Vergeltung (eBook)

(Autor)

eBook Download: EPUB
2020
368 Seiten
Heyne Verlag
978-3-641-24010-3 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Vergeltung - Robert Harris
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Europa, 1944: In einem letzten Aufbäumen setzt das Deutsche Reich seine modernste und tödlichste Waffe ein. Zehntausend V2-Raketen mit tonnenschwerem Sprengkopf sollen auf England niedergehen. Schon jetzt gibt es Tausende Opfer unter der Bevölkerung. Der Deutsche Rudi und die Engländerin Kay sind Feinde. Ein Ziel jedoch eint sie: Sie wollen den Wahnsinn beenden.

Robert Harris wurde 1957 in Nottingham geboren und studierte in Cambridge. Seine Romane »Vaterland«, »Enigma«, »Aurora«, »Pompeji«, »Imperium«, »Ghost«, »Titan«, »Angst«, »Intrige«, »Dictator«, »Konklave«, »München«, »Der zweite Schlaf«, »Vergeltung« und zuletzt »Königsmörder« wurden allesamt internationale Bestseller. Seine Zusammenarbeit mit Roman Pola?ski bei der Verfilmung von »Ghost« (»Der Ghostwriter«) brachte ihm den französischen »César« und den »Europäischen Filmpreis« für das beste Drehbuch ein. Die Verfilmung von »Intrige« - wiederum unter der Regie Pola?skis - erhielt auf den Filmfestspielen in Venedig 2019 den großen Preis der Jury, den Silbernen Löwen. Robert Harris lebt mit seiner Familie in Berkshire.

1


An jenem Samstagmorgen Ende November 1944 lagen in dem Lokschuppen im holländischen Seebad Scheveningen drei ballistische, je fünfzehn Meter lange Raketen: in stählernen Betten, die öligen Decken zurückgeschlagen, und an Monitore angeschlossen wie verhätschelte Patienten einer Privatklink. Die Techniker in den formlosen, grauen Drillich-Overalls des deutschen Heeres kümmerten sich um sie.

Der Winter, der sechste in diesem Krieg, war streng wie immer. Die Kälte drang vom Betonboden noch durch die dicksten Stiefelsohlen und schien in Fleisch und Knochen zu steigen. Einer der Männer trat einen Schritt von seiner Werkbank zurück und stampfte mit den Füßen auf dem Boden auf, um den Kreislauf in Schwung zu halten. Er war der einzige, der keine Uniform trug. Der dunkelblaue Anzug aus Vorkriegszeiten, die Stiftekollektion in der Brusttasche und die schon etwas fadenscheinige karierte Krawatte wiesen ihn als Zivilisten aus – auf Mathematiklehrer hätte man getippt oder einen jungen Dozenten einer Naturwissenschaft. Nur wenn man das Öl unter den abgekauten Fingernägeln bemerkt hätte, wäre man vielleicht auf den Gedanken gekommen: ah, richtig, ein Ingenieur.

Er konnte die Brandung der Nordsee hören, die Wellen, die in kaum hundert Meter Entfernung unentwegt auf den Strand schlugen, die kreischenden, im Wind schaukelnden Möwen. Erinnerungen kamen hoch, zu viele Erinnerungen, wie er fand. Er war versucht, die Gehörschützer aufzusetzen, um die Geräusche auszublenden. Aber dann wäre er noch mehr aufgefallen. Außerdem hätte er sie ohnehin alle fünf Minuten abnehmen müssen, weil er dauernd irgendeine Frage beantworten musste – über das Triebwerk, die Druckbeaufschlagung im Alkoholtank oder die elektrische Verkabelung, mit der die Rakete von Bodenstrom auf interne Energieversorgung umgeschaltet wurde.

Er machte sich wieder an die Arbeit.

Es war kurz vor halb elf, als an der Rückseite des Schuppens eine der großen, stählernen Rolltüren zur Seite geschoben wurde und der Soldat daneben Haltung annahm. Mit einem kalten Regenschwall betrat Oberst Walter Huber, Kommandeur des Artillerieregiments, den Schuppen. Er wurde von einem Mann begleitet, der einen langen, schwarzen Ledermantel trug, auf dessen Revers die silbernen SS-Insignien prangten.

»Graf!«, rief der Oberst.

Dreh dich weg, war Grafs erster Gedanke. Nimm den Lötkolben, und beug dich über die Werkbank, als hättest du alle Hände voll zu tun.

Aber Huber konnte man nicht entrinnen. Seine Stimme dröhnte, als befände er sich auf dem Exerzierplatz. »Hier haben Sie sich also verkrochen! Da ist jemand, der Sie kennenlernen möchte.« Seine hohen Lederstiefel knarzten, als er mit scharfen Schritten die Werkstätte durchquerte. »Sturmscharführer Biwack vom Nationalsozialistischen Führungsstab«, sagte er und führte den Fremden herein. »Sturmscharführer, das ist Doktor Rudi Graf von der Heeresversuchsanstalt Peenemünde. Er ist unser technischer Verbindungsoffizier.«

Biwack hob den Arm zum Hitlergruß, den Graf argwöhnisch erwiderte. Er hatte zwar schon von den NSFOs gehört, aber noch nie einen getroffen. Sie waren Kommissare der Nazipartei, die erst vor kurzem auf Befehl des Führers installiert worden waren und den Kampfgeist der Truppe stärken sollten. Die Sorte Fanatiker, die erst nach der letzten Patrone aufgab. Je schlimmer die Lage wurde, so schien es, desto mehr wurden es.

Der SS-Mann musterte Graf von Kopf bis Fuß. Er war um die vierzig, nicht unsympathisch. Er lächelte sogar. »Sie sind also eins von diesen Genies, die uns den Krieg gewinnen?«

»Das bezweifle ich.«

»Graf weiß alles über die Rakete«, sagte Huber schnell. »Er kann Sie einführen.« Er wandte sich an Graf. »Sturmscharführer Biwack gehört ab jetzt zu meinem Stab. Er hat die höchste Sicherheitsfreigabe. Sie können sich ihm ganz anvertrauen.« Er schaute auf seine Uhr. Graf spürte, dass er sich so schnell wie möglich verabschieden wollte. Huber war alte preußische Schule, Artillerieoffizier aus dem ersten Weltkrieg – die Sorte Offizier, die nach dem Attentat auf Hitler unter Verdacht geraten war. Einen Nazispion mit dem Ohr an seinem Schlüsselloch war das Letzte, was er brauchen konnte. »Einer von Seidels Zügen führt in einer halben Stunde den nächsten Start durch. Ich schlage vor, Sie schauen sich das zusammen an.« Er nickte knapp und aufmunternd. »Sehr schön.« Dann drehte er sich um und war verschwunden.

Biwack zuckte die Achseln und schnitt eine Grimasse. Diese alten Haudegen. Was soll man da machen? Dann nickte er zu der Werkbank und fragte Graf: »Woran arbeiten Sie da?«

»An einem Umformer, aus der Steuerungseinheit. Die mögen die Kälte überhaupt nicht.«

»Wer mag die schon?« Biwack stemmte die Fäuste in die Hüften und sah sich um. Sein Blick blieb an einer der Raketen hängen. Die V2. Vergeltungswaffe 2. »Mein Gott. Wunderschön. Ich habe natürlich schon von ihr gehört, aber ich habe noch nie eine gesehen. Den Start gleich würde ich mir sehr gern anschauen. Irgendwelche Einwände?«

»Natürlich nicht.« Graf nahm Hut, Schal und Regenmantel von der Hakenleiste neben der Tür.

Vom Meer her wehten Regenböen durch die Seitenstraßen mit den verwaisten Hotels. Der Landungssteg war schon im vorigen Jahr niedergebrannt. Die geschwärzten Eisenpfähle ragten zwischen den weißen Schaumkronen der anbrandenden Wellen hervor wie die Masten eines Schiffswracks. Der Strand war mit Stacheldraht und Panzersperren übersät. An der Außenwand des Bahnhofs hingen einige zerfetzte Touristenplakate aus der Vorkriegszeit, auf denen noch zwei elegante Frauen zu erkennen waren, die gestreifte Badeanzüge und Glockenhüte trugen und sich einen Ball zuwarfen. Die Bevölkerung des Ortes war vertrieben worden. Außer Soldaten waren hier keine anderen Menschen zu sehen; außer Armeelastern und einigen großen Zugmaschinen für die V2 auch keine anderen Fahrzeuge.

Unterwegs berichtete Graf die wesentlichen Fakten. Um der feindlichen Luftwaffe kein Ziel zu bieten, wurden die Raketen im Schutz der Dunkelheit aus den deutschen Fabriken hierhertransportiert: mit Zügen, zwanzig Raketen pro Lieferung, zwei oder drei Lieferungen pro Woche, alle bestimmt für den Angriff auf London. Antwerpen würde mit der gleichen Menge bombardiert werden, aber von deutschem Boden aus. Die SS hatte ihre eigene Stellung in Hellendoorn. Die Batterien in Den Haag hatten den Befehl, die Raketen binnen fünf Tagen nach Eintreffen abzufeuern.

»Warum die Eile?«

»Je länger sie Nässe und Kälte ausgesetzt sind, desto mehr Störungen treten auf.«

»Gibt es viele davon?« Beim Gehen schrieb Biwack Grafs Antworten in ein kleines Notizbuch.

»Ja. Zu viele.«

»Warum?«

»Die Technik ist revolutionär. Wir müssen sie also ständig weiterentwickeln. Seit dem Prototyp haben wir schon über sechzigtausend Modifizierungen vorgenommen.« Eigentlich sei es kein Wunder, dass so viele Raketen versagten, wollte er noch hinzufügen, sondern dass überhaupt welche abhoben. Aber er ließ es bleiben. Der Anblick des Notizbuchs gefiel ihm gar nicht. »Warum machen Sie sich so viele Notizen, wenn ich fragen darf? Schreiben Sie einen Bericht?«

»Nein, ich will nur sichergehen, dass ich auch alles richtig verstehe. Arbeiten Sie schon lange an den Raketen?«

»Sechzehn Jahre.«

»Sechzehn Jahre! Wenn ich Sie mir so anschaue … Wie ist das möglich? Wie alt sind Sie?«

»Zweiunddreißig.«

»So alt wie Professor von Braun. Sie waren mit ihm in der Heeresversuchsanstalt Kummersdorf, richtig?«

Graf warf ihm einen kurzen Seitenblick zu. Er hatte also Wernher und ihn überprüft. Ihm wurde etwas mulmig zumute. »Richtig.«

Biwack lachte. »Ihr seid alle so jung, ihr Raketenburschen.«

Sie hatten die Stadtstraßen hinter sich gelassen und gingen nun durch die grünen Vororte. Scheveningen war von Wäldern und Seen umgeben. Vor dem Krieg musste es hier ziemlich schön gewesen sein. Hinter ihnen dröhnte eine Lastwagenhupe und scheuchte sie an den Straßenrand. Sekunden später brummte der Laster an ihnen vorüber – auf dem hydraulischen Tieflader lag eine V2, vorn die Ruder, dann der lange Korpus und schließlich, hinten über die Ladefläche hinausragend, der Nasenkegel mit dem Gefechtskopf und einer Tonne Sprengstoff. Tanklaster mit Tarnanstrich folgten dicht dahinter. Graf legte die Hände trichterförmig um den Mund und brüllte Biwack ins Ohr: »In den Tanks, das ist Ethanol … Flüssigsauerstoff … Wasserstoffperoxyd … Das kommt mit den gleichen Zügen wie die Raketen. Betankt wird erst am Abschussort.«

Nachdem das letzte Begleitfahrzeug hinter der nächsten Kurve verschwunden war, gingen sie weiter. »Haben Sie keine Angst vor feindlichen Bombern?«, fragte Biwack.

»Natürlich, Tag und Nacht. Bis jetzt hatten wir Glück. Sie haben uns noch nicht entdeckt.« Graf schaute zum Himmel. Die Meteorologen der Wehrmacht sagten für dieses Wochenende eine Schlechtwetterfront über Nordeuropa voraus. Graue, schwere Regenwolken. Das würde die Royal Air Force am Boden halten.

Sie waren schon einige Zeit durch den Wald gegangen, als sie einen Kontrollposten erreichten. Ein Schlagbaum versperrte den Weg, daneben stand ein Wachmann. Graf schaute in den Wald zu einem Hundeführer, der mit einem großen Deutschen Schäferhund an der Leine durch die tropfnasse Vegetation stapfte. Der Hund hob das Bein und starrte ihn an. Einer der SS-Wachleute...

Erscheint lt. Verlag 2.11.2020
Übersetzer Wolfgang Müller
Verlagsort München
Sprache deutsch
Original-Titel V2
Themenwelt Literatur Krimi / Thriller / Horror Krimi / Thriller
Schlagworte 1944 • Agententhriller • Bestsellerautor • eBooks • London • Niederlande • Politthriller • Robert Harris • Spionage • Spionagethriller • Thriller • Vergeltung • Wernher von Braun • Zweiter Weltkrieg
ISBN-10 3-641-24010-7 / 3641240107
ISBN-13 978-3-641-24010-3 / 9783641240103
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