Das Mädchen (eBook)

Roman

(Autor)

eBook Download: EPUB
2020
288 Seiten
Heyne Verlag
978-3-641-26564-9 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Das Mädchen - Stephen King
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»Ich habe keine Angst. Überhaupt keine Angst. Der Wanderweg ist gleich dort vorn. Es ist wirklich ganz unmöglich, sich hier zu verlaufen ...«
Ein Mädchen irrt durch die Wälder, allein, vom Weg abgekommen. Noch hat niemand bemerkt, dass sie verschwunden ist. Nur sie weiß, dass niemand sie hier beschützen kann - vor Hunger und Durst, vor Mücken und wilden Tieren, vor Einsamkeit und Dunkelheit. Vor allem nicht vor dem, was sich in den Wäldern aufgemacht hat, die Neunjährige heimzusuchen ...

Stephen King, 1947 in Portland, Maine, geboren, ist einer der erfolgreichsten amerikanischen Schriftsteller. Bislang haben sich seine Bücher weltweit über 400 Millionen Mal in mehr als 50 Sprachen verkauft. Für sein Werk bekam er zahlreiche Preise, darunter 2003 den Sonderpreis der National Book Foundation für sein Lebenswerk und 2015 mit dem Edgar Allan Poe Award den bedeutendsten kriminalliterarischen Preis für Mr. Mercedes. 2015 ehrte Präsident Barack Obama ihn zudem mit der National Medal of Arts. 2018 erhielt er den PEN America Literary Service Award für sein Wirken, gegen jedwede Art von Unterdrückung aufzubegehren und die hohen Werte der Humanität zu verteidigen.

Seine Werke erscheinen im Heyne-Verlag.

VOR DEM SPIEL


Die Welt hatte Zähne, und sie konnte einen damit beißen, wann immer sie wollte. Das entdeckte Trisha McFarland, als sie neun Jahre alt war. Um zehn Uhr an einem Morgen Anfang Juni saß sie im Dodge Caravan ihrer Mutter auf dem Rücksitz, trug ihr blaues Trainingstrikot der Red Sox (das mit 36 GORDON auf dem Rücken) und spielte mit ihrer Puppe Mona. Um zehn Uhr dreißig hatte sie sich im Wald verlaufen. Und um elf Uhr versuchte sie, nicht in Panik zu geraten, indem sie den einen Gedanken nicht zuließ: Das ist schlimm, sogar sehr schlimm. Sie strengte sich an, den Gedanken zu verdrängen, dass Leute, die sich im Wald verirrten, manchmal ernstlich verletzt wurden. Dass sie manchmal starben.

Alles nur, weil ich pinkeln musste, dachte sie … dabei hatte sie gar nicht so dringend gemusst, und außerdem hätte sie Mama und Pete bitten können, kurz weiter vorn auf dem Wanderweg zu warten, während sie hinter einem Baum verschwand. Die beiden hatten sich wieder mal gestritten – o Mann, was eine Überraschung –, weshalb sie ein kleines Stück zurückgeblieben war und nichts gesagt hatte. Weshalb sie den Weg verlassen hatte und hinter eine Gruppe hoher Büsche getreten war. Sie brauchte eine Verschnaufpause, so einfach war das. Sie hatte es satt, die beiden streiten zu hören, hatte es satt, immer fröhlich und heiter zu tun, war kurz davor, ihre Mutter anzukreischen: Dann lass ihn doch gehen! Warum lässt du ihn nicht einfach, wenn er unbedingt wieder nach Malden und bei Dad leben will? Ich würde ihn selbst hinfahren, wenn ich einen Führerschein hätte, nur um hier ein bisschen Ruhe und Frieden zu haben! Aber was dann? Was würde ihre Mutter sagen? Was für einen Ausdruck würde ihr Gesicht annehmen? Und Pete. Er war älter, fast vierzehn, und nicht dumm. Warum war er also nicht vernünftiger? Warum konnte er nicht einfach mal damit aufhören? Schluss mit dem Scheiß, hätte sie am liebsten zu ihm gesagt (in Wirklichkeit zu beiden), macht einfach Schluss mit dem Scheiß.

Die Scheidung lag ein Jahr zurück, und ihre Mutter hatte das Sorgerecht erhalten. Pete hatte sich lange und erbittert gegen den Umzug aus dem Vorort von Boston in den Süden Maines gewehrt. Was zum Teil daran lag, dass er wirklich bei Dad sein wollte, wie er Mama immer wieder vorhielt (ein untrüglicher Instinkt sagte ihm wohl, dass das der Hebel war, der sich am tiefsten ansetzen und am wirkungsvollsten gebrauchen ließ), aber Trisha wusste, dass das nicht der einzige Grund oder gar der wichtigste war. In Wirklichkeit wollte Pete weg, weil er die Sanford Middle School hasste.

In Malden hatte er alles ziemlich im Griff gehabt. Er hatte den Computerclub wie sein eigenes Privatkönigreich regiert; er hatte Freunde gehabt – alles Nerds, klar, aber die hatten als Gruppe zusammengehalten und waren so vor den sie Hänselnden sicher gewesen. An der Sanford Middle gab es halt keinen Computerclub, und da konnte er sich nur mit einem Einzigen anfreunden, nämlich Eddie Rayburn. Und im Januar war Eddie weggezogen, auch er ein Opfer der Scheidung seiner Eltern. Damit war Pete zum Einzelgänger geworden, auf dem jeder herumhacken konnte. Noch schlimmer war, dass alle ihn auslachten. Sie hatten ihm einen Spitznamen gegeben, den er hasste: Petes CompuWorld.

An den meisten Wochenenden, die Pete und Trisha nicht bei ihrem Vater in Malden verbrachten, machte ihre Mutter mit ihnen Ausflüge. Sie unternahm sie mit grimmiger Verbissenheit, und obwohl Trisha sich von ganzem Herzen wünschte, ihre Mutter würde damit aufhören – auf den Ausflügen stritten die beiden immer am schlimmsten –, wusste sie, dass das nicht passieren würde. Quilla Andersen (sie hatte wieder ihren Mädchennamen angenommen, und man konnte wetten, dass Pete auch das hasste) stand zu ihren Überzeugungen. In Dads Haus in Malden hatte Trisha einmal mitgehört, wie ihr Vater mit seinem Dad telefoniert hatte. »Wäre Quilla am Little Big Horn dabei gewesen, hätten die Indianer verloren«, hatte er gesagt, und obwohl Trisha es nicht mochte, wenn Dad solche Dinge über Mama sagte – es kam ihr kindisch und wie Verrat vor –, konnte sie nicht bestreiten, dass in dem Urteil ein Funken Wahrheit steckte.

In den vergangenen sechs Monaten, in denen das Verhältnis zwischen Mama und Pete sich ständig verschlechtert hatte, war sie mit ihnen im Automuseum in Wiscasset, im Shaker Village in Gray, im New England Plant-A-Torium in North Wyndham, in Six-Gun City in Randolph in New Hampshire, auf einer Kanufahrt den Saco River hinunter und beim Skifahren in Sugarloaf gewesen (wo Trisha sich den Knöchel verstaucht hatte – eine Verletzung, die später zu einem lautstarken Streit zwischen ihrem Vater und ihrer Mutter geführt hatte; o ja, so eine Scheidung machte Spaß, richtig viel Spaß).

Manchmal, wenn es Pete irgendwo echt gefiel, hielt er für einige Zeit die Klappe. Er hatte Six-Gun City als »etwas für Babys« bezeichnet, aber Mama hatte ihm erlaubt, die meiste Zeit dort in dem Saal mit den Videospielen zu verbringen, und Pete war auf der Heimfahrt zwar nicht gerade glücklich, aber doch wenigstens still gewesen. Wenn Pete jedoch eines der von Mama ausgesuchten Ziele nicht mochte (am wenigsten hatte ihm bisher das Plant-A-Torium gefallen; an dem Tag war er auf der Rückfahrt nach Sanford besonders eklig gewesen), sagte er seine Meinung freiheraus. »Augen zu und durch« entsprach nicht seinem Wesen. Auch nicht dem ihrer Mutter, vermutete Trisha. Sie selbst hielt das für eine ausgezeichnete Ansicht, aber natürlich behauptete jedermann gleich auf den ersten Blick, sie sei die Tochter ihres Vaters. Das störte sie manchmal, aber meistens gefiel es ihr.

Trisha war es egal, wohin sie samstags fuhren; mit ausschließlichen Trips zu Vergnügungsparks und Minigolfplätzen wäre sie sogar völlig zufrieden gewesen, einfach deshalb, weil sich dort die immer schärferen Auseinandersetzungen in Grenzen hielten. Aber Mama wollte, dass ihre Ausflüge auch lehrreich waren – daher das Plant-A-Torium und Shaker Village. Zu Petes übrigen Problemen kam noch, dass er es übel nahm, samstags mit Bildung vollgestopft zu werden, wo er lieber oben in seinem Zimmer geblieben wäre und auf seinem Mac Sanitarium oder Riven gespielt hätte. Ein paarmal hatte er seine Meinung (»alles echt Scheiß!« fasste seine Äußerungen ziemlich gut zusammen) so freimütig geäußert, dass Mama ihn zum Auto zurückgeschickt hatte, in dem er sitzen und »sich beruhigen« sollte, bis sie mit Trisha zurückkam.

Trisha hätte Mama am liebsten gesagt, dass es falsch sei, ihn wie ein Kindergartenkind zu behandeln, das in die Ecke gestellt wurde – dass sie eines Tages zum Van zurückkommen und ihn leer vorfinden würden, weil Pete beschlossen hätte, per Anhalter nach Massachusetts zurückzufahren –, aber natürlich sagte sie nichts. Die Samstagsausflüge an sich waren falsch, aber das würde Mama nie kapieren. Nach manchen von ihnen wirkte Quilla Andersen um mindestens fünf Jahre gealtert, hatte tiefe Falten um die Mundwinkel und rieb sich mit einer Hand ständig ihre Schläfe, als hätte sie Kopfschmerzen … aber sie würde trotzdem nie damit aufhören. Das wusste Trisha genau. Wäre ihre Mutter am Little Big Horn dabei gewesen, hätten die Indianer vielleicht trotzdem gesiegt, aber ihre Verluste wären weit höher gewesen.

Diese Woche führte ihr Ausflug sie zu einer Ansiedlung im Westen von Maine. Durch das Gebiet schlängelte sich der Appalachian Trail auf seinem Weg nach New Hampshire. Am Vorabend hatte Mama ihnen am Küchentisch die Farbfotos in einer Broschüre gezeigt. Die meisten Aufnahmen zeigten glückliche Wanderer, die entweder auf Waldpfaden unterwegs waren oder an Aussichtspunkten standen und mit einer Hand schützend über den Augen über weite bewaldete Täler zu den vom Zahn der Zeit angenagten, aber trotzdem immer noch gewaltigen Gipfeln der mittleren White Mountains spähten.

Pete saß am Tisch, wirkte äußerst gelangweilt und weigerte sich, mehr als nur einen flüchtigen Blick in die Broschüre zu werfen. Mama weigerte sich ihrerseits, sein demonstratives Desinteresse zur Kenntnis zu nehmen. Wie es zunehmend ihre Gewohnheit wurde, tat Trisha so, als wäre sie richtig begeistert. Mittlerweile kam sie sich oft wie eine Mitspielerin in einer Gameshow im Fernsehen vor, die sich bei dem Gedanken, einen Satz Kochtöpfe für wasserloses Garen zu gewinnen, fast in die Hose machte. Und wie fühlte sie sich allmählich? Wie Leim, der zwei Teile eines zerbrochenen Gegenstands zusammenhielt. Schwacher Leim.

Quilla klappte die Broschüre zu und drehte sie um. Auf der Rückseite war eine Karte. Sie tippte auf die blaue Schlangenlinie dort. »Das ist die Route 68«, sagte sie. »Wir stellen den Wagen auf dem Parkplatz hier ab.« Sie tippte auf ein kleines, blaues Quadrat. Dann folgte sie mit dem Finger der roten Schlangenlinie. »Das ist der Appalachian Trail zwischen der Route 68 und der Route 302 in North Conway in New Hampshire. Die Strecke ist nur sechs Meilen lang und als mittelschwer eingestuft. Also … der kleine Abschnitt hier in der Mitte gilt als mittelschwer bis schwierig, aber nicht so sehr, dass wir eine Kletterausrüstung oder so was brauchen.«

Sie tippte auf ein weiteres blaues Quadrat. Pete hatte den Kopf auf eine Hand gestützt und sah weg. Der Daumenballen hatte den linken Mundwinkel zu einem hässlichen Grinsen hochgezogen. Dieses Jahr hatte er angefangen, Pickel zu bekommen, und auf seiner Stirn glänzte eine neue Ernte. Trisha hatte ihn lieb, aber manchmal – zum Beispiel gestern am...

Erscheint lt. Verlag 9.11.2020
Übersetzer Wulf Bergner
Verlagsort München
Sprache deutsch
Original-Titel The Girl Who Loved Tom Gordon
Themenwelt Literatur Krimi / Thriller / Horror
Schlagworte eBooks • Horror
ISBN-10 3-641-26564-9 / 3641265649
ISBN-13 978-3-641-26564-9 / 9783641265649
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