Die Rabentochter (eBook)

Psychothriller

(Autor)

eBook Download: EPUB
2020
352 Seiten
Goldmann Verlag
978-3-641-20796-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die Rabentochter - Karen Dionne
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Fünfzehn Jahre ist es her, dass die damals 11-jährige Rachel Cunningham ihre Mutter erschoss. Ein tragischer Unfall - so ihre Erinnerung. Seither lebt Rachel freiwillig in einer psychiatrischen Klinik, ohne ihre Schuldgefühle je überwunden zu haben. Doch Trevor Lehto, ein Bekannter und angehender Journalist, möchte für eine Reportage mehr über den damaligen Fall herausfinden. Auch in Rachel erwacht der Wunsch, sich endlich der ganzen Wahrheit zu stellen. Wild entschlossen verlässt sie die Klinik und fährt zu ihrer Tante Charlotte und ihrer Schwester Diana, die im Elternhaus von Rachel und Diana leben, einem herrschaftlichen Jagdhaus. Damit begibt sich Rachel jedoch in höchste Gefahr, denn die beiden hüten ein tödliches Geheimnis ...

Karen Dionne hat in jungen Jahren mit ihrem Mann und ihrer kleinen Tochter ein alternatives Leben in einer Hütte auf der Upper Peninsula geführt. Ihre Erfahrungen in der Wildnis von Michigan inspirierten sie zu ihrem Psychothriller-Debüt und großen Bestseller »Die Moortochter«, dem mit »Die Rabentochter« wieder ein packender Psychothriller folgt. Heute lebt Karen Dionne mit ihrem Mann in einem Vorort von Detroit, wo sie an weiteren Spannungsromanen schreibt. »Die Mohrtochter« wurde mit Daisy Ridley und Ben Mendelsohn in den Hauptrollen unter dem Titel »Das Erwachen der Jägerin« erfolgreich verfilmt.

Zwei

Ich lasse die Spinne mit ihrem Nachwuchs allein, und nach einem Blick auf meine Armbanduhr – ein billiges Plastikteil, das meine Tante Charlotte im Dollar Store gekauft hat, nachdem die letzte, die sie mir geschenkt hatte, gestohlen worden war – gehe ich die zwei Treppen nach unten in den Gemeinschaftsraum. Auf einem der Kabelkanäle läuft heute Nachmittag der erste Star-Trek-Kinofilm, und ich habe meinem Freund Scotty versprochen, dafür zu sorgen, dass niemand auf ein anderes Programm umschaltet. Meine Schritte hallen im leeren Treppenhaus wider. Ich trage Tennisschuhe – mit Klettverschluss, etwas anderes ist uns nicht gestattet. Die Keramik-Bodenfliesen sind gesprungen oder fehlen ganz, der Putz an den Wänden und der Decke bröselt und blättert ab. Mein Zimmer ist in einem der ältesten Gebäude, das aus der Zeit der Eröffnung der Klinik im Jahr 1895 stammt, als es noch die »Irrenanstalt Upper Peninsula« war. »Regionales Psychiatrisches Zentrum Newberry«, wie es sich heute nennt, klingt definitiv besser, aber es ist trotzdem, was es ist: eines von zwei großen psychiatrischen Krankenhäusern für Erwachsene im Staat Michigan. Dieses hier liegt auf der Upper und das andere auf der Lower Peninsula. Einrichtungen, in denen psychisch Kranke Heilung suchen, und in denen die unheilbar Geisteskranken den Rest ihrer Tage verbringen. Ich finde mich irgendwo dazwischen.

Ich trete aus dem Treppenhaus und laufe gegen eine Wand aus Lärm. Im Flur wimmelt es von Menschen. Patienten, Krankenschwestern, Patientinnen mit Schwestern, die im Gleichschritt neben ihnen her marschieren – denn nach den Mahlzeiten darf man Bulimikerinnen nicht allein lassen. Pfleger, Reinigungskräfte, ein Arzt im weißen Kittel. Ich schiebe mich dicht an der Wand entlang, den Kopf gesenkt. Ich spreche niemanden an. Niemand spricht mich an. Meine Therapeuten sagen immer, dass ich meine Zimmergenossinnen und die anderen in meiner Therapiegruppe besser kennenlernen sollte. Aber was für einen Sinn hat es, sich mit jemandem anzufreunden, der ohnehin irgendwann weg ist? Ich bahne mir meinen Weg durch den verglasten Durchgang zwischen den Schlafsälen und dem Verwaltungsgebäude, der sich an sonnigen Tagen höllisch aufheizt – unzerbrechliches Plexiglas, wie das Personal jedem Neuankömmling sogleich erklärt –, und öffne die Tür zum Gemeinschaftsraum.

Der Gemeinschaftsraum ist genauso trostlos, wie man es von einer hundert Jahre alten psychiatrischen Anstalt erwarten würde: schmutzfleckige cremefarbene Wände; abgetretene grüne Asbest-Bodenfliesen; die Fenster mit massiven Metallstreben unterteilt, damit niemand rausspringen kann; Kunstledersessel und -sofas, mit Klebeband geflickt und am Boden festgeschraubt. Auch hier ist es laut – der Ton des Fernsehers ist viel zu weit aufgedreht, um das Stimmengewirr von Besuchern und Patienten zu übertönen, die wiederum viel zu laut reden, um den Fernseher zu übertönen. Und der Geruch – ein Mix aus abgestandenen Kochdüften und Desinfektionsmittel, von dem meine Tante Charlotte sagt, dass er sie an ein Altersheim erinnert, nur überlagert von Zigarettengestank.

Hier im Krankenhaus rauchen so gut wie alle. Zigaretten sind gratis – ob das ein raffinierter Trick der Tabakkonzerne ist, um uns abhängig zu machen und lebenslang an sie zu binden, oder ob es nur ein weiteres Beruhigungsmittel im reichhaltigen Arsenal der Klinik ist, vermag ich nicht zu sagen. Nur Feuerzeuge und Streichhölzer sind uns verboten, genau wie Schnürsenkel, Kordeln, Einkaufstüten aus Plastik, Mülltüten und Dutzende andere gewöhnliche, aber potenziell tödliche Gegenstände, die Menschen außerhalb von psychiatrischen Anstalten tagtäglich benutzen.

Dennoch hat es in meiner Zeit hier zwei vollendete Selbstmorde gegeben. Ein Mädchen hat einen Pullover aufgedröselt und das Garn zu einem Strick geflochten, den sie sich um den Hals legte. Dann warf sie das andere Ende über ein Rohr unter der Decke des Badezimmers, stieg auf die Toilettenschüssel und sprang hinunter. Eine andere trank eine Flasche Abflussreiniger, die sie von einem Putzwagen gestohlen hatte, als niemand hinschaute. Die Putzfrau verlor deswegen ihren Job. Trotzdem: Wenn man bedenkt, dass mindestens die Hälfte der Patienten hier sind, weil sie entweder versucht haben, sich das Leben zu nehmen, oder damit gedroht haben, muss man die Leistung des Personals durchaus anerkennen.

»Ur-sa!«, ruft Scotty quer durch den Raum, als er mich erblickt. Er springt auf und wedelt mit den Händen.

Ich lächle und winkte zurück. Scotty ist ein Kind im Körper eines Mannes: groß und breitschultrig, mit Armen, die aussehen, als ob er einen mit einer Umarmung erdrücken könnte. Aber innen drin ist er weich wie ein Gummibärchen, mit blassblauen Augen und straßenköterblonden Haaren und geistig ungefähr auf dem Stand eines Neunjährigen. »Scotty« ist übrigens nicht sein richtiger Name – ich nenne ihn nur so wegen seines Faibles für Star Trek, so, wie er mich »Ursula« nennt wegen meiner Liebe zu Bären.

Scottys Bruder Trevor wartet ebenfalls auf dem Sofa. Mein Magen schlägt wie gewohnt Purzelbäume, als ich ihn sehe. Ich wusste natürlich, dass er hier sein würde – wir sind nach dem Film zu einem Gespräch unter vier Augen verabredet –, aber diese Wirkung hat er nun mal auf mich, da kann ich nichts machen. Trevor Lehto ist achtundzwanzig, zehn Jahre jünger als Scotty und zwei Jahre älter als ich. Heute trägt er ein Holzfällerhemd mit hochgekrempelten Ärmeln, Converse-Sneakers und Jeans, was alles gut zu seinen braunen Haaren und Augen und dem Dreitagebart passt, der irgendwie natürlich und gepflegt zugleich wirkt. Ich habe selbst braune Haare und Augen und trage Jeans und karierte Baumwollhemden, weil das praktisch die Einheitskleidung für Männer wie Frauen auf der Upper Peninsula ist. Aber Trevor steht der Look so gut, dass es den Leuten auffällt. Ich bin ziemlich sicher, dass ich nicht die Einzige hier im Krankenhaus bin, die in ihn verknallt ist.

»Lange nicht gesehen«, sage ich, während ich mich ans andere Ende des Sofas setze, mit Scotty zwischen uns. »Gut schaust du aus.«

Das ist nicht nur reine Höflichkeit. Trevor ist braun gebrannt, und – nach seinen muskulösen Unterarmen zu schließen – so durchtrainiert, wie ich ihn noch nie gesehen habe. So sieht man wohl aus, wenn man sechs Monate mit dem Rucksack durch Nordpatagonien gewandert ist.

»Danke. Bin gerade erst zurückgekommen. Und natürlich musste ich als Allererstes den Burschen hier besuchen.«

Er boxt seinen Bruder in den Arm. Scotty grinst und boxt zurück. Und auch ich muss unwillkürlich lächeln. Scottys Lächeln ist so rein und aufrichtig wie sein Herz. Es braucht nicht viel, um ihn glücklich zu machen, und das ist einer der Gründe, warum ich gerne Zeit mit ihm verbringe. Manche Leute glauben, dass ich mich nur mit Scotty angefreundet habe, um mich an Trevor ranmachen zu können, aber das stimmt nicht. Ich verstehe ja, dass unsere Freundschaft manch einem seltsam vorkommen mag, wenn man bedenkt, dass ich einen IQ von hundertzwanzig habe und Scotty vielleicht gerade mal die Hälfte. Dabei ist genau das ein wichtiger Grund, warum unsere Freundschaft funktioniert. Scotty akzeptiert mich als die, die ich bin, und er verlangt keine Gegenleistung dafür. Und was das Wichtigste ist: Er stellt keine Fragen.

»Wo hat er denn das Veilchen her?«, fragt mich Trevor. »Er will’s mir nicht sagen.«

»Keine Ahnung. Mir will er es auch nicht sagen, und alle anderen halten den Mund.«

Es ist zwar denkbar, dass Scotty die Treppe hinuntergefallen oder gegen eine Tür gelaufen ist, ohne dass jemand anders die Finger im Spiel hatte. Aber wahrscheinlicher ist es, dass einer der Pfleger ihn absichtlich geschlagen oder ihm ein Bein gestellt hat. Die meisten sind gebaut wie Footballspieler, und manche waren das auch, bevor sie wegen eines kaputten Knies oder einer anderen Verletzung den Sport aufgeben mussten und irgendwann hier landeten. Es kann eigentlich nicht gut gehen, wenn man hilflose Bewohner der Obhut von verbitterten, körperlich weit überlegenen Menschen überlässt, und Scotty ist ein leichtes Opfer. Es ist nicht das erste Mal, dass er mit unerklärlichen Verletzungen und Blutergüssen daherkommt, und leider wird es auch nicht das letzte Mal sein. Trevor versucht schon seit Längerem, eine gute betreute Wohnung in der Nähe von Marquette zu finden, damit er ein Auge auf seinen Bruder haben kann, aber bislang ohne Erfolg. Es gibt nicht viele Einrichtungen, die bereit sind, einen geistig behinderten paranoiden Schizophrenen aufzunehmen.

»Pthhht!«, macht Scotty, als der Film anfängt.

Wie zu erwarten, erhebt sich ringsum genervtes Stöhnen, und alles ruft durcheinander: »Nicht schon wieder der Mist!« und »Umschalten!«

Genau deswegen habe ich heute Morgen den richtigen Sender eingestellt und mir die Fernbedienung unter den Nagel gerissen. Ich drehe den Ton laut und stecke die Fernbedienung zwischen die Sofakissen.

Der Film macht dann doch wesentlich mehr Spaß, als ich gedacht habe – hauptsächlich, weil Scotty die ganzen zwei Stunden lang gebannt auf der Sofakante hockt, vornübergebeugt und mit den Händen zwischen den Knien, während Trevor und ich uns zurücklehnen und hinter seinem Rücken Blicke tauschen und die Augen verdrehen. Dann und wann sieht eine Frau am anderen Ende des Zimmers, die verbissen vorgibt zu lesen, von ihrem Buch auf und durchbohrt Trevor und mich...

Erscheint lt. Verlag 16.11.2020
Übersetzer Andreas Jäger
Verlagsort München
Sprache deutsch
Original-Titel The Wicked Sister
Themenwelt Literatur Krimi / Thriller / Horror Krimi / Thriller
Schlagworte atmosphärischer Krimi • eBooks • In den Wäldern Nordamerikas • Marschland • Michigan / USA • Neuerscheinungen Bücher 2020 • Obere Halbinsel • Psychologischer Spannungsroman • Psychothriller • Psychothriller bücher • Romane Bestseller 2020 frauen • Spiegelbestseller • Thriller • Thriller Neuerscheinungen 2020 Taschenbuch • Upper Peninsula • Weibliche Spannungsliteratur • Wildnis Nordamerikas
ISBN-10 3-641-20796-7 / 3641207967
ISBN-13 978-3-641-20796-0 / 9783641207960
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