Teufelsberg (eBook)

Kriminalroman
eBook Download: EPUB
2021 | 1. Auflage
384 Seiten
Ullstein (Verlag)
978-3-8437-2316-9 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Teufelsberg -  Lutz Wilhelm Kellerhoff
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Wer plant einen antisemitischen Anschlag? Westberlin, Ende der Sechzigerjahre: Die Frau eines Richters wird brutal erwürgt. Berlin ist in Aufruhr. Denn die Tote war Jüdin, und der Richter erhielt Morddrohungen von der radikalen Linken um Dieter Kunzelmann. Aber war es wirklich ein politisch motivierter Mord? Und was planen die Täter als nächstes? Kommissar Wolf Heller arbeitet eng mit der Nichte der Toten zusammen, der smarten Amerikanerin Louise Mackenzie. Es verdichten sich die Hinweise, dass ein Attentat auf die jüdische Gemeinde geplant ist. Doch bevor Wolf Heller die Verdächtigen festnehmen kann, überschlagen sich die Ereignisse: Louise wird entführt, und Heller bleibt nicht viel Zeit, die Katastrophe zu verhindern. »Die drei Autoren haben einen spannenden Kriminalfall mit einem packenden Zeitporträt gekreuzt. Klasse Lektüre.« Münchner Merkur über Die Tote im Wannsee

Martin Lutz (1969) und Sven Felix Kellerhoff (1971) sind von Beruf Journalisten. Uwe Wilhelm (1957) ist Drehbuchautor und Schriftsteller. Kriminalität, Geschichte und Geschichten sind schon seit Jahren ihre Passion. Alle drei leben in Berlin.

Martin Lutz (1969) und Sven Felix Kellerhoff (1971) sind von Beruf Journalisten. Uwe Wilhelm (1957) ist Drehbuchautor und Schriftsteller. Kriminalität, Geschichte und Geschichten sind schon seit Jahren ihre Passion. Alle drei leben in Berlin.

Eins


20. bis 21. Juli 1969

Mehrfamilienhäuser und nördlich eine Villensiedlung. Kaum jemand auf der Straße. Die zwei Frauen, die aus dem 4er-Bus ausstiegen, flüchteten vor dem Regen in einen Hauseingang. Die Gegend lag ruhig. Nur aus dem Haus auf der anderen Straßenseite war immer wieder Babygeschrei zu hören. Seit dem Nachmittag regnete es, als wollte Petrus den Wannsee über Berlin ausleeren. Weil das Faltdach seines Karmann Ghia undicht war, saß Wolf Heller auf dem Beifahrersitz und fluchte still vor sich hin. Im letzten Herbst hatte ihm jemand das Vorgängermodell abgefackelt. Ein wunderschönes Exemplar in Blau mit weißen Ledersitzen. Zwei Monate hatte er warten müssen, bis die Versicherung endlich gezahlt hatte. Anschließend hatte er sofort wieder einen Karmann Ghia gekauft. Das gleiche Modell 14. Diesmal in Weiß mit roten Sitzen. Wieder mit Faltdach. Und wieder hatte irgend so ein Dreckskerl das Dach aufgeschlitzt. Bei dem alten war es wenigstens noch die rechte Seite gewesen. Jetzt war es die Fahrerseite. Wenn er den Kerl erwischen sollte, würde er ihm den Hals umdrehen.

Er sah auf die Uhr. 20:50. Um sechs hatte er die Schicht übernommen. Bis jetzt war nichts passiert, was für die Observation relevant war. Wieder so eine sinnlose Aktion. Als ob sie nichts Besseres zu tun hatten, als im Wagen zu sitzen und sich die Nacht um die Ohren zu schlagen. Nur zwei Einträge.

18:05 Uhr. Übernahme des Postens von KOK Nowak.

19:47 Uhr. Bewohnerin aus dem zweiten Stock verlässt das Haus.

Seitdem waren die Fenster in der Villa Reichsstraße 13 dunkel. Ein protziger Bau aus der Zeit der Jahrhundertwende. Über dem Eingang wachten zwei halbnackte Figuren, die Schild und Speer in den Händen hielten. Die Fenster in der Beletage reichten bis zum Fußboden, der Mittelteil wölbte sich wie ein Bauch nach außen. Dort wohnte Joachim Hirsch, Präsident des Amtsgerichts Tiergarten, mit seiner Ehefrau Rebecca, Malerin. Keine Kinder.

Vor einer Woche hatten Linksradikale in einem Flugblatt einen Bombenanschlag auf Hirsch angekündigt, weil der im September vergangenen Jahres den Studenten Karl-Heinz Pawla zu zehn Monaten ohne Bewährung verurteilt hatte. Pawlas Vergehen hatte darin bestanden, im Kriminalgericht Moabit auf den Richtertisch geschissen zu haben. In der Akte stand: Der Angeklagte gibt die Tat zu und lässt sich wie folgt ein: Er habe die Scheiße konkret machen wollen. Deshalb habe er Abführtabletten eingenommen, deren Wirkung er vorher ausprobiert habe. Er ärgere sich nur, dass er das komische Barett auf dem Richtertisch nicht erwischt habe. Auf dem Flugblatt war Pawla abgebildet, wie er mit heruntergelassener Hose auf einem Tisch hockte. Daneben ein Foto von Hirsch. Darunter stand Manchmal fliegt einem Richter die Scheiße doch noch um die Ohren und Den Hirsch muss man erlegen, sagt der Jägersmann. Unterschrieben war das Ding von Umherschweifende Haschrebellen, schwarze Ratten. Heller hatte keine Ahnung, wer dahintersteckte.

Als das Flugblatt aufgetaucht war, hatte Innensenator Kurt Kutte Neubauer die Leiter von Verfassungsschutz, Staatsschutz und der Kripo in sein Büro zitiert und gesagt, dass ein Attentat unter allen Umständen verhindert werden müsse. Nicht nur, weil Hirsch zur Berliner Gesellschaft gehörte, sondern auch, weil er Jude und Kantor in der Synagoge in der Joachimstaler Straße war. Und weil fünfundzwanzig Jahre nach Auschwitz keine Juden mehr umgebracht werden sollten. Das hatte Neubauer nicht genau so gesagt, aber gemeint. Wieso allerdings die Mordermittler hier zuständig sein sollten, hatte bisher niemand Heller erklären können. Angeblich wegen Personalmangel. Der Staatsschutz observiert tagsüber, die Keithstraße nachts, hieß es lapidar. Na klar, wie sollte es auch anders sein. Sie waren mal wieder die Deppen.

Ausgerechnet dann, wenn Neil Armstrong als erster Mensch den Mond betreten sollte. Der Mann war zusammen mit Edwin Aldrin und Michael Collins 384.000 Kilometer weit zum Mond geflogen. In ein paar Stunden würde es so weit sein. Seit dem Mittag übertrugen sie im SFB das Spektakel. Wenn Heller das Gequatsche im SFB nicht mehr ertrug, schaltete er um zum RIAS. Da liefen ausschließlich Songs, die was mit dem Mond zu tun hatten. Space Oddity von David Bowie, Moon River von Audrey Hepburn, Fly Me To The Moon von Frank Sinatra, Under The Moon Of Love von Curtis Lee. Auch nicht besser. Im Rückspiegel sah Heller, wie ein weißer Porsche angerauscht kam und mit mindestens 90 Stundenkilometern an ihm vorbei stadtauswärts raste. Unter anderen Umständen wäre er dem Idioten hinterhergefahren und hätte ihn aus dem Verkehr gezogen.

21:15 Uhr. Keine besonderen Vorkommnisse. Regnet immer noch.

Bei der Einsatzbesprechung vor einer Woche hatte sein neuer Chef Friedrich Hartmann gesagt, dass sie im Rathaus Schöneberg extrem nervös seien. Die Bombendrohung hatte nämlich einen Vorlauf. Vor zwei Jahren waren am 22. Mai 1967 bei einem Brand im Brüsseler Kaufhaus À l’innovation 322 Menschen ums Leben gekommen. Danach hatten irgendwelche Idioten schon einmal Flugblätter verteilt. Ein Kaufhaus mit brennenden Menschen vermittelte zum ersten Mal in einer europäischen Großstadt jenes knisternde Vietnamgefühl (dabei zu sein und mitzubrennen), das wir in Berlin bislang noch missen müssen … Wenn es irgendwo brennt in der nächsten Zeit, wenn irgendwo eine Kaserne in die Luft geht, wenn irgendwo in einem Stadion die Tribüne einstürzt, seid bitte nicht überrascht. Dann hatten Andreas Baader und Gudrun Ensslin am 2. April 1968 zwei Kaufhäuser in Frankfurt am Main in Brand gesteckt.

Den Kaffee in der Thermoskanne hatte er schon um halb acht ausgetrunken. Heller spürte, wie ihn eine bleierne Müdigkeit überkam. Die letzten Nächte, seit Paula aus dem Krankenhaus raus war, hatte er kaum geschlafen. Und wenn, war es ein Schlaf gewesen, der sich wie Ertrinken anfühlte. Er hätte aus seinem Wagen aussteigen und sich die Beine vertreten können. Aber der Leiter der Mordinspektion hatte die observierenden Kollegen in seiner grenzenlosen Weisheit dazu verdonnert, das Fahrzeug nicht zu verlassen. Wenn man pinkeln musste, sollte man in eine Flasche pinkeln. Wenn die Flasche voll war, sollte sie neben dem Wagen ausgeleert werden. Heller konnte aber nicht in die Thermoskanne pinkeln, weil er sie brauchte, um das verdammte Wasser aufzufangen, das durch das verdammte Faltdach tropfte. Was bei einem großen Geschäft zu tun war, hatte Manteufel nicht gesagt. Auch nicht, was man tun sollte, wenn irgendwo ein Baby schrie. Ununterbrochen.

Heller sah zu dem Haus hin, aus dem das Geschrei herübergeweht wurde. Er hatte die entsprechende Wohnung schon vor einer Stunde lokalisiert. Haus Nummer 93 auf der anderen Straßenseite. Vierter Stock. Wieso kümmert sich niemand um das Kleine, fragte er sich schon die ganze Zeit. Er konnte vieles ertragen. Männer, denen man den Kopf zu Brei geschlagen hatte, Frauen in Einzelteilen, Leichen in allen erdenklichen Zuständen und Stadien der Verwesung. Das alles steckte er weg. Aber kein Kindergeschrei. Er stellte sich vor, wie jemand das Kind quälte. Hinter einem Fenster, das dunkel war, wehte sachte eine Gardine. Nicht mehr lange und er steigt aus, geht in das Haus und tritt jemandem in den Hintern. Er wird die Mutter oder den Vater oder wen auch immer fragen, warum sie sich nicht um das Baby kümmern. Er wird ihnen mit dem Jungendamt drohen. Ganz einfach. Und trotzdem wird er es nicht machen. Denn wenn er jetzt aussteigt, jagen die Linken in der Zeit, in der er nicht in seinem Wagen sitzt, das Haus Nummer 13 in die Luft, und dann macht Manteufel ihm die Hölle heiß.

21:39 Uhr. Mann mit Handwagen steckt Werbung in die Briefkästen.

Die Landefähre Eagle hatte auf der Mondoberfläche aufgesetzt. Der Moderator sagte, dass vierundzwanzig Jahre zuvor die erste Atombombe in der Wüste von Alamogordo in New Mexico gezündet worden sei. Und dass es jetzt nicht um die Zerstörung der Erde ginge, sondern um die Entdeckung einer Zukunft. We came in peace for all mankind. Wir kamen in Frieden für die ganze Menschheit, stand angeblich auf der Plakette, die an der Trittleiter der Mondlandefähre von Apollo 11 angebracht war.

Am vergangenen Mittwoch hatte Heller mit den Kindern den Start der Saturn-V-Rakete im Fernsehen verfolgt. Jochen hatte sofort beschlossen, Astronaut zu werden. Astrid wollte wissen, wie eine Rakete bis zum Mond fliegen kann. Heller wusste es natürlich nicht. Wie sollte er auch. Er war Oberkommissar beim Kriminalreferat M in der Keithstraße, Abteilung M I, Mordinspektion, zuständig für Mord, Totschlag und erpresserischen Menschenraub. Da musste man so was nicht wissen. Aber er hatte versprochen, die Mondlandung gemeinsam mit ihnen anzuschauen. Und daraus wurde jetzt nichts.

22:17 Uhr. Taxi hält vor dem Haus Nummer 13. Rebecca Hirsch steigt aus. Alleine. Geht sofort ins Haus. Licht im Wohnzimmer in der Beletage. Von Ehemann keine Spur.

Das graue Flimmern des Fernsehschirms spiegelte sich im Fenster. Offensichtlich interessierte die Hirsch sich für Raumfahrt. Aber es passierte nichts. Aus irgendeinem Grund durfte Armstrong die Mondlandefähre nicht verlassen. Oder er wollte nicht. Heller...

Erscheint lt. Verlag 15.3.2021
Reihe/Serie Wolf Heller ermittelt
Wolf Heller ermittelt
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Historische Romane
Literatur Krimi / Thriller / Horror Krimi / Thriller
Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 1968 • 1968er • 1969 • Altachtundsechziger • Anschlag • Antisemitismus • Berlin 1968 • Berliner Polizei • Berlin Krimi • Brandanschlag • Bücher für die Coronavirus Zeit • Bücher für die Coronazeit • Bücher für die Covid19 Zeit • das Lesen geht weiter • DDR • Deutsche Geschichte • deutsche Krimiautoren • Deutsche Krimis • Deutsche Krimis &Thriller • Deutscher Krimi • Emanzipation • faschisten • Frauenbewegung • für Social Distancing • gegen Langeweile • Halle • Historischer Krimi 1960er • historischer krimi berlin • Historischer Roman • Historischer Roman Deutschland • Jude • Kalter Krieg • Kaufhausbrand • KGB • Kinderladen • Kommune • Krimi Reihe • krimi serie • Krimi-Serie • Lesen in der Coronakrise • Lesen in der Covid19-Krise • Lesen in Karantäne • Lesen in Quarantäne • Lesen während Shutdown • lieber Buch als Coronavirus • Lieber Buch als Covid19 • lieber Bücher als Corona • Martin Lutz • Mit Buch in Karantäne • mit Buch in Quarantäne • Mondlandung • Mord • politischer aufruhr • Politischer Krimi • Polizeiarbeit • Radikale • Revolution • Richter • SBZ • Sechzigerjahre • Sowjetunion • Spion • Spionage • Spionageabwehr • Staatsschutz • Stasi • Sven Felix Kellerhoff • Synagoge • Teufelsberg • Tupamaro • UdSSR • Uwe Wilhelm • Westberlin • West-Berlin
ISBN-10 3-8437-2316-8 / 3843723168
ISBN-13 978-3-8437-2316-9 / 9783843723169
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