Der Elefant im Zimmer (eBook)
368 Seiten
Penguin Verlag
978-3-641-23577-2 (ISBN)
Warum deckt eine Kirchenbehörde einen Kardinal, von dem intern seit Jahrzehnten bekannt ist, dass er Schüler und Novizen sexuell missbraucht? Warum will in einem Untersuchungsausschuss nicht mal die Opposition den Fehltritt einer Ministerin wirklich aufklären? Warum akzeptieren die Künstler einer Akademie ein Verbot von Dichterlesungen? Weniger der Machtmissbrauch an sich ist unheimlich - Menschen haben nun mal diese Neigung -, als das verdruckste, verworrene, widersprüchliche, explosive Verhältnis der Untergebenen dazu. Petra Morsbach erkundet es in drei spannenden Reportagen. Wie in ihrem preisgekrönten Essay 'Laura' über die 'Wahrheit des Erzählens' hält sie sich dabei an die Sprache der Dramen. Denn die Sprache scheint nicht nur in der Literatur, sondern auch im realen Leben mehr zu wissen als der Mensch.
Über die moralischen Dilemmata hinaus zeigen die Szenarien vielschichtige, fesselnde Geschichten, deren Muster jedoch auch in Alltagssituationen erkennbar sind, ob in Familie oder Verein, Ausbildung oder Beruf, Kita oder Behörde. Eine präzise und verständliche Analyse der Mechanismen von Machtmissbrauch und dessen Duldung - und eine hilfreiche Anleitung zum Widerstand, die durch Corona eine besondere Aktualität erlangt hat. Wie achtet und beachtet man Grundrechte? Wie verteidigt man sie? Und wie holt man sie zurück, wenn sie verloren gegangen sind?
Petra Morsbach, geboren 1956, studierte in München und St. Petersburg. Danach arbeitete sie zehn Jahre als Dramaturgin und Regisseurin. Seit 1993 lebt sie als freie Schriftstellerin in der Nähe von München. Bisher schrieb sie mehrere von der Kritik hoch gelobte Romane, u.a. »Opernroman«, »Gottesdiener« und »Justizpalast«. Ihr Werk wurde mit zahlreichen Stipendien und Preisen ausgezeichnet, u.a. dem Jean-Paul-Preis. 2017 erhielt sie den Roswitha-Literaturpreis der Stadt Bad Gandersheim und den Wilhelm-Raabe-Preis.
DAS BUCH GROËR:
ALTE SÜNDEN
Da rief Jesus sie zu sich und sprach: Ihr wisst, dass die, die als Herrscher gelten, ihre Völker unterdrücken und die Mächtigen ihre Macht über die Menschen missbrauchen. Bei euch aber soll es nicht so sein …5
Markus 10, 42–43
Vorbemerkung: Dies ist kein weiteres Kapitel über die Sexualgier von Priestern, sondern eines über die Hilflosigkeit einer ethisch hoch angesehenen Institution gegenüber eindeutigem Machtmissbrauch. Es richtet sich ausdrücklich nicht gegen die Kirche, ebenso wenig wie die späteren Kapitel sich gegen die Politik, die Justiz oder den Kunstbetrieb richten.
Untersucht wird ein allgemeines menschliches Phänomen anhand eines beispielhaften, exakt dokumentierten Falles, bei dem gerade die Eloquenz der Protagonisten besondere Einblicke in psychische und soziale Verstrickungen ermöglicht.
Der Vorgang
1995 beschuldigte ein junger Mann im Wiener Nachrichtenmagazin profil seinen ehemaligen Religionslehrer des sexuellen Missbrauchs. Spektakulär an diesem Fall war die Person des Beschuldigten: Dr. Hans Hermann Groër, damals 76 Jahre alt, war inzwischen Kardinal und Vorsitzender der Österreichischen Bischofskonferenz, der ranghöchste Kleriker der Republik.
Die Pädosexualität steht bei dieser Erörterung nicht im Vordergrund. Zwar ergibt sich eine gewisse Anfälligkeit der römisch-katholischen Kirche durch deren geschlossene, streng hierarchische Betriebsstruktur und ihr groteskes Verhältnis zu Frauen. Doch Pädosexualität kommt überall vor. Zur gleichen Zeit wie Groër missbrauchten in Deutschland der Direktor der evangelischen Odenwaldschule Gerold Becker (1936–2010) und in England der BBC-Moderator Jimmy Savile (1926–2011) ebenso exzessiv jahrzehntelang Minderjährige. Ebenso wie Groër begannen Becker und Savile mit dem Missbrauch nicht an der Macht, sondern strebten möglicherweise um des Missbrauchs willen nach ihr. Alle drei prunkten mit humaner Gesinnung und verschafften sich durch gesellschaftlichen Rang Immunität.
Vermutlich hat kaum ein Kirchenangestellter die Taten gebilligt, und öffentlich hätten sämtliche Priester einschließlich Groërs erklärt, dass so etwas nicht vorkommen dürfe. Als es aber vorkam, ließ man den Täter nicht nur gewähren, sondern ermöglichte ihm sogar eine Spitzenkarriere, widersetzte sich der Aufklärung, vermied es, ihn zur Rechenschaft zu ziehen, und desavouierte die Opfer.
Selbst wenn man die Kirche nicht als Hort des Christentums, sondern als weltliche Organisation betrachtet: Fühlte sich keiner für den Schaden verantwortlich? Worum ging es den Amtsträgern? Wer hatte was gewusst? Wer profitiert? Welche sozialen und psychischen Motive mögen wirksam geworden sein? Wie äußerten sich die Konflikte zwischen Image und Auftrag, Solidarität und Verantwortung, Machtanspruch und Schuld? All das blieb ungeklärt. Damals, als Kirche und Land vom Skandal überrollt wurden, standen die Kämpfe im Vordergrund, später die Ergebnisse. Eine Aufarbeitung fand nicht statt. Die Würdenträger zeigten kein Interesse daran, dem »Volk« fehlten Einblick und Übersicht.
Dass wir heute noch aus der Geschichte Erkenntnisse ziehen können, ist dem österreichischen Journalisten Hubertus Czernin (1956–2006) zu verdanken, der damals eine Dokumentation des Konflikts erstellt hat. Czernin, als Herausgeber und Chefredakteur der Zeitschrift profil 1992–96 für die Enthüllungen verantwortlich, war selbst bekennender Katholik. Das Buch Groër, 1998 im Wieser Verlag erschienen, versammelt in chronologischer Folge die entscheidenden Zeugnisse, nahezu ohne Kommentar.6 Diese Chronik ist eine Fundgrube. Die Hunderte Mitteilungen, Briefe, Interviews, Zeugenaussagen, Zeitungsartikel, Presseerklärungen, Aufrufe, Flugblätter, kanonischen Ermahnungen, Verdikte und Berichte ergeben nicht nur einen kollektiven Wahrnehmungs- und Deutungskrimi, sie speichern auch die Emotionen der Schreibenden. Zwischen dem Kampf um seelische Befreiung und bestürzenden Abgründen finden sich Zeugnisse der verblüffendsten Zwischenformen: naive Querulanz, bittere Kompromisse, byzantinische Unnahbarkeit, artistische Diplomatie, eisige Züchtigungsschreiben, idealistische Hoffnungserklärungen, rasante Emanzipation. Das entscheidende Drama – der Machtmissbrauch – spielte sich im irrationalen Bereich ab, in Verleugnung und Heuchelei, Selbsttäuschung und Täuschung. Ohne deren Untersuchung ist hier nichts zu lernen. Und zu ihr liefern die Dokumente den Schlüssel: Denn der Mensch sagt immer mehr, als er meint. Das bestätigt Seite für Seite das beispielhafte Projekt Hubertus Czernins.
Ein Missbrauchsvorwurf
Kurze Vorbemerkung: Einige meiner katholischen Freunde sagen, sie könnten von sexuellem Missbrauch einfach nichts mehr hören. Wem es ebenso geht, der möge die nächsten zwei Seiten überspringen und auf S. 29 weiterlesen.
Nun der Paukenschlag. Im österreichischen Nachrichtenmagazin profil erschien am 27. März 1995 ein Interview des Chefredakteurs Josef Votzi mit Josef Hartmann, einem ehemaligen Zögling des erzbischöflichen Knabenseminars Hollabrunn. Hartmann schilderte, wie der damalige Religionslehrer Hans Hermann Groër sich ihm als Beichtvater sexuell genähert hatte.
Die Beichte hat dann nur mehr fallweise im Beichtstuhl stattgefunden, sondern meistens in seiner Privatwohnung, die sich im 2. Stock des Knabenseminars befand. Seine körperlichen Zudringlichkeiten sind immer intimer geworden. […] Es hat sich so abgespielt, daß er mich stürmisch begrüßt hat, mit Umarmungen. Ich spüre diesen Körper noch immer, denn es war der erste Mensch, dem ich meine Zärtlichkeit habe widmen müssen. Ich habe diesen massigen, gedrungenen Körper noch sehr gut vor mir. […] Er hat es dann so weit kommen lassen, daß er – ich kann es nicht anders sagen – mir die Zunge in den Mund gesteckt hat. Ich habe das eigentlich irrsinnig ekelerregend gefunden, war aber trotzdem so naiv, daß ich niemandem etwas darüber erzählt hätte, auch nicht meiner Mutter. Er wollte also andauernd Zungenküsse, und er hat es auch nicht unterlassen, sich mit seinem vollen Gewicht, seinen 80 oder 90 Kilo, […] auf meinen Schoß zu setzen. […]
Ich war zu diesem Zeitpunkt sehr introvertiert und habe es nicht geschafft zu widersprechen. […] Das ärgste Erlebnis […] war, daß er mich unter folgendem Vorwand in seine Duschkabine gelockt hat: Er hätte einmal einen anderen Internatsschüler vor einer großartigen Entzündung seines Penis gerettet, weil dieser Schüler nicht informiert war, wie man sich ordentlich wäscht, Intimpflege betreibt, indem man die Vorhaut zurückschiebt und die Eichel ordentlich reinigt. Aus vorgespielter Sorge, ich könnte vielleicht auch so eine Entzündung kriegen, hat er mich gebeten, ich soll mich da ganz frei fühlen und mich meiner Kleidung entledigen. Er hat mich dann am ganzen Körper eingeseift und auch mein Glied gereinigt. Das hat er mit hochrotem Kopf getan […]. Er war also sichtlich sehr erregt. Und seine Erektion war ja auch erkennbar.7
Hartmann habe sich zunehmend an Groër gekettet gefühlt, zumal der es verstanden habe,
nach jeder Masturbation immer derartige Schuldgefühle weiterleben zu lassen, daß ich automatisch immer wieder zu ihm gerannt bin […]. Er hat mir immer vorgehalten, daß das eindeutig eine schwere Sünde ist und daß es absolut nicht gottgewollt ist und daß das ›Spatzli‹ – wie er wortwörtlich gesagt hat – eben nur zum Lulu da ist. Er hat mir immer die ärgsten Vorwürfe gemacht. Dann hat er mich getröstet, das heißt auf den Mund geküsst und am ganzen Körper gestreichelt. Er wollte, daß ich dabei bei ihm im Bett liege.
An die Öffentlichkeit gehe er, Hartmann, jetzt, zwanzig Jahre danach, weil ihm klar geworden sei, dass das Scheitern seiner Ehe, sein verklemmtes Verhältnis zur Sexualität, sein Ekel vor dem Körperlichen damit zusammenhingen. Zuletzt habe er Groërs aktuellen Fasten-Hirtenbrief gelesen mit dem Bibelzitat: Täuscht Euch nicht! Weder Unzüchtige noch Götzendiener, weder Ehebrecher noch Lustknaben, noch Knabenschänder werden das Reich Gottes erben. Wenn ein solcher Mann solche Aufrufe erlasse, dann kann ich als verantwortlicher Staatsbürger und Christ mit meinem Wissen von diesem Mann nicht mehr länger hinter dem Berg halten.
Haben Sie sich als Groërs Lustknabe gefühlt?
Ja, ich habe mich als sein Lustknabe oder Lustmädchen erlebt. Groër hat mich sexuell mißbraucht.
Der beschuldigte 76-jährige Dr. Hans Hermann Groër war längst nicht mehr irgendein Priester, sondern geistlicher Leiter der Laienbewegung Legio Mariae,8 Begründer und Leiter der Wallfahrt Maria Roggendorf, Benediktinermönch des Stifts Göttweig, Kardinal von Wien und Vorsitzender der Österreichischen Bischofskonferenz.
Über Josef Hartmann, der seine Aussage durch eine eidesstattliche Versicherung bekräftigt hatte, war weiter nichts bekannt.
Erste Reaktion: Wo sind wir hingekommen?
profil-Chefredakteur Votzi informierte Groër vorab über den geplanten Artikel. Groër antwortete nicht. Statt seiner nahmen die beiden Wiener Weihbischöfe Helmut Krätzl und Christoph Schönborn einen Tag vor Erscheinen des Interviews Stellung:
Wo sind wir hingekommen? Seit der Zeit des Nationalsozialismus, als...
Erscheint lt. Verlag | 31.8.2020 |
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Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Essays / Feuilleton |
Schlagworte | eBooks • Jean-Paul-Preis • Kirche • Kulturbetrieb • Macht • Machtmissbrauch • #metoo • metoo • Politik • Roswitha-Literaturpreis • Sexueller Missbrauch • Tabuisierung • Widerstand • Wilhelm-Raabe-Preis • Wissenschaft • Zivilcourage |
ISBN-10 | 3-641-23577-4 / 3641235774 |
ISBN-13 | 978-3-641-23577-2 / 9783641235772 |
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