Leila wacht auf, und ihr Leben ist nicht mehr dasselbe. Wie ist sie an diesen Ort geraten, in dieses Bett, in diese Psychiatrie? Erinnerungen mischen sich mit Ahnungen, sie hat Angst, sie weiß nicht mehr, wer sie wirklich ist. Wann ist ihr Traum zum Alptraum geworden? Und was hat sie wirklich getan?
Angélique Mundt wurde 1966 in Hamburg geboren. Nach ihrem Studium der Psychologie arbeitete sie lange in der Psychiatrie, bevor sie sich 2005 als Psychotherapeutin mit einer eigenen Praxis selbstständig machte. Sie arbeitete 12 Jahre ehrenamtlich im Kriseninterventionsteam des Deutschen Roten Kreuzes, das Menschen bei potentiell traumatisierenden Ereignissen »Erste Hilfe für die Seele« leistet. Nach »Nacht ohne Angst«, »Denn es wird kein Morgen geben« und »Stille Wasser« ist »TRAUMA« ihr vierter Roman, der im btb Verlag erscheint. Angélique Mundt lebt in Hamburg.
13.
Eine andere Krankenschwester, die sich als Schwester Pernille vorstellt, steht neben mir im Badezimmer und blickt stirnrunzelnd auf die Scherben im Waschbecken.
Wie wird sie reagieren? Werde ich in Ketten gelegt? Ich kauere auf dem Boden und versuche, meine Tränen abzuwischen. Es tut mir ehrlich leid.
»Haben Sie sich verletzt?«
Ich schüttele den Kopf und zeige meine Hände und Unterarme vor. Gott sei Dank habe ich nur einen winzigen Kratzer an der Außenseite meiner rechten Hand. Den kann sie nicht sehen.
»Sind das alle Scherben?«
Ich verstehe ihre Frage nicht gleich. Dann dämmert es mir. Ich nicke.
»Ich lasse das gleich entsorgen. Aber einen neuen Spiegel kann ich nicht so zackig herzaubern. Da müssen Sie schon ein Weilchen ohne auskommen.«
Erleichterung durchflutet mich. Einen neuen Spiegel brauche ich nicht. Ich will sowieso nicht bleiben.
Schwester Pernille ist in ihrer Gelassenheit ein winziger Lichtstrahl an diesem düsteren Tag. Sie trägt keinen Arztkittel oder Schwesternkleidung. Nur ihr Namensschild weist sie als Mitarbeiterin aus. Sie soll mich zu Frau Dr. Freytag führen, denn es ist mir nicht gestattet, die Station allein zu verlassen. Mir ist es recht, denn Pernille ist weder böse auf mich noch gibt sie mir das Gefühl, von ihr verurteilt und in eine Schublade gesteckt zu werden. Sie nimmt die Situation gefasst. Sie vertraut mir.
Ich nicke ihr zu. Ich bin bereit.
»In diesem Aufzug?«, fragt sie.
Ich stehe mit zusammengekniffenen Lippen und im Krankenhaushemdchen der Chirurgie vor ihr und gebe ein klägliches Bild ab. Ich will eigentlich nur in Ruhe gelassen werden. Ich will keinen fremden Bademantel. Ich will nicht sprechen. Ich will nicht therapiert werden. Ich will nur nach Hause.
Ich bin von mir überrascht. Ich beginne meine Sätze nie mit »ich will«. Meist bin ich damit beschäftigt, die Wünsche anderer zu erfüllen. Nur das Bedürfnis, zu singen, kommt direkt aus meinem Herzen. Singen … das war noch vor wenigen Tagen mein Leben. Jetzt spreche ich nicht einmal mehr und stehe im wahrsten Sinne des Wortes vor den Trümmern meines Lebens.
Pernille seufzt und zuckt mit den Schultern. Vermutlich ist sie skurriles Verhalten gewohnt. Sie öffnet die Zimmertür und bittet mich höflich hinaus.
»Ich zeige Ihnen später die Station. Das Wichtigste ist der Aufenthaltsraum. Hier nehmen die Patienten ihre Mahlzeiten ein und können sich tagsüber beschäftigen, spielen, lesen und so. Abends läuft der Fernseher. Die Station ist mit 20 Patienten voll belegt. Das ist meistens so.« Sie zeigt mit der Hand schräg hinter sich. »Da vorn ist unser Dienstzimmer. Ich erkläre Ihnen später, wie die Medikamentenausgabe funktioniert. Und das schwarze Brett mit ein paar organisatorischen Details. Rauchen können Sie im Innenhof, am Ende des Ganges. Rauchen Sie?«
Ich bereue bereits nach wenigen Schritten, dass ich Hannes Bademantel verschmäht habe. Nicht nur, dass es außerhalb des Bettes empfindlich kühl ist, stehen im Gang der Station zahlreiche Patienten, die mich unverhohlen anglotzen. Warum starren sie so? Haben sie noch nie jemanden barfuß und im Krankenhauskittel gesehen? Sie selbst tragen Straßenkleidung und Schuhe. Dagegen fühle ich mich nackt.
Eine junge Rothaarige wankt mit ausgestrecktem Finger und Unverständliches murmelnd auf mich zu. Ich mag sie. Zwar irritieren mich ihre aufgerissenen Augen und der Speichelfaden, der ihr aus dem Mund hängt, aber sie trägt einen Schlafanzug mit Schäfchen darauf und Plüschpantoffeln. Sie sieht ebenso verrückt aus wie ich. Und das gefällt mir.
»Hat sie versucht, sich umzubringen? Hat sie es nicht geschafft? Warum ist sie hier, die Intrigantin, die Zerstörerin, die Mörderin?«, fragt das Schäfchenhemd und stößt mit dem Zeigefinger in meine Richtung.
Was sie sagt, finde ich nicht lustig. Es raubt mir den Atem. Wissen schon alle Bescheid? Bin ich das Gesprächsthema der Station?
Ein Typ mit Jeans, Sweatshirt und schwarzer Hornbrille lächelt mich ermunternd an. Wenigstens hält er seinen Mund und gibt keine blöden Kommentare ab.
Ich ignoriere die Patienten und blicke mich um. Der Gang sieht aus wie in jedem anderen Krankenhaus auch. Kahl, trist und mit haufenweise Türen rechts und links. Wenn nur diese merkwürdige Menschenansammlung nicht wäre. An der gegenüberliegenden Wand lehnt Hanne und fixiert mich mit zusammengekniffenen Augen. »Pass bloß auf, was du sagst«, flüstert sie und kichert. »Red keinen Quatsch, die nehmen hier alles viel zu ernst.«
Ich nicke. Was immer die Alte damit meint.
Das Schäfchenhemd wirft mir einen vernichtenden Blick zu und schreit mich an: »Geht sie jetzt mit den Hexen tanzen? Sie wird ihrer Strafe nicht entkommen!« Dann fängt sie an zu singen: »Stille Nacht, Mörder Nacht …«
Ihre krächzende Stimme hallt durch die Station.
Mir geht die Tonhöhe auf die Nerven, und ich bin froh, dass Schwester Pernille nach meinem Arm greift und mich weiterzieht. Sie ist von dem Auftritt der Patientin unbeeindruckt.
Unter dem Gezeter und Gejammer der Rothaarigen schiebt sie mich durch eine Milchglastür. Pernille tippt hinter vorgehaltener Hand eine Zahlenkombination auf ein Tastenfeld, und nach einem sanften Surren steckt sie einen Schlüssel ins Schloss, um die Tür aufzuziehen.
»Die Tür ist abgeschlossen. Sie dürfen sich überall auf der Station frei bewegen, aber die Station nicht verlassen, klar?«, fragt Pernille.
Ich glaube nicht, dass sie eine Antwort erwartet.
Die Tür hat keine Klinke. Ich drehe mich um, nachdem ich hindurchgegangen bin. Auch von der anderen Seite hat die Tür keine Klinke. Wow. Das meint dann wohl »geschlossene« Psychiatrie.
Wir stehen in einer Art Windfang. Hinter uns ist die Tür zugefallen. Vor uns eine weitere Tür. Die öffnet Pernille ebenfalls mit einem Schlüssel. Diesmal kein Zahlenschloss. Krass. Ich schaue an die Decke, auf der Suche nach Überwachungskameras, aber da sind keine. Es gibt nur die beiden verschlossenen Türen.
»Unsere Schleuse. Sie gewöhnen sich dran. Beeilen Sie sich, die Frau Doktor soll nicht warten müssen.«
Wir eilen durch die Korridore, endlich kommen wir vor einer Tür an. Pernille klopft und öffnet, ohne auf eine Antwort zu warten. Sie schubst mich in den Raum.
»Frau Galayan hat den Spiegel in ihrem Badezimmer zerschlagen«, ruft Pernille der Ärztin zu, bevor sie die Tür von draußen schließt.
Petze, denke ich. Blöde Petze.
Die Ärztin sitzt hinter einem Schreibtisch und zuckt nicht mit der Wimper, weder über Pernilles Indiskretion noch über meinen Aufzug. Sie mustert mich in aller Ruhe von oben nach unten. Ich hätte mir definitiv Hannes Bademantel ausleihen sollen. Ich fühle mich unwohl. Es gefällt mir aber, dass sie unbeeindruckt darüber hinwegsieht und mir einen ihrer schicken Ledersessel anbietet. Sogar ein kleines Sofa hat sie in das Büro gequetscht. Ansonsten herrscht ein Grad der Unordnung auf dem Schreibtisch und in den Regalen, der das Zimmer gemütlich macht. Dafür, dass sie angeblich genauso neu hier in der Klinik ist wie ich, finde ich das eine reife Leistung.
Sie nimmt lächelnd mir gegenüber Platz und schweigt. Offenbar soll ich den Anfang machen. Den Gefallen tue ich ihr nicht.
Stattdessen blicke ich mich um und nehme einen Hauch von Parfum wahr. Frisch. Zitronig? Unfreiwillig schürt die Ärztin meine Neugier. Sie hat ihr blondes Haar aus dem Gesicht gekämmt und zu einem Knoten hochgesteckt. Ihr braunes Kostüm unter dem weißen Kittel sitzt akkurat, und ihre langen schlanken Beine enden in Schuhen mit wenig Absatz. Drei Zentimeter. Nicht zu viel, nicht zu wenig. Allerdings hat sie ein übles Hämatom am Schienbein. Sie gibt sich Mühe, optisch den Eindruck einer erfolgreichen und toughen Frau zu vermitteln. Die sie vermutlich auch ist. Aber ich frage mich, ob sich das in der Psychiatrie lohnt. Wer sieht sie hier schon, außer denen, die nicht richtig ticken oder keinen Lebenswillen mehr haben?
»Frau Galayan. Wie geht es Ihrer Bauchwunde? Haben Sie Schmerzen?«
Ich reagiere nicht. Will sie nett sein oder muss sie meinen Zustand dokumentieren?
»Ich bin Dr. Valentina Freytag. Sie haben den Chefarzt gehört, er möchte, dass ich Sie behandele.«
Aha. Sie will mich nicht behandeln? Prima, dann sind wir schon zwei.
Sie greift auf dem Schreibtisch nach meiner Patientenakte. Die sind ja flink. Gerade angekommen, schon gibt es eine Akte über mich. Etwas, was die nächsten Jahrzehnte schriftlich verwahrt wird. Über mich und mein Leben.
32 Jahre, verheiratet, eine vierjährige Tochter, Hausfrau und Jazzsängerin. Wie sie es so aufzählt, hört es sich gar nicht mal schlecht an. Jedenfalls, bis sie weiterspricht.
»Sie sind eingeliefert worden, nachdem Sie sich im Polizeipräsidium einen Brieföffner in den Bauch gestoßen haben?«, liest sie mit einer Stimme, die präzises Sprechen gewohnt ist. »Die Polizei hat Sie vernommen, weil Ihr Musikproduzent getötet wurde?« Ich höre hinter jedem Satz ein Fragezeichen. »Wie passt das in Ihr Leben?«
Ihre Stimme wechselt die Spannung. Mein Gehör ist so trainiert, dass mir keine Nuance entgeht. In welche Richtung wandern die Gedanken der Ärztin, dass ihre Stimme Alarm schlägt?
Sie fixiert mich über die Akte hinweg. »Möchten Sie nicht auch mal etwas sagen?«
Meine Augenbraue zuckt. Was erwartet sie? Dass ich über einen Mord plaudere? Ich bin widerwillig fasziniert. Weil sie sich etwas traut, was ich nie wagen würde.
»Was ist...
Erscheint lt. Verlag | 13.4.2021 |
---|---|
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Schlagworte | eBooks • Flashbacks • Gaslighting • Hamburg • Manipulation • Mordfall • Psychiatrie • Psychiatrische Klinik • Psychothriller • Sängerin • Thriller • Vertrauen |
ISBN-10 | 3-641-24143-X / 364124143X |
ISBN-13 | 978-3-641-24143-8 / 9783641241438 |
Haben Sie eine Frage zum Produkt? |
Größe: 2,9 MB
DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasserzeichen und ist damit für Sie personalisiert. Bei einer missbräuchlichen Weitergabe des eBooks an Dritte ist eine Rückverfolgung an die Quelle möglich.
Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belletristik und Sachbüchern. Der Fließtext wird dynamisch an die Display- und Schriftgröße angepasst. Auch für mobile Lesegeräte ist EPUB daher gut geeignet.
Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise
Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.
aus dem Bereich