Dornenthron (eBook)
432 Seiten
Verlagsgruppe Droemer Knaur
978-3-426-45658-3 (ISBN)
Boris Koch, Jahrgang 1973, brach das Studium von Geschichte und Literatur zugunsten des Schreibens ab. Er ist der Verfasser zahlreicher Bücher, u.a. der Drachenflüsterer-Saga und der Ycena-Dilogie um Dornenthron und Narrenkrone. Er war Mitbegründer der Berliner Lesebühne Das StirnhirnhinterZimmer und textet Comics. Heute lebt er zusammen mit der Autorin Kathleen Weise und der gemeinsamen Tochter in Leipzig. Seine Werke wurden mehrfach ausgezeichnet und in mehrere Sprachen übersetzt. www.boriskoch.de instagram.com/autorboriskoch
Boris Koch, Jahrgang 1973, brach das Studium von Geschichte und Literatur zugunsten des Schreibens ab. Er ist der Verfasser zahlreicher Bücher, u.a. der Drachenflüsterer-Saga und der Ycena-Dilogie um Dornenthron und Narrenkrone. Er war Mitbegründer der Berliner Lesebühne Das StirnhirnhinterZimmer und textet Comics. Heute lebt er zusammen mit der Autorin Kathleen Weise und der gemeinsamen Tochter in Leipzig. Seine Werke wurden mehrfach ausgezeichnet und in mehrere Sprachen übersetzt. www.boriskoch.de instagram.com/autorboriskoch
3
Noch eine ganze Weile starrte Gahadh hinauf, doch der Gaukler kehrte nicht zurück.
Elender Schwachkopf, dachte er und meinte sich selbst. Hättest du es ihm doch einfach versprochen. Du hast doch gar kein Kind.
Aber er wusste, dass es ihm damit nicht ernst war. Einen solchen Handel ging man nicht ein, niemals. Welcher Mensch forderte schon ungeborene Kinder? Noch konnte er sich vielleicht herausgraben. Noch konnte jemand anders kommen, der bereitwilliger half.
»Verdammte Hexerei«, brummte Gahadh, denn daran dachte er bei ungeborenen Kindern, und kroch zurück in den verschütteten Gang. Sein Knöchel pochte und stach; er war längst so dick geschwollen, dass Gahadh ihn nicht aus dem Schuh bekam, um ihn zu kühlen. Womit auch? Das wenige Wasser, das er besaß, brauchte er zum Trinken. Hier unter der Erde war es nicht ganz so heiß wie draußen, doch es hatte seit Wochen nicht geregnet, und der Sommer nahte.
Gahadh kroch über den knochenübersäten Boden zurück, und plötzlich fiel ihm auf, dass er nirgends einen Schädel sah, weder einen menschlichen noch einen von einem Tier. Mühsam richtete er sich auf und leuchtete mit der Fackel in alle Richtungen, ohne auch nur einen einzigen Schädel zu entdecken, nicht einmal den einer Maus oder eines kleinen Vogels.
Was hatte das zu bedeuten?
Hatte hier irgendwer lauter kopflose Leichen hinabgeworfen? Aber wozu? Oder hatte jemand die Köpfe später fortgeschafft? Hatte irgendwer sie gefressen und mitsamt den Knochen verdaut? Oder waren die Schädel zu unkenntlichem Staub zermahlen?
Alles Unsinn, dachte er, aber die Feststellung gefiel ihm nicht. Er steckte die Fackel zurück in die Halterung und löste den nächsten Stein aus dem Geröllhaufen. Mit Schwung warf er ihn in den Schacht hinaus und packte sofort den nächsten. Er musste den Gang freischaufeln, anders kam er hier nicht heraus.
Stein um Stein schleuderte er in den Schacht, aber es fanden sich nur immer neue Brocken, zerbrochene Ziegel und schwarze Erde; ein Ende war nicht auszumachen. Was, wenn der ganze Gang bis zum Tempel zugeschüttet war? Oder auch nur der halbe? So weit würde er es nie schaffen.
Wo sind die Schädel?
Einen kurzen Moment dachte er, er könnte mit all dem Geröll an der Schachtwand eine grobe Treppe aufschütten und über sie hinausklettern, aber natürlich war das Unsinn. Sie würde hundertmal einstürzen, bevor sie fertig wäre, und sowieso würde das viel zu lange dauern.
»Warum?«, brüllte er. »Ihr Götter, warum?«
Und damit meinte er alles zusammen. Warum hatte er den Wurfanker nicht eingesteckt? Warum war der Gang verschüttet? Warum war das elende Seil gerissen? Warum hatte nicht jemand mit klarem Verstand ihn schreien gehört, sondern der Gaukler?
»He!«, schrie er wieder. »Hallo?«
Nichts geschah.
Er dachte an den Gaukler und grub und grub und grub, bis seine Hände steif waren und jedes Stückchen Haut von Blut oder Schmutz bedeckt. Er grub mit steifen Fingern und zitternden Armen, bis er sie einfach nicht mehr heben konnte. Und noch immer war an ein Durchkommen nicht zu denken.
Die Sonne war untergegangen, der obere Schachtrand lag nun im Dunkeln, und das Licht der Fackel reichte nicht bis hinauf.
Leise löste Gahadh noch einen Stein aus dem Geröll, so leise wie möglich, denn in der Dunkelheit erwachten in Ycena Kreaturen, deren Aufmerksamkeit er nicht erregen wollte. Er konnte nur hoffen, dass sie sich woanders herumtrieben, dass sie ihn hier unten nicht entdecken würden – so wie niemand ihn entdeckte.
Den nächsten Brocken konnte er nicht mehr halten, er rutschte ihm aus den zitternden Händen und rollte einfach zu Boden. Dann erlosch die Fackel, und um Gahadh herrschte völlige Finsternis.
Erschöpft legte er sich hin, die Hände zitterten noch immer, der Mund war ausgedörrt. Er hatte nicht mehr genug Speichel, um den Staub von der Zunge zu spucken, aber den letzten Schluck im Wasserschlauch wollte er bis zum nächsten Morgen aufheben. Ausgelaugt tastete er nach dem Rucksack und bettete den Kopf darauf. Trotz seiner Schmerzen und obwohl er um die Kreaturen dort draußen wusste, schlief er beinahe sofort ein.
Er träumte von einem granitgrauen Lindwurm, dessen flackernder Schatten die Köpfe toter Menschen fraß. Auf seinem Rücken saß der Gaukler mit Gahadhs blutigem, totgeborenem Kind im Arm. Das Kind schrie und schrie, bis der Gaukler es lächelnd mit Wein aus einem riesigen Schlauch fütterte und gurrte: »Ruhig, Kleiner, ganz ruhig, dein Vater zahlt, er zahlt alles, was wir zu uns nehmen.« Knirschend knackte der Schatten des Lindwurms weitere Schädel, auch den von Gahadhs verstorbener Frau. Und Gahadh lag hilflos da und konnte nichts tun, denn er vermochte sich nicht zu rühren. Knochenstaub rieselte auf ihn herunter, das tote Kind rülpste und soff weiter, der Gaukler pfiff das Lied von Freiheit und wilden Nächten.
Zitternd erwachte Gahadh in der Dunkelheit, etwas Kleines kroch ihm übers Gesicht, größer als eine Fliege, vielleicht einer der zahlreichen Nachtsalamander, und er wischte es keuchend und fluchend fort.
»Nur ein Tier«, beruhigte er sich. Er sprach es aus, um sich in der Schwärze selbst zu hören, aber seine Zunge war so schwer und trocken, dass er sich nicht verstand. Die Luft schmeckte nach Staub.
Er tastete nach dem Wasserschlauch und nahm einen winzigen Schluck. Er dachte an das totgeborene Kind und Myniam und daran, dass er zuerst nicht begriffen hatte, dass das Blut ihres war, nicht das des Kindes. Er erinnerte sich, wie sie vor seinen Augen gestorben war, weinend und schreiend, weil ihr Kind tot war, weil nichts bleiben würde von ihr, und der Schmerz wallte mit solcher Heftigkeit in ihm auf, als sei das alles eben erst geschehen. Warum plagten ihn die Götter jetzt damit? War es nicht genug, ihn in ein Loch zu stürzen?
Er robbte in den Schacht hinaus, um zu sehen, ob die Sonne schon aufgegangen war, aber es herrschte Dunkelheit. Aufmerksam lauschte er in die Stille der Nacht, hörte jedoch nichts. Zu rufen wagte er nicht.
Entschlossen kroch er zurück, packte den Dolch und arbeitete im Dunkeln weiter. Schlafen wollte er nicht mehr, Schmerz und Müdigkeit waren weniger schlimm als seine Träume.
Er sehnte sich nach Wein.
Stein um Stein löste er aus dem Haufen und ließ die Brocken möglichst behutsam zu Boden gleiten, um so wenige Geräusche wie möglich zu machen. Er musste es allein schaffen. Er arbeitete wie in Trance, seine Gedanken kreisten.
Wo waren die verdammten Schädel?
Und wer war der Gaukler? Praktizierte er geächtete Hexerei, wie sie früher ausgeübt worden war? Hexerei wie die, die zum Ende des Kaiserreichs geführt hatte? Oder war er gar kein Mensch, sondern ein Geistwesen, ein Gott oder doch nur eine Einbildung? In Ycena, der hexereiverseuchten Ruinenstadt, war alles möglich. Vielleicht war er auch bloß ein gewöhnlicher Menschenhändler und wollte das Kind einfach weiterverkaufen?
Ein Kind, das es überhaupt nicht gibt!
Der Knöchel schmerzte bei jeder Bewegung mehr.
Gahadh wollte nicht hier unten zugrunde gehen, nicht unbestattet zwischen all den anderen Knochen zerfallen, bis niemand ihn mehr erkennen würde. Er wollte überhaupt nicht sterben, sondern leben.
Leben!
Doch das Geröll wollte kein Ende nehmen.
Gahadh ertappte sich dabei, dass er auf die Ankunft des Gauklers wartete. Natürlich war es verwerflich, sein erstgeborenes Kind zu verkaufen, aber er hatte doch überhaupt keines. Wen wollte er schützen? Warum sollte er für ein Kind sterben, das es überhaupt nicht gab?
Wer hatte etwas davon, wenn er hier verreckte? Wenn ihm die Bestattung verweigert wurde wie einem gehenkten Mörder?
Schmerz und Erschöpfung ließen ihn nicht klar denken, die Dunkelheit und die stickige Luft fraßen an ihm, er wollte nur noch hinaus und leben.
Leben! Immer wieder dachte er: Leben!, während er grub und grub.
Das tote Kind konnte nicht gemeint sein, und was interessierten den Gaukler seine Nachkommen? Gahadh war weder Fürst noch König, er war ein Niemand, über dessen Blutlinie sich niemand Gedanken machte.
Er hatte ja nicht einmal eine Frau, obwohl er fast dreißig Jahre zählte. Seit Myniam hatte es keine mehr mit ihm ausgehalten und er mit keiner. Nie wieder hatte er für irgendwen auch nur annähernd das empfunden, was er für sie empfunden hatte. Bis gestern hatte er nicht daran gedacht, Vater zu werden, und jetzt wollte er sich für ein Kind opfern, das es nicht gab. Warum?
Es ist eine Prüfung, dachte er plötzlich, die Götter wollen mich prüfen, ob ich standhaft bleibe. Aber warum sollten sie gerade ihn für diese Prüfung auswählen? Viel eher war der Gaukler ein Drecksack, der sich einen Scherz auf seine Kosten erlaubte. Es war bedeutend wahrscheinlicher, einem Drecksack zu begegnen als einem Gott.
Gahadh wühlte sich weiter und weiter, dachte an die Frauen, die er nicht geheiratet hatte, und sagte sich, er könne gut ohne Frau auskommen, wenn er nur weiterleben dürfe.
Keine Hochzeit, keine Kinder. Er würde nur noch zu Prostituierten gehen. Sollte eine von ihnen schwanger werden und das Kind tatsächlich austragen, würde niemand wissen, wer der Vater war. Ein solches Kind würde niemand anerkennen, auch Gahadh nicht, ein solches Kind war immer vaterlos, das konnte der Gaukler sich nicht holen. Nicht, wenn er Gahadhs Kind wollte.
Was, wenn er mittels Hexerei doch den Vater erkennen könnte?, flüsterte eine Stimme in ihm. Wenn es ihm allein um Abstammung und nicht um Anerkennung geht? Schnell unterdrückte er die Frage. Der Dolch rutschte ab, und Gahadh quetschte sich den Daumen...
Erscheint lt. Verlag | 27.3.2020 |
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Reihe/Serie | Die Dornen von Ycena | Die Dornen von Ycena |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Fantasy / Science Fiction ► Fantasy |
Schlagworte | 13 Königreiche • Abenteuer • Armut • Befreiung • Dark Fantasy • Dark Fantasy Bücher • Der Kindersammler • Dornröschen • dreizehn Königreiche • düstere Fantasy Bücher • düstere Märchen • düsteres Märchen • Fantasy Bücher Erwachsene • Fantasy Märchen • fantasy romane für erwachsene • Geschenk Märchen • High Fantasy • High Fantasy Bücher • König • Königreich • König Tiban • Macht • Märchen • Märchenadaption • Märchen Fantasy • Märchen neu erzählt • Märchen-Neuerzählung • Neuerzählung • Neuinterpretation • Neuinterpretation Dornröschen • Neuinterpretation Märchen • Rebellion • Rettung • Suche • Tyra • Tyrann • Tyrannei • Ukalion • Ycena • Zerfallenes Königreich |
ISBN-10 | 3-426-45658-3 / 3426456583 |
ISBN-13 | 978-3-426-45658-3 / 9783426456583 |
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