Berlin in hundert Kapiteln, von denen leider nur dreizehn fertig wurden (eBook)
288 Seiten
Ullstein (Verlag)
978-3-8437-2254-4 (ISBN)
Harald Martenstein, geboren 1953 in Mainz, ist ein deutscher Journalist und Autor. Seit 2002 schreibt er eine Kolumne für Die Zeit, die auch im Radio zu hören ist. Für seine Arbeit wurde er mit dem Egon-Erwin-Kisch-, dem Henri-Nannen- und dem Theodor-Wolff-Preis ausgezeichnet. 2023 erhielt er den Medienpreis für Sprachkritik der Gesellschaft für deutsche Sprache. Außerdem lehrt er an verschiedenen Journalistenschulen. Harald Martenstein lebt in Berlin und der Uckermark.
Harald Martenstein, geboren 1953 in Mainz, ist ein deutscher Journalist und Autor. Seit 2002 schreibt er eine Kolumne für "Die Zeit" . 2004 erhielt er den Egon-Erwin-Kisch-Preis. Er lehrt zeitweise an der Bundesakademie für kulturelle Bildung Wolfenbüttel und an der Henri-Nannen-Schule in Hamburg. Seit Herbst 2007 hat er auf radioeins vom RBB eine eigene Radiokolumne.
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Ins Scheitern verliebt
Die Berliner Mängelliste ist lang. Hier eine Kurzfassung.
Als wegen der Coronakrise die Berliner Spielplätze offiziell geschlossen wurden, erschienen in unserer Gegend Mitarbeiter des Bezirks und knoteten Baustellenbänder um die Gittertüren. Bei Spielplätzen, die nicht umzäunt waren, flochten sie ihr Flatterband um die Spielgeräte. Ein paar Tage später waren die Spielplätze zu Hotspots für gelangweilte Jugendliche geworden, sie saßen auf den Klettergerüsten, rauchten und chillten.
Nachdem der Bund die Schließung aller Spielplätze empfohlen hatte, machte Berlin erst mal gar nichts. Viele Familien wohnten in kleinen Wohnungen, hieß es, die Kinder bräuchten die Spielplätze, sicher ein bedenkenswertes Argument. Fünf Bezirke sahen es anders und schlossen ihre Spielplätze trotzdem. Die Empfehlung der Gesundheitssenatorin, beim Spielen Distanz zu wahren, war von den Kindern überraschenderweise nicht befolgt worden. Welchen Sinn aber könnte es haben, Kitas und Kindergärten zu schließen, wenn die Virenübergabe dann eben am Klettergerüst stattfindet? Der Regierende Bürgermeister hatte in den Tagen zuvor immer wieder einheitliches Handeln der Länder gefordert. Nun zeigte sich, dass er nicht mal im eigenen Gärtlein den föderalen Wildwuchs unter Kontrolle hatte. Am 10. März 2020, einem Dienstag, war längst klar, dass Corona eine schwierige Herausforderung würde und dass auch Berlin sich dazu wohl irgendwie verhalten musste. Der Senat tagte und beschloss, nichts zu tun. Michael Müller wollte, siehe oben, die nächste Ministerpräsidentenkonferenz abwarten. Wer weiß, aus welcher Richtung der Wind da wehen würde.
Der öffentliche Druck und der aus den eigenen Reihen, auch der SPD, wuchs allerdings ununterbrochen. Nun verkündete Müller, der öffentliche Nahverkehr werde eingeschränkt. Die Verkehrssenatorin ließ wissen, dass sie gegen diese Maßnahme sei. Am Freitag rang sich der Senat dazu durch, Bars und Kneipen zu schließen, allerdings erst in der darauffolgenden Woche. Berlin und seine Virenpopulation sollten vorher noch einmal ein gemeinsames Ausgehwochenende feiern. Anders sei das rechtlich gar nicht möglich.
Weil klar war, dass diese Party für lange Zeit die letzte sein dürfte, war es Freitagnacht überall rappelvoll. Am Samstag aber fiel dem Senat auf, dass in Bayern die Lokale bereits geschlossen waren, auf dem Wege der Verordnung, der auch Berlin zur Verfügung steht. Nun wurden die Kneipen also doch geschlossen. Auch an den Schulen und in den Kitas bekam das Coronavirus noch einmal eine faire Chance, sich auszubreiten. Geschlossen wurden sie nicht etwa am Montag, sondern erst am Dienstag. Nachdem am 15. April die Bundesregierung und die Ministerpräsidenten Lockerungen der Corona-Regeln vereinbart hatten, beschlossen 15 Länder bereits am nächsten Tag die notwendigen Verordnungen. Nur die Hauptstadt nahm sich Zeit bis zur darauffolgenden Woche.
Berlin, so viel steht fest, wird auch diesen Senat überleben. 2017 hatte die Stadt noch andere, überschaubarere Sorgen. Auf dem Boulevard Unter den Linden war hinter zerbeulten Absperrgittern ein roter Teppich ausgerollt, in der Staatsoper wurden Ehrengäste erwartet. Über sieben Jahre hatte sich die Restaurierung des Rokoko-Baus hingezogen, die Baukosten waren um das Doppelte auf mehr als 400 Millionen Euro gestiegen. Ein Untersuchungsausschuss hatte sich tief in den sumpfigen Boden gewühlt, auf dem das Musikhaus ruht, und dort die bekannte Berliner Mischung aus Hemdsärmeligkeit und Fatalismus gefunden. Tja, wurde halt ein bisschen mehr. Schicksal!
Zum Tag der Deutschen Einheit sollte nun endlich alles fertig sein und Wiedereröffnung gefeiert werden. Es reichte dann doch leider bloß zu einem »Präludium«. In ein paar Tagen, erfuhren die Gäste, müsse das Haus wieder schließen. Die Techniker waren nicht fertig geworden, es fehlten noch ein paar Freigaben der Behörden, vor allem die für den Brandschutz. Die zur Wiedereröffnung geplante Uraufführung musste bedauerlicherweise ebenfalls entfallen, der Komponist war erkrankt. Stattdessen wurde, als Provisorium zum Präludium, eine Tragödie geboten: Faust-Szenen von Schumann. Und so schallte an diesem Abend von der Bühne in den blattgoldenen Saal Berlins heimliche Hymne, gedichtet von Goethe: »Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis; das Unzulängliche, hier wird’s zum Ereignis.« Der Nachhall dieser Worte war durch eine kostspielige Anhebung des Daches um exakt 0,7 Sekunden verlängert worden.
Das ist Berlin. Was ist nur los hier?
Seit elf Jahren gibt es an der Freien Universität das »Institut für Schulqualität«, dort wurden allerhand Methoden zur Evaluation entwickelt. Trotzdem landet Berlin im deutschen Bildungsmonitor zuverlässig auf dem letzten Platz. Wer in Berlin über das Regierungsviertel hinaus spaziert, dem fallen überquellende Mülleimer ins Auge, Dreckhaufen auf den Straßen, verwahrloste Parks und tote Ratten. Die Bezirksämter schaffen es nicht, Geburtsurkunden zeitnah auszustellen, heiratswillige Paare campieren in der Morgendämmerung vorm Rathaus, Tote dürfen nicht unter die Erde, weil die Ämter überlastet sind. Die Zustellung einer Sterbeurkunde kann 38 Tage dauern, in Pankow überreichte ein Bote die Papiere in der letzten Sekunde bei der Trauerfeier in der Friedhofskapelle. Die Software, die im Standesamt jede Ansprache verweigert, heißt übrigens »Autista«. Der Hersteller beteuert, überall anderswo funktioniere sie. Bloß nicht in Berlin.
Selbstverständlich verlief auch die Bundestagswahl 2017 nicht störungsfrei: 46 Hausmeister hatten sich geweigert, einen außerplanmäßigen Sonntagsdienst anzutreten und die zu Wahllokalen umfunktionierten Schulen aufzuschließen. Erst zwei Tage vor Ultimo wurde gemeldet: »Die Wahl ist gesichert.« Eine Schlagzeile, die es nur in Berlin gibt und die dann doch ein bisschen voreilig war. Aus ganz Deutschland lagen die Ergebnisse vor, da wurde in Berlin noch immer gezählt – wegen »Softwareproblemen«. Am frühen Morgen meldete dann auch Pankow Vollzug.
Was stimmt nicht mit Berlin?
Diese Stadt ist ins Scheitern regelrecht verliebt, könnte man sagen. Und trotzdem verlieben sich immer mehr Menschen in diese Stadt. Zum Beispiel wir, die Autoren dieses Buches. Seit Jahrzehnten leben wir hier, arbeiten als Kolumnist und Chefredakteur beim Tagesspiegel, verfolgen und beschreiben den alltäglichen Wahnsinn dieser Metropole und ihre Unzulänglichkeiten, die nicht selten das Ergebnis von organisierter Unzuständigkeit sind. Hier dauert es drei Jahre, einen Zebrastreifen auf die Straße zu pinseln. Vier Jahre, die Statik einer Ampel zu berechnen. Sieben Jahre, eine Oper zu sanieren. Auch die Pergamon-Baustelle auf der Museumsinsel wird zur Permanentbaustelle, ein Monument ihrer selbst, mit mehreren Jahren Verzug und der obligatorischen Kostenverdoppelung. Ursache soll ein historisches Pumpwerk sein, das der unterirdischen Arbeit im Wege steht. Und, nicht zu vergessen, hier braucht man mehr als ein Jahrzehnt, um einen Flughafen zu bauen. Vor acht Jahren platzte die geplante Eröffnung, wir haben unsere Einladungskarten zur Party noch.
Dass die Stadt Probleme hat, einen Flughafen zu bauen oder eine Oper zu sanieren, wäre erträglich, wenn wenigstens die tausend kleinen Dinge des Alltags funktionierten, etwa die Anmeldung eines neuen Autos. So etwas kann hier viele Wochen in Anspruch nehmen. Die Autohändler bekommen die verkauften Modelle nicht vom Hof, die Käufer wissen nicht, wohin damit. Auch der Neubau von Wohnungen, dringend nötig, verläuft ähnlich schleppend wie das Flughafenprojekt, obwohl guter Wille zumindest bei einigen der handelnden Personen vorhanden zu sein scheint.
Nirgendwo sonst in Deutschland sind die Wartezeiten beim Bürgeramt länger, die Schulen maroder, die Baustellen chaotischer, die Verantwortlichkeiten verworrener als bei uns in der Bundeshauptstadt. Hebammen warnen Hochschwangere vor Berlinbesuchen, im Ernstfall gibt es womöglich keine Betten und Ärzte. Wohnungsangebote finden sich kaum. Als Ersatzangebot gibt es, reichlich und gratis, Bannflüche der Berliner Politiker gegen die Profitgier privater Investoren. Die Bausenatorin etwa sagt: »Wir leben bis zum Hals im Kapitalismus. Das ist das Problem.«
Aber im Sozialismus war’s hier auch nicht so doll. Und jetzt? Die FDP hat den Senat gefragt, ob er die Meinung der Senatorin zum Kapitalismus teile. Die Antwort lautete: »Der Senat hat sich zu diesem Grundproblem noch keine abschließende Meinung gebildet.« Wir werden uns also auch hier gedulden müssen.
Viele Berliner haben den Eindruck, dass sie und ihre profanen Bedürfnisse von den Regierenden regelrecht verachtet werden. Denen geht es offenbar um höhere Ziele als um Geburtsurkunden oder Mülleimer. Welche Ziele das sein könnten, weiß niemand. »Kiffen und den Verfassungsschutz abschaffen«, sagte der Innensenator über seine politischen Fernziele, als er glaubte, dass niemand ihm zuhört.
Die Verachtung ist mittlerweile gegenseitig. An der Potsdamer Brücke wurde 2019 wegen Bauarbeiten die Abbiegespur gesperrt, nur Busse durften durch. Alle anderen mussten einen lästigen Umweg in Kauf...
Erscheint lt. Verlag | 2.6.2020 |
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Verlagsort | Berlin |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Comic / Humor / Manga |
Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft | |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung ► Staat / Verwaltung | |
Schlagworte | 4 blocks • 70er • 80er • 90er • Airbnb • Ämter • BBI • BER • Berlin • Berlin Mitte • Bürgeramt • Busse • Charlottenburg • Checkpoint • Claire Waldoff • Dealer • Die Linke • Drogen • E-Scooter • Florian Schmidt • Flughafen • Gentrifizierung • Görlitzer Park • Grüne • Havel • Heinz Buschkowsky • Hertha BSC • Hipster • Impfgegner • Infrastruktur • Köpenick • Kreuzberg • Lichtenberg • Linke • Mauerfall • michael müller • Mieten • Müll • Neukölln • Pankow • Peter Fox • Pleite • Politikverdrossenheit • Potsdamer Platz • Prenzlauer Berg • S-Bahn • Schloss • Senat • Skandale • Spandau • SPD • Spree • Steglitz • Tagesspiegel • taz • Tegel • Tourismus • Touristen • U-Bahn • Union Berlin • Verkehr • Verrohung • Verwaltung • Wedding • Wilmersdorf • Wowereit |
ISBN-10 | 3-8437-2254-4 / 3843722544 |
ISBN-13 | 978-3-8437-2254-4 / 9783843722544 |
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