13 SHADOWS, Band 43: DER HORROR-TRIP (eBook)
CLVIII Seiten
BookRix (Verlag)
978-3-7487-3214-3 (ISBN)
Zweites Kapitel
Am Morgen stellte er fest, dass sich das Schulhaus nicht dort befand, wo es eigentlich hätte sein müssen, nämlich in der Ipswich Road. Tatsächlich stand es Wand an Wand mit seiner Unterkunft, ohne dass auch nur ein einziger Mensch in Salem Village ein Wort darüber verlor. Andrew ahnte nicht, wann und weshalb diese Veränderung stattgefunden hatte. Meistens wurden Entscheidungen, die das Leben der Bevölkerung betrafen, im Versammlungsgebäude, das zugleich als Kirche diente, offen diskutiert, und häufig zogen sich diese Diskussionen wochen- und monatelang hin, wobei die Richtigkeit eines Gesichtspunkts selten den Ausschlag gab. Wichtiger war die Beharrlichkeit der einen oder anderen Partei. Die Einwohner dieses neuen Zion waren halsstarrig wie die Patriarchen im Alten Testament und noch streitsüchtiger. Das Gesetz diente ihnen ausschließlich als Instrument ihrer persönlichen Machtentfaltung, und folgerichtig prozessierte beinahe jeder gegen jeden. Im Allgemeinen ging es um Lappalien, aber manchmal stand mehr auf dem Spiel, zum Beispiel Landbesitz, und nur selten waren die Gegner mit einem Gerichtsurteil zufrieden, nicht einmal, wenn sie gewonnen hatten. Regelmäßig hatten sich die Sieger einen triumphaleren Erfolg erhofft, während die Unterlegenen auf Revanche sannen.
Andrew nahm die veränderte Situation kommentarlos zur Kenntnis, und Minuten später hatte er die frühere Lage der Schule aus seinem Gedächtnis verdrängt. Er stieß die Tür auf und trat in das leere Klassenzimmer. Er kümmerte sich um das Feuer in dem steinernen Kamin und vergewisserte sich, dass die Stühle und Tische in der richtigen Reihenfolge standen: vorn die kleinen für die jüngeren Kinder, weiter rückwärts die großen. Er war allein für den gesamten Unterricht zuständig, vom Alphabet bis zur Geometrie. Allerdings kamen für die anspruchsvolleren Fächer nur Söhne wohlhabender Väter in Betracht. Die übrigen Schüler wanderten ins Berufsleben ab, sobald sie halbwegs lesen, schreiben und rechnen konnten.
Andrew ging vors Haus und läutete die Schulglocke. Der Himmel war mit grauen Wolken bedeckt, und die Luft war so kalt, dass der Atem sich in Dampf verwandelte. Nach und nach trudelten die Kinder ein, einige laut und mit Gelächter, andere mit deutlichem Missvergnügen, wieder anderen - die älteren - mit einer steifen Würde. Andrew beschäftigte sie: die Oberstufe mit Geographie, die Mittelstufe mit Kopfrechnen, die Unterstufe mit einem Lesebuch.
Gegen Mittag schickte er die Kinder nach Hause, holte sich von nebenan Hut und Mantel und ging über die Straße zu Ingersoll. Nach dem Essen um ein Uhr war er wieder in seiner Schule, wenig später kehrten auch die Kinder zurück. Abermals Kontinente, Ziffern, läppische Texte. Als Thomas Heine, der zehnjährige Nachzügler eines Farmers, der schon fünf verheiratete Kinder hatte, sich mit dem großen Einmaleins plagte, fing es an zu schneien. Andrew trat zum Fenster und blickte hinaus.
»Es schneit«, sagte er abwesend. »Der Wind ist stärker geworden.«
Thomas Haine lachte albern, Andrew achtete nicht darauf. Er starrte auf die weißen Flocken und spürte ein tiefes Unbehagen. Der Schnee erinnerte ihn an etwas, das sich nicht in Worte fassen ließ. Jedes Mal wenn er zupacken wollte, verschwand es wie hinter einem Nebel. Gedankenlos ging er zur Tafel, griff sich ein Stück Kreide und zeichnete zwei große Kreise. Er deutete die Konturen der Erdteile an und wandte sich zu den Schülern um.
»Hier ist Europa«, sagte er tonlos und zeigte mit dem Finger. »Diese riesige Fläche ist Russland, die Gelehrten streiten sich, ob es zu Europa gehört oder nicht, und wir werden diesen Streit jetzt nicht klären. Weiß einer von euch, wo China liegt?«
Ann Putnam hob die Hand, Andrew nickte.
»China liegt neben Europa«, verkündete sie.
Andrew war mit dieser wenig präzisen Antwort zufrieden, er zeichnete China ein. Er forderte die Klasse auf, die Lage Nordamerikas zu beschreiben.
»Auf der anderen Seite des Meeres«, erklärte der älteste Schüler, »gegenüber von England. Aber Sie haben Amerika nicht so gemalt, wie es im Buch abgebildet ist..
»Ja.« Andrew besah sich seine Skizze. Die Konturen des nordamerikanischen Kontinents auf der Tafel wichen in der Tat erheblich von denen im Lehrbuch ab. Im Augenblick hätte er nicht sagen können, warum er sie anders dargestellt hatte. »Vielleicht bin ich klüger als das Buch.«
Die Kinder lachten. Andrew teilte Europa in Staaten ein, beschriftete Afrika, Südamerika und die Gewürzinseln. Abigail Williams erkannte Westindien wieder, ein anderes Kind die Hudson Bay. Andrew fügte den Nordpol hinzu, trat zwei Schritte zurück und betrachtete die beiden Erdhälften. Sein Werk gefiel ihm nicht; etwas fehlte. Spontan ging er noch einmal zu der Tafel und zeichnete unten in jede Erdhälfte einen Halbkreis ein und schrieb: Antarktis.
»Was ist das?«, fragte einer der älteren Jungen.
Andrew drehte sich nicht zu ihm um.
»Das steht doch, was es ist«, sagte er leise wie zu sich selbst. »Sie ist da, sie ist ganz im Süden der Welt...«
»In meinem Buch nicht!«, sagte der Junge energisch.
Andrew erwachte wie aus einem Traum. Er wandte sich zu dem Jungen um und fuhr sich müde mit der Hand über die Augen. Er warf die Kreide aufs Pult und lachte verlegen.
»Eines Tages wird sie auch in den Büchern sein«, sagte er. »Wir werden es erleben.«
Die Klasse schwieg. Andrew starrte wieder ins Schneegestöber, das eine hypnotische Wirkung auf ihn auszuüben schien, die Kinder hatte er vergessen. Endlich meldete Ann Putnam sich noch einmal zu Wort. Sie wollte wissen, wo Jerusalem lag. Andrew ging zu der Tafel und bezeichnete Jerusalem mit einem Kreuz.
Der seltsame Schwebezustand, in den das Schneetreiben ihn versetzt hatte, hielt bis spät in die Nacht an. Ruhelos marschierte Andrew in seinem Zimmer auf und ab und achtete nicht darauf, dass im Kamin das Feuer herunterbrannte und Kälte sich ausbreitete; er zermarterte sich das Gehirn nach einer Antwort auf eine Frage, die zu formulieren er nicht imstande war. Nach einer Weile ließ er sich am Tisch auf einen Stuhl fallen, aß Speck und Brot und spülte beides mit einem Schluck Whisky hinunter, dann fing er systematisch an zu suchen, ohne zu ahnen, wonach er suchte. Er durchstöberte die Truhe, die noch aus Maine stammte, aber sie enthielt nur Wäsche und Kleider. Er kramte in den beiden Schränken und durchwühlte die Schubladen einer Kommode. Was immer er suchte, es musste in dieser Hütte zu finden sein, dessen war er ganz sicher. Er zweifelte nicht daran, dass er es mitgebracht hatte. Schließlich kroch er auf Händen und Knien zum Bett und langte darunter und berührte mit den Fingerspitzen einen ledernen Gegenstand. Er zog ihn hervor und stellte fest, dass der Gegenstand eine Arzttasche war. Noch einmal griff er unters Bett und beförderte ein dickes Tagebuch zum Vorschein.
Er schleppte die Tasche und das Buch zum Tisch. Er war davon überzeugt, dass Tasche und Buch ihm gehörten. Auf dem Anhänger der Tasche und auf der Titelseite des Buchs stand ein Name: Paul Klee.
»Paul Klee«, flüsterte er. »Paul Klee...«
Er ging zum Kamin, fischte ein Stück Glut heraus und steckte eine zweite Kerze an. Missvergnügt stellte er fest, dass sein Gehirn nicht richtig funktionierte, sonst hätte er die zweite Kerze an der ersten anzünden können. Er steckte die Kerze in einen Leuchter und klappte das Buch auf.
Mechanisch setzte er sich wieder an den Tisch auf den Stuhl, der ein wenig zu klein für ihn war wie alles in diesem Haus, sogar die Balkendecke war zu niedrig. Wenn er stand, musste er den Kopf einziehen. Er. sah sich um und wunderte sich, dass er plötzlich seine Umgebung zur Kenntnis nahm, als wäre er nicht längst an sie gewöhnt. Er starrte dorthin, wo die wenigen Möbel standen. Das Licht reichte nicht so weit, trotzdem wusste er, dass sie da waren, dann atmete er tief ein, schlug die letzte Eintragung im Buch auf und las.
Montag, 15. Februar 2150: Eine entsetzlich unruhige Nacht, schließlich blieb mir nichts anderes übrig, als ein Somintab zu nehmen, dennoch fürchterliche Träume, an die ich mich indes jetzt bei Tageslicht nicht mehr erinnern kann. Ich hätte nicht herkommen sollen, hier sind zu viele Leute. Ein anderes historisches Gehege wäre vorteilhafter gewesen.
Andrew las die wenigen Zeilen immer wieder, dann stand er auf und ging zum Kamin und starrte in die Glut. Er war also Paul Klee, zugleich war er Roger Andrew, wenigstens hier in Salem Village. Er sagte einige Male den Namen Paul Klee vor sich hin. Endlich gab er sich einen Ruck, nahm ein kupfernes Tintenfass und eine frisch angespitzte Gänsefeder vom Kaminsims und kehrte an den Tisch zurück. Er setzte sich, tauchte die Feder in die Tinte und schrieb.
Montag, 15. Februar 1692: Alle übrigen Eintragungen in diesem Buch stammen aus dem Jahr 2150 und betreffen mein Leben zu jener Zeit. Die vorhergehende Eintragung habe ich erst heute Morgen gemacht, und zwar mit einem sogenannten Chemiestift, den Francis mir geschenkt hat, als ich im Januar aus dem Psychological Reorientation Center kam.
Er legte die Gänsefeder aus der Hand und überlegte, dann blätterte er weiter vorn im Tagebuch, um die Richtigkeit der Datumsangabe zu überprüfen. Er hatte sich nicht geirrt, er hatte den Stift am 7. Januar erhalten. Er schrieb weiter.
Offenbar ist mein Gedächtnis zuverlässiger, als ich bisher annahm, obwohl ich jetzt einen anderen Beruf ausübe und einen anderen Namen habe.
Abermals dachte er nach. Ihm dämmerte, dass...
Erscheint lt. Verlag | 18.3.2020 |
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Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Horror |
Literatur ► Romane / Erzählungen | |
Schlagworte | action • Apex-Verlag • eBook • E-Book • Gespenster-Krimi • Grusel • Heftroman • Hexen • Hexenprozesse • Hexer • Horror • Klassiker • klassisch • Neuausgabe 2020 • neuerscheinung 2020 • Pulp • Pulps • Reihe • Roman • Romane • Salem • Serie • Spannung • Thriller • Unterhaltung • Vampir-Horror-Roman • Zeitreise |
ISBN-10 | 3-7487-3214-7 / 3748732147 |
ISBN-13 | 978-3-7487-3214-3 / 9783748732143 |
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