Danach (eBook)

Über Ehe und Trennung | »Eine erstklassige Autorin mit beißender Intelligenz und kompromisslos genauer Beobachtungsgabe.« The New York Times

(Autor)

eBook Download: EPUB
2020 | 1. Auflage
180 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-76461-9 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Danach -  Rachel Cusk
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Rachel Cusk hat ein zutiefst persönliches und hochpolitisches Buch geschrieben - einen skandalträchtigen Bericht über die gewaltigen Folgen und Nebenwirkungen ihrer eigenen Trennung.

Sie erzählt von der heiklen Entscheidung, direkt nach der Geburt der Töchter als Schriftstellerin weiterzuarbeiten, während ihr Mann, zuvor erfolgreicher Fotograf, Töchter und Haushalt übernimmt. Eine unkonventionelle Konstellation, schwierige Umstände, dann die Krise, bald darauf die Trennung. Schonungslos geht sie dabei mit sich ins Gericht, spricht über die eigenen Fehler und Unzulänglichkeiten.

Was genau passiert da, wenn so eine Ehe kollabiert? Wenn man nicht mehr die Hälfte eines Paares ist, sondern nur noch man selbst, eine Frau, einzeln und heillos gebrochen? Man fällt aus allen traditionellen und ideologischen Rollen und Bezügen und legt vollends die gewohnten Kostümierungen ab. Darin liegen Schmerz und Anlass zu bohrenden Zweifeln. Aber auch die Möglichkeiten zu einer Selbstbefragung, die befreit.



Rachel Cusk, 1967 in Kanada geboren, hat die international gefeierte <em>Outline</em>-Trilogie, die autobiografischen Bücher <em>Lebenswerk</em> und <em>Danach</em> sowie zahlreiche weitere Romane und Sachbücher geschrieben. <em>Der andere Ort</em>, ihr zuletzt erschienener Roman, stand auf der Longlist des Booker Prize. Cusk ist Guggenheim-Stipendiatin und lebt in Paris.

Ziehen lassen


An dem Tag, als mein Mann seine Sachen aus unserem Haus holte, bekam ich Zahnschmerzen. Draußen regnete es, die Haustür stand den ganzen Vormittag offen. Nasse Windböen fegten herein, der halbdunkle Flur lag im grauen Tageslicht wie ein geplündertes Grab. Ich stand am Fuß der Treppe und legte mir die Hände auf den Mund wie eine Pantomimin, die Bestürzung zum Ausdruck bringen will.

Der Zahnarzt empfahl mir, den Zahn ziehen zu lassen. Auf der Röntgenaufnahme war zu erkennen, dass er nicht mehr zu retten sein würde. Theoretisch wäre es möglich, sagte der Zahnarzt, doch sprächen die Umstände in diesem speziellen Fall dagegen. Die Krümmung machte die Zahnwurzel unerreichbar für die langen, dünnen Instrumente, die den Nerv abtöten sollten. Die Instrumente kamen nicht um die Ecke, und wie das Röntgenbild zeigte, wuchsen die Zahnwurzeln ab einer bestimmten Tiefe im rechten Winkel zu sich selbst.

Wie war es dazu gekommen? Schwer zu sagen, meinte der Zahnarzt. Möglicherweise wurde er durch äußere Kräfte in eine bestimmte Richtung gedrängt, gleichzeitig schien sein Verhalten schicksalhaft zu sein, eine wesenhafte Reaktion auf vorgefundene Bedingungen. Ein Teil der Wurzel hatte einfach beschlossen, in diese Richtung zu wachsen. Der Anordnung der anderen Zähne konnte man die Schuld nicht geben, auch nicht den räumlichen Gegebenheiten des Kiefers oder der Beschaffenheit des Zahnfleisches. Nein, die Verantwortung für seine Verdammnis würde der Zahn schon selbst übernehmen müssen. Er war auf eine unabwendbare Weise missraten, denn er hatte sich außer Reichweite begeben. Eine geradere Wurzel, wie kaputt auch immer, hätte sich retten lassen. Oberflächlich betrachtet war der Zustand des Zahnes gar nicht so schlecht, doch Form ist Schicksal; Form, nicht Inhalt; dasjenige, was Gestalt angenommen und damit sein Schicksal besiegelt hat.

Während der Röntgenaufnahme traten der Zahnarzt und die Helferin einen Schritt zurück, wandten sich reflexhaft ab und kreuzten die Arme vor der Brust. Lautlos und auf weichen Sohlen nahmen sie eine synchrone Haltung des Selbstschutzes ein; in dem weißen Kittel standen sie da wie Ministranten bei einer blutigen Zeremonie. Der Zahnarzt, ein großer, breitschultriger Grieche, trug unter seinem Kittel ein bodenlanges, bunt gemustertes Gewand. Die blassen Helferinnen huschten als stumme Schemen an den Vitrinen im hinteren Teil des Raumes vorbei, dauerhaft zurückgesetzt wie Figuren im Hintergrund eines Gemäldes. Der Zahnarzt fragte mich, ob der Schmerz mehr oder weniger konstant sei oder ob es zwischendurch Phasen der Normalität gebe, in denen ich anderes tun und denken könne. Hatten wir bereits jenen krisenhaften Punkt erreicht, an dem das Leid unser Erleben bestimmt und unser einziges Bedürfnis und unser einziger Wunsch es ist, das Leiden zu beenden? Wie furchtbar, ein Ende herbeizusehnen, das Verschwinden von etwas; die Sehnsucht sollte auf das Leben zielen, auf Anwesenheit, nicht Abwesenheit. Man solle sich davor hüten, zu lange in diesem umgekehrten Zustand zu verharren, sagte er, trotzdem dürfe ein Zahn erst dann gezogen werden, wenn es absolut unvermeidlich sei. Hatten wir also den Moment erreicht, in dem sich das Herausziehen nicht mehr abwenden ließ?

Ja, sagte ich, der Schmerz habe keine Unterbrechungen mehr. Lange Zeit hatte ich ihm noch entkommen können, nachts im Schlaf, doch nun hatte er mich aufgestöbert und mein Versteck zerstört wie ein Eindringling das Tor einer schlecht gesicherten Festung. Die Leichtigkeit, mit der es nachgegeben hatte, löste eine ganz eigene Krise aus; wie porös und dürftig die Normalität erschien, sobald der Schmerz über sie hereingebrochen war! Der Schmerz ist stark, riesig und unermüdlich, wogegen die »Normalität« – ich glaube, dieses Wort verwendete er –, wogegen die Normalität nichts anderes ist als eine heikle Balance, die das Leben beim Ausbleiben von Störungen erreicht. Sie ist das leere Verzeichnis der Ereignisse und ihres Danach; schrittweise fügt sie sich zusammen und repariert sich selbst, wie die Oberfläche eines Schwimmbeckens langsam wieder zu sich selbst wird, nachdem man einen Kiesel hineingeworfen hat. Die Normalität kann sich nichts widersetzen, aber sie kann praktisch alles überdauern. Der Schmerz hingegen zerstört, was immer er will. Der Schmerz ist eine einschlagende Bombe und die Normalität das Gras, das schließlich über den Krater wächst. Um dem Schmerz zu widerstehen, muss man so stark sein wie er und sich gleichsam in einen menschlichen Bunker verwandeln.

Der gezogene Zahn wird eine beträchtliche Lücke – eine Art Krater – hinterlassen. Es handelt sich um einen Backenzahn, der mittig rechts im Unterkiefer sitzt, ein kräftiger Zahn von großer praktischer und persönlicher Bedeutung, dessen Verschwinden jedoch rein äußerlich verblüffend folgenlos bleiben wird. Selbstverständlich wird er nicht wieder nachwachsen. Der Welt des Mundes steht ein unumkehrbarer Verlust bevor. Sollte ich genug Mittel und Willenskraft aufbringen, könnte nach einer Weile eine Kopie eingepasst werden; bis dahin werden die anderen Zähne den Mangel kompensieren müssen. Möglicherweise bilden sich neue Methoden des Essens und Kauens heraus, um die betroffene Kieferpartie zu entlasten. Kurioserweise fehlt der gegenüberliegende Backenzahn auf der linken Seite. Es handelt sich also nicht um einen ersten solchen Verlust. Schon zuvor ist ein großer Zahn verfallen und aus diesem Mund entfernt worden, und ganz offensichtlich macht so eine Vorgeschichte die Sache nicht leichter. In diesem Licht erscheint die anstehende Trennung noch düsterer. Und auch die Schuldfrage, stets heikel dort, wo sich ein Zusammenbruch ereignet, ändert sich angesichts der neuen Beweislage. Es sieht doch schon sehr nach Unachtsamkeit aus, um Oscar Wilde zu zitieren. Denn ein anständig gepflegter Zahn sollte ein Leben lang halten.

Der Himmel im Fenster des Behandlungszimmers ist strahlend blau. Auf den Regen folgte ein Schwall forscher Frühlingssonne, so ungewöhnlich warm, wie der Vortag unnatürlich kalt und dunkel war. Die Zahnarztpraxis ist heimelig und hell, das Sonnenlicht funkelt auf den stählernen Instrumenten. Alles macht einen leicht hinfälligen Eindruck; die Straße mit ihrem architektonischen Wirrwarr und das schmale Gebäude mit den schiefen Winkeln und abschüssigen Böden, den von beuliger, cremeweißer Tapete bedeckten Rigipswänden, den abgehängten Decken und dem dünnen Linoleumbelag mit Birkenmuster, der sich über die unebenen Holzdielen zieht. Im Eingangsbereich steht ein kleines Aquarium mit neongrünen Plastikfarnen und Kiesbett, auf dem ein blubberndes Piratenschiffswrack liegt. An den Wänden hängen Poster: Innenansichten verfaulter Münder, entzündetes Zahnfleisch, die schwarzen Stümpfe verrotteter Zähne. Der Zahnarzt stolziert in seiner gemusterten Robe durch die improvisierten Räume und wirkt dabei ebenso fröhlich und würdevoll, wie seine Besucher nachdenklich und mutlos scheinen. Seine Zähne sind groß, weiß und gerade, weshalb er sein Lächeln nicht unterdrücken kann. Es lauert an der Oberfläche und taucht immer wieder auf, wie ein im Wasser dümpelnder Gegenstand; dieses Lächeln lässt sich nicht versenken. Es sieht beinahe künstlich aus. Schwer zu sagen, ob es für ein glückliches Los – also den Zufall – steht oder für Fleiß und harte Arbeit. Der Mann ist offenbar zufrieden, aber war er das immer schon? Sein Praxiskollege hat Zähne so grau und engstehend wie Grabsteine auf einem überfüllten Friedhof, seine Miene ist verständig und besonnen und sein schäbiger Kittel zerknittert. Der äußere Anschein legt nahe, dass der eine Mann Erfahrungen mit dem Scheitern gesammelt hat und der andere nicht. Aber woran will man das festmachen? Und was wäre besser: jemandem ausgeliefert zu sein, der den Schmerz kennt, oder jemandem, der ihm bislang aus dem Weg gehen konnte? 

Der Zahnarzt kramt im Besteck auf dem Tablett, die Helferinnen nähern sich. Er, eine dunkle Gestalt vor dem hellen Fenster, beugt sich herunter. Im sonnendurchfluteten Raum ist es still, und plötzlich entsteht eine aurale Durchlässigkeit, hinter der ein Geräuschteppich zum Vorschein kommt, so fein gewirkt wie ein durch klares Wasser betrachteter Meeresgrund: das Brummen vorbeifahrender Autos, Hundegebell, heisere Möwenschreie, Gesprächsfetzen von unten auf dem Bürgersteig, Musik, die irgendwo spielt, Telefonklingeln, das Klappern von Töpfen und Pfannen in einer fernen Restaurantküche, ...

Erscheint lt. Verlag 6.4.2020
Übersetzer Eva Bonné
Sprache deutsch
Original-Titel Aftermath
Themenwelt Literatur Biografien / Erfahrungsberichte
Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte alleinerziehend • Ehe • Eltern • Elternschaft • Entscheidungen • Familie • Feminismus • Gleichberechtigung • Karriere • Krise • Leben • Lebenskrise • Lebensplan • Lebensplanung • Lebensweg • Memoir • Mutterschaft • neues Buch • Regretting Motherhood • Scheidung • Selbstbefragung • Sexualität • ST 5259 • ST5259 • Streit • suhrkamp taschenbuch 5259 • Trauer • Trennung • Weiblichkeit
ISBN-10 3-518-76461-6 / 3518764616
ISBN-13 978-3-518-76461-9 / 9783518764619
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