener Zeitschriften in Richmond, New York und Philadelphia. Von 1836 bis zu ihrem frühen Tod 1847 war er mit seiner Cousine Virginia Clemm verheiratet. Nach einem bewegten, größtenteils in Armut verbrachten und vom Alkoholismus überschatteten Leben starb Edgar Allan Poe vierzigjährig in Baltimore.

II. Wie man Geld auftreibt oder: Schwindeln als eine der exakten Wissenschaften betrachtet1


He, schwindel, schwindel,
Die Katz’ und das Kindel.

Aus einem Epos von «Flaccus»2

Seit Anbeginn kennt die Welt zwei Jeremiasse. Der eine schrieb eine Jeremiade über den Wucher und hieß Jeremy Bentham.3 Er wurde von Mr. John Neal4 sehr bewundert und war ein großer Mann im Kleinen. Der andere, welcher der wichtigsten der exakten Wissenschaften den Namen gab, wurde Jeremy Diddler tituliert. Er war ein großer Mann im Großen – ja, ich darf in der Tat sagen, im Allergrößten.

Das Schwindeln beziehungsweise die durch das Verb «schwindeln» vermittelte abstrakte Idee ist hinreichend bekannt. Doch der Tatbestand, die Handlung, das Schwindeln an sich, ist etwas schwieriger zu definieren. Wir können uns aber eine ziemlich deutliche Vorstellung von der in Rede stehenden Angelegenheit machen, wenn wir nicht die Sache, also das Schwindeln an sich, sondern den Menschen definieren: als ein Tier, das schwindelt. Wäre Platon nur auf diesen Einfall gekommen, so wäre ihm die Blamage mit dem gerupften Huhn erspart geblieben.

Man wollte nämlich von Platon wissen, warum es sich bei einem gerupften Huhn, eindeutig «ein Zweibeiner ohne Federn», denn nicht um einen Menschen gemäß seiner Definition handle.5 Mit solchen Fragen soll man mir aber nicht kommen. Der Mensch ist ein Tier, das schwindelt, und außer dem Menschen gibt es kein Tier, das schwindelt. Um mir das auszureden, braucht es einen ganzen Stall voll gerupfter Hühner.

Bezeichnend für das Wesen, die Sache, das Prinzip des Schwindelns ist, dass es in der Tat der Klasse jener Geschöpfe eigentümlich ist, die Mantel und Hose tragen. Eine Krähe stiehlt, ein Fuchs betrügt, ein Wiesel überlistet, ein Mensch schwindelt. Schwindeln ist seine Bestimmung. «Der Mensch ist zum Trauern geboren», sagt der Dichter.6 Aber nicht doch – er ist zum Schwindeln geboren. Das ist sein Streben, sein Ziel, sein Ende. Und deswegen sagen wir über einen Menschen, der beschwindelt wurde, er sei «völlig am Ende».

Recht betrachtet, ist das Schwindeln ein Konglomerat, dessen Bestandteile Genauigkeit, Interesse, Ausdauer, Einfallsreichtum, Kühnheit, Nonchalance, Originalität, Unverschämtheit und Grinsen sind.

Genauigkeit: Der Schwindler ist genau. Er operiert in kleinem Maßstab. Sein Geschäft ist der Kleinhandel gegen Barzahlung oder sichere Wechsel auf Sicht. Sollte er jemals zu größeren Spekulationen versucht sein, so verliert er sogleich seine eigentümlichen Merkmale und wird zu dem, was wir einen «Finanzier» nennen. Letzteres entspricht der Idee des Schwindelns in jeder Hinsicht – mit Ausnahme der Größe. Ein Schwindler kann demnach als klammheimlicher Bankier gelten, eine «Finanzoperation» als ein Brobdignag7-Schwindel. Das eine verhält sich zum andern wie ein Mastodon zur Maus, wie ein Kometenschweif zum Schweineschwänzchen, wie Homer zu Flaccus, wie die «Ilias» zu Sam Patch8.

Interesse: Der Schwindler wird von Eigeninteresse geleitet. Seine Verachtung gilt dem, der bloß um des Schwindelns willen schwindelt. Er hat ein Ziel vor Augen: seine Tasche – und deine. Er hat immer die beste Gelegenheit im Blick. Er bringt seine Schäflein ins Trockene, um deine eigenen musst du dich schon selber kümmern.

Ausdauer: Der Schwindler lässt nicht locker. Er ist nicht so leicht zu entmutigen. Sollten Banken zusammenbrechen, kümmert ihn das kein bisschen. Unbeirrt verfolgt er sein Ziel, und ut canis a corio nunquam absterrebitur uncto9 lässt er nie von seiner Beute ab.

Einfallsreichtum: Der Schwindler ist genial. Er hat einen ausgeprägten Hang zur Konstruktion. Er versteht es, Ränke zu schmieden. Er findet Wege und Umwege. Wäre er nicht Alexander, so würde er Diogenes sein.10 Wäre er nicht, was er ist, so würde er Patentrattenfallen herstellen oder Forellen angeln.

Kühnheit: Der Schwindler ist kühn und wagemutig. Er trägt den Krieg nach Afrika. Er erobert alles im Sturm. Er hätte keine Angst vor den Dolchen der Frey-Herren11. Mit ein wenig mehr Umsicht hätte Dick Turpin einen guten Schwindler abgegeben, mit etwas weniger Flunkerei Daniel O’Connell und mit einem Pfund oder zwei mehr Gehirn auch Karl XII.12

Nonchalance: Der Schwindler ist nonchalant. Er ist überhaupt nicht nervös. Er kennt gar keine Nerven. Er lässt sich nie in Aufregung versetzen. Er gerät nie außer sich – außer man setzt ihn vor die Tür. Er ist kalt – die Kaltblütigkeit selbst. Er ist entspannt – «entspannt wie ein Lächeln von Lady Bury13». Er ist locker – locker wie ein alter Handschuh oder die Jungfrauen im antiken Baiae14.

Originalität: Der Schwindler ist originell – aufs Gewissenhafteste. Er hat seine eigenen Gedanken. Er würde es verächtlich ablehnen, sich derjenigen eines andern zu bedienen. Abgenutzte Tricks sind ihm ein Gräuel. Er würde eine Geldbörse zurückgeben, da bin ich mir sicher, wenn er entdeckte, dass er sie durch einen unoriginellen Schwindel an sich gebracht hätte.

Unverschämtheit: Der Schwindler ist unverschämt. Er schwadroniert. Er stemmt die Arme in die Hüfte. Er stößt die Hände in die Hosentaschen. Er lächelt dir höhnisch ins Gesicht. Er tritt dir auf die Hühneraugen. Er verzehrt dein Abendessen, trinkt deinen Wein, borgt dein Geld, zieht dich an der Nase, tritt deinen Pudel und küsst deine Frau.

Grinsen: Der echte Schwindler wickelt alles mit einem Grinsen ab. Aber das sieht keiner, nur er selbst. Hat er sein Tagewerk vollbracht und erledigt, was er sich vorgenommen hatte, dann grinst er, bei Nacht und im eigenen Kämmerlein, nur zu seinem eigenen Vergnügen. Er kommt nach Hause, schließt seine Tür, entledigt sich seiner Kleider, löscht die Kerze, steigt ins Bett und platziert sein Haupt aufs Kissen. Ist dies alles getan, grinst der Schwindler. Das ist keine Hypothese, sondern eine Tatsache. A priori argumentiert, wäre ein Schwindel ohne Grinsen ja gar kein Schwindel.

Der Schwindel hat seinen Ursprung in der Kindheit des Menschengeschlechts. Vielleicht war ja Adam der erste Schwindler. Auf jeden Fall finden wir bereits in einer sehr frühen Epoche der Antike Spuren dieser Wissenschaft. Die modernen Vertreter haben selbige aber zu einem Grad der Vollkommenheit gebracht, den sich unsere dickköpfigen Vorfahren nie hätten träumen lassen. – Ohne länger bei alten Sprichwörtern zu verweilen, werde ich mich deshalb darauf beschränken, kurz und knapp einige Fallbeispiele aus moderner Zeit zu schildern.

Ein sehr guter Schwindel ist folgender. Nehmen wir an, eine Haushälterin ist auf der Suche nach einem Sofa, und wir beobachten sie, wie sie mehrere Möbelmagazine betritt und wieder herauskommt. Endlich gelangt sie zu einem, das mit einer ausgezeichneten Auswahl aufwartet. Ein höfliches, redegewandtes Individuum am Eingang spricht sie an und bittet sie einzutreten. Sie findet ein Sofa ganz nach ihren Vorstellungen und ist angenehm überrascht, als ihr eine Summe genannt wird, die wenigstens zwanzig Prozent unter dem liegt, was sie erwartet hat. Sie beeilt sich, den Kauf zu tätigen, bekommt eine Rechnung mit Quittung, hinterlässt ihre Adresse mit der Bitte, den Gegenstand so schnell wie möglich zu liefern, und zieht unter den nicht enden wollenden Verbeugungen des Ladenbesitzers von dannen. Der Abend kommt, jedoch kein Sofa. Ein Dienstbote wird geschickt, den Grund für die Verzögerung zu erkunden. Dort will man von der ganzen Transaktion nichts wissen. Niemand hat ein Sofa verkauft, niemand Geld erhalten – außer dem Schwindler, der für einen Augenblick den Ladenbesitzer spielte.

In unseren großen Möbelgeschäften gibt es ja keinerlei Aufsicht, was einen derartigen Trick in jeder Beziehung begünstigt: Besucher treten ein, schauen sich die Möbel an und gehen unbemerkt und ungesehen wieder fort. Will jemand etwas kaufen oder sich nach dem Preis eines Artikels erkundigen, so ist eine Glocke zur Hand, und diese erachtet man als völlig ausreichend.

Auch der folgende ist ein ganz respektabler Schwindel: Ein gut gekleidetes Individuum betritt einen Laden, tätigt einen Kauf im Wert von einem Dollar und entdeckt, sehr zu seinem Ärger, dass er seine Brieftasche in der Tasche eines anderen Mantels hat stecken lassen, und so sagt er zu dem Ladenbesitzer: «Lieber Herr, das ist ja kein Beinbruch! Hätten Sie vielleicht die Freundlichkeit, mir das Paket nach Hause zu schicken? Aber halt!, da fällt mir ein, dass ich auch dort kein Kleingeld habe, nur einen Fünfdollarschein. Sie könnten jedoch zusammen mit dem Paket gleich vier Dollar Wechselgeld schicken, ja?»

«Sehr wohl, mein Herr», antwortet der Ladenbesitzer, der sogleich eine hohe Meinung von der edlen Gesinnung seines Kunden gewinnt. «Ich kenne Leute», sagt er sich, «die hätten die Ware einfach unter den Arm geklemmt und wären fortgegangen, mit dem Versprechen, den Dollar zu bezahlen, wenn sie am Nachmittag wieder vorbeikämen.»

Ein Laufbursche wird mit Paket und Wechselgeld losgeschickt. Unterwegs, welch ein Zufall, begegnet ihm der Käufer, der ausruft: «Ah, ich sehe, da ist mein Paket. Ich dachte, du hättest es schon längst bei mir abgeliefert. Na, lauf weiter! Mrs. Trotter, meine Gattin, wird dir die fünf Dollar aushändigen. Ich habe sie...

Erscheint lt. Verlag 27.9.2021
Reihe/Serie Manesse Bibliothek
Manesse Bibliothek
Übersetzer Rainer Bunz
Verlagsort Zürich
Sprache deutsch
Original-Titel The Tales of the Folio Club
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Amerikanische Literatur • Amerikanischer Klassiker • Christian Bale • dark academia books • Dark Academia Bücher • der denkwürdige fall des mr poe • der Kater • Der schwarze Rabe • eBooks • Erstübersetzung • E.T.A. Hoffmann • Fantasy • gillian anderson • Gruselgeschichte • Harry Melling • Horror • Landors Cottage • Landors Landhaus • Netflix • Neuübersetzung • Parodie • Samuel Taylor Coleridge • Satire • Schauerroman • Scott Cooper • The pale blue eye • USA • Washington Irving
ISBN-10 3-641-26725-0 / 3641267250
ISBN-13 978-3-641-26725-4 / 9783641267254
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