»Male oscuro« (eBook)

Aufzeichnungen aus der Zeit der Krankheit. Traumnotate, Briefe, Brief- und Redeentwürfe
eBook Download: EPUB
2020 | 1. Auflage
272 Seiten
Piper Verlag
978-3-492-99608-2 (ISBN)

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»Male oscuro« -  Ingeborg Bachmann
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»Nun startet sie, die große Ingeborg-Bachmann-Gesamtausgabe: eine Schatztruhe für Bachmann-Süchtige.« Deutschlandfunk Kultur Diese überaus persönlichen Aufzeichnungen aus der Zeit der Krankheit manifestieren die literarische Versiertheit Ingeborg Bachmanns: Mutig, anstößig und geschlagen mit dem Wissen um das Unheilbare rücken bisher unveröffentlichten Traumnotate, Briefe und Redeentwürfe den Zusammenhang zwischen Leben und Schreiben ins Licht. In großer Offenheit erzählen sie von dem leidenschaftlichen Wunsch, aus der Krankheit herauszukommen. Il male oscuro heißt ein in den sechziger Jahren erschienener Roman von Giuseppe Berto. Er, sagt Ingeborg Bachmann, habe sie ermutigt, über die eigene Krankheit zu reden. Deshalb haben Gabriella Pelloni und Isolde Schiffermüller diesen Titel für die bisher unveröffentlichten Aufzeichnungen aus der Zeit der Krankheit gewählt.  »Male Oscuro« möchte Bachmanns nachgelassene persönliche Schriften, die jene Krankheit zum Gegenstand haben, mit Respekt vor dem Privatleben der Schriftstellerin würdigen und ihre Integrität nicht verletzen. Das bedeutet, gerade angesichts solcher selbstentblößender Texte, die Grundlagen zu deren Verständnis zu schaffen - und zugleich den Zusammenhang von Leben und Schreiben ins Licht zu rücken. So werden »Grund und Boden« des schreibenden Ichs verstehbar, denn in dieser Edition wird Bachmanns Leben, so schwierig und kaum auf den Begriff zu bringen es ist, ein signifikanter Stellenwert auch für ihre Werke eingeräumt. Das Leben-Wollen, ein Leben, das mehr als Überleben ist, es bildet den würdigsten Gegenstand jeder poetologischen Erforschung des Verhältnisses von biografischer Wirklichkeit und literarischer Fiktion.

Ingeborg Bachmann gilt als eine der bedeutendsten deutschsprachigen Lyrikerinnen und Schriftstellerinnen des 20. Jahrhunderts.  Sie wurde am 25. Juni 1926 in Klagenfurt, Österreich geboren. Bachmanns Karriere als Schriftstellerin Nach ihrem ersten Studienjahr in Innsbruck und Graz (1945/46) gelang ihr mit der Erzählung »Die Fähre« die erste Veröffentlichung. Sie setzte ihr Studium der Philosophie, Germanistik und Psychologie in Wien fort, wo sie unter anderen Paul Celan, Hans Weigel, Ilse Aichinger und Victor Kraft traf. Nach ihrer Promotion mit einer Dissertation über »Die kritische Aufnahme der Existentialphilosophie Martin Heideggers« im Jahr 1949 veröffentlichte sie erste Gedichte in der Zeitschrift Lynkeus und Erzählungen in der Wiener Tageszeitung. Bachmann arbeitete auch an einem ersten, unveröffentlichten und verschollenen Roman »Stadt ohne Namen«. Nach ihrem Studium arbeitete sie für den amerikanischen Sender Rot-Weiß-Rot und schrieb Dramen, Rundfunkessays und Hörspiele, darunter »Ein Geschäft mit Träumen« (1952), »Die Zikaden«(1955) und»Der gute Gott von Manhattan« (1958). Bachmanns Überzeugung, dass nur Literatur und Kunst die existenziellen Grunderlebnisse des modernen Menschen ausdrücken können, entstand aus der Perspektive der Wiener Schule, der neopositivistischen Wissenschaftstheorie ihres Doktorvaters Victor Kraft und der Sprachkritik Ludwig Wittgensteins. Ihre Beschäftigung mit Viktor E. Frankls psychotherapeutischer Forschung und ihrer Freundschaft mit dem Dichter Paul Celan, dessen Familie zu den Opfern des Holocaust gehörte, führten zu einer »tiefgreifenden Verwandlung ihres Denkens und Schreibens« im Sinne eines kritischen Ethos. Lyrik und Musik Bachmanns erster Lyrikband »Die gestundete Zeit« (1953), für den sie den renommierten Preis der Gruppe 47 erhielt, appellierte an das kritische Gewissen der Zeitgenossen angesichts des Kalten Krieges und der gesellschaftlichen Restauration. In ihrem zweiten Gedichtband »Anrufung des Großen Bären«(1956) kehrte sie zu traditionelleren lyrischen Formen zurück. Bachmanns Synthese von Zeitkritik, literarischer Moderne und lyrischer Tradition bildete die Grundlage ihres raschen Aufstiegs zur wichtigsten deutschsprachigen Dichterin der Nachkriegszeit. Auf Einladung des Komponisten Hans Werner Henze brach Bachmann im Sommer 1953 nach Italien auf, um dort eine Existenz als freie Schriftstellerin zu begründen. Die Freundschaft und Zusammenarbeit mit Henze, der sie insbesondere in die Welt der Oper einführt, schlägt sich u.a. in den Opernlibretti »Der Prinz von Homburg« (1958) und »Der junge Lord« (1965) sowie in theoretischen Überlegungen zum Verhältnis von Musik und Dichtung nieder. Die Rolle der Literatur in der Nachkriegszeit In den zehn Jahren nach dem Aufbruch aus Wien lebte sie in Rom, München, Neapel und Zürich und eröffnete im Wintersemester 1959/60 die Frankfurter Vorlesungen zur Problematik zeitgenössischer Dichtung. Dabei fasste sie ihre poetologischen Überlegungen erstmals systematisch zusammen und verortete sie im Prozess der Moderne literarhistorisch. Bachmann vertraute der Fähigkeit der Literatur, angesichts der verzweiflungsvollen »Dunkelhaft der Welt« unsere Möglichkeiten zu erweitern. Diese Haltung spiegelt sich in ihren Erzählungen des Bandes »Das dreißigste Jahr« wider. Beziehung mit Max Frisch Zwischen 1958 und 1962 waren sie das Traumpaar der deutschen Literatur. Die Trennung von Max Frisch 1962 fiel mit einer Lebenskrise zusammen, die den Ausgangspunkt für einen literarischen Neuansatz bildete. Die Erfahrungen von Schmerz und existenziellen Krisen fanden sich u.a. in ihrem »Todesarten«-Projekt. Am 17. Oktober 1973 starb Ingeborg Bachmann im Alter von 47 Jahren in Rom an den Folgen eines Brandunfalls.

Ingeborg Bachmann wurde am 25. Juni 1926 als erstes von drei Kindern des Volksschullehrers Matthias Bachmann (1895-1973) und seiner Frau Olga (geb. Haas, 1901-1998) in Klagenfurt (Österreich) geboren. Ihre Mutter stammt aus dem an ›Böhmen‹ und Ungarn grenzenden Niederösterreich, ihr Vater aus Obervellach bei Hermagor im Kärntner Gailtal, wo die Familie in Ingeborg Bachmanns Kindheit oft Ferien verbrachte. Dieser Kärntner Grenzraum im Dreiländereck Österreich-Italien-Slowenien repräsentiert für die Autorin später "ein Stück wenig realisiertes Österreich (...), eine Welt, in der viele Sprachen gesprochen werden und viele Grenzen verlaufen" (WIV, 302), und damit die Utopie eines gewaltfreien Miteinanders der Völker, die bereits der ebenfalls in Klagenfurt geborene Autor Robert Musil (1880-1942), Bachmanns wohl wichtigster Bezugspunkt in der literarischen Moderne Österreichs, mythisierend auf das Kaiserreich Österreich-Ungarn als Vielvölkerstaat projiziert hatte. Noch in dem Roman Malina steht dieses "Haus Österreich" als literarische Utopie für eine "geistige Formation", die kritisch gegen die Verkrustungen der österreichischen Nachkriegsgesellschaft und gegen die Verdrängung des österreichischen Anteils an der Katastrophe des Nationalsozialismus gewendet wird, um zugleich gegen die wachsende kulturelle Dominanz Westdeutschlands einen spezifisch österreichischen "Erfahrungsfundus, Empfindungsfundus" zu behaupten.  Rückblickend nach dem Erscheinen des Romans Malina (1971) hat die Autorin den "Einmarsch von Hitlers Truppen in Klagenfurt" (im Rahmen des ›Anschlusses‹ Österreichs an das Deutsche Reich am 12.  März 1938) symbolisch zum biographischen Ausgangspunkt ihres Schreibens erklärt und als "einen zu frühen Schmerz" bezeichnet, mit dem ihre "Erinnerung" anfange. Mit dieser Pointierung unterstreicht sie die moralische Verpflichtung und zeitkritische Ausrichtung ihres literarischen Werks als ein "Schreiben gegen den Krieg" (Höller 2004), das seine "Problemkonstanten" in der Auseinandersetzung mit den Verflechtungen von ›kleiner‹ und "großer GESCHICHTE" (TKA 1, 53), Individual- und Zeitgeschichte im Zeichen gesellschaftlicher Gewalt findet.  Bachmann beginnt schon als Schülerin in Klagenfurt zu schreiben, bis ihr nach ihrem ersten, in Innsbruck und Graz verbrachten Studienjahr (1945/46) mit der Erzählung Die Fähre schließlich die erste Veröffentlichung gelingt. Im September 1946 vollzieht sie den eigentlichen Aufbruch aus der Provinz, indem sie ihr Studium der Philosophie (mit den Nebenfächern Germanistik und Psychologie) in Wien fortsetzt, wo sie zugleich den Kontakt zur Wiener Literaturszene sucht. Aufgrund der offiziellen Anerkennung Österreichs durch die Alliierten als das ›erste Opfer Hitler-Deutschlands‹ konnte das literarische Leben in Wien nach 1945 unmittelbarer als in Deutschland an die Vorkriegszeit anknüpfen, und so haben Repräsentanten der älteren Autorengeneration wie Heimito von Doderer (1896-1966) und jüdische Remigranten wie Hermann Hakel (1911-1987) und Hans Weigel (1908-1991) an Bachmanns literarischem Debüt in den Publikationsorganen der Wiener Nachkriegsliteratur wesentlichen Anteil. Das Jahr 1949 markiert mit Bachmanns Dissertation über Die kritische Aufnahme der Existentialphilosophie Martin Heideggers nicht nur den Abschluss des Studiums, sondern auch die Professionalisierung ihrer schriftstellerischen Arbeit durch die Veröffentlichung erster Gedichte in der Zeitschrift Lynkeus und einer Reihe von Erzählungen in der Wiener Tageszeitung.

[27.][164]


 

Sehr geehrte Herren,

 

ich habe darum gebeten, zu Ihnen sprechen zu dürfen, weil mir zum Bewußtsein gekommen ist, daß Sie zwar, und mit allen Erfahrungen und Ihrer Sachkenntnis, über eines der heikelsten Gebiete sprechen, ohne wahrscheinlich je die Geschichte eines Patienten angehört zu haben. Ich kenne heute unzählige Krankengeschichten, ich habe viele Kranke gesehen und ich war einer dieser Kranken, über die Sie zu befinden haben, die Sie zu heilen haben.

Nun haben Sie aber das Unglück, von der andren Seite wenig zu erfahren, von der des Patienten oder des Ex-Patienten, weil die meisten wohl nicht über Sprache verfügen oder nicht fähig sind, zu formulieren, und weil, wie es bei Kafka[165] heißt, uns ja die Scham überlebt.

Mit meiner Geschichte, die nicht übler ist als so viele andre, werde ich Sie nicht belästigen, sondern ich möchte über Sie sprechen, die Ärzte, und weil ich die größte Hochachtung vor all den Bemühungen habe, den gütigsten, die ich erfahren habe, mit der gebotenen Kritik. Ich habe zum erstenmal daran gedacht, mich zu äußern, nachdem ein italienischer Schriftsteller, den ich ein wenig kenne, jahrelang verschollen war für alle seine Freunde, ein Buch geschrieben hat. Il male oscuro[166]. Auch wenn Sie nicht italienisch können, – ich muß Ihnen den Titel nicht übersetzen. Es ist ein autobiographischer Roman, eine Odyssee eines Mannes, der sieben Jahre lang von einem Arzt zum anderen irrt, mehrmals operiert, am Ende, trotz seiner Intelligenz bei Kurpfuschern, Magnetiseuren etc. endet, bis er in die Hand eines Psychotherapeuten kommt, der ihn in relativer Zeit zurücktransportiert ins Leben, und ihm das, was er für eine unheilbare unheimliche physische Krankheit hielt, zu erklären imstande ist. Dieser Roman hat einen sensationellen Erfolg gehabt, leider, aber ein Erfolg ist immer ein Mißerfolg. Wenn man das Romanhafte abzieht, bliebe für jeden Arzt etwas übrig, eine penible präzise Schilderung von erschreckender Genauigkeit über die Zustände, die Sie in Ihren Aufsätzen und Büchern behandeln, Neurosenlehre und Psychotherapie.

Es ist, meines Wissens, das erste Buch, das darüber berichtet.

Ich habe nicht die Absicht, über meine Krankheit zu berichten, aber ich möchte Sie, die Anwesenden und Nichtanwesenden über etwas informieren.

Ich hoffe, Sie verstehen meinen Hohn auf meine Situation, die so äußerst angenehm war. Ein Arztfreund, Freund der Familie, gibt dem Chirurgen zu verstehen, daß eine Operation[167] zu dem Zeitpunkt nicht günstig sei, aber der Chirurg, ein vorzüglicher, beruft sich auf meine Vernünftigkeit. Beachten Sie bitte noch oft die Vernünftigkeit. Und seien Sie gewarnt. Der vernünftige, der intelligente Patient ist, ohne es zu wollen, ohne zu wissen, wie gefährlich er dem Arzt wird, eine Pest. Und er ist sich selbst noch hundertmal gefährlicher. Er kann noch vernünftig erscheinen, während er schon die vierzig Nembutaltabletten[168] in der Tasche hat. Er sieht alles ein, begreift alles, drückt sich vorbildlich aus. Er ist ein Wunder an Einsicht.

Die Operation wird gemacht, Gebärmutterentfernung, es gibt einige Tage mit Morphium, das nach dem ersten Tag keinen Eindruck auf mich macht, auch nicht mehr wirkt. Die Operation ist vorbildlich, alles gelungen, der Patient zwar nicht tot, aber in einer irrsinnigen Aufregung, Weinkrämpfe, Schreie, Verzweiflung. Der erste Psychiater wird zugezogen. Der erste. Ich weiß nicht, ob Sie, deren Leben mit Psychiatrie gepflastert ist, sich überhaupt vorstellen können, was es für einen Menschen bedeutet, und sei er noch so intelligent, zum erstenmal mit einem Psychiater zu tun zu haben. Der Psychiater: (der erste unter vielen) ein vornehmer Mann, ein Aristokrat. Man begeht die ersten Fehler. Vergessen Sie nie, daß ein Kranker entsetzliche Fehler begeht. Der Patient sagt also nicht die Wahrheit, murmelt etwas, weil ein moderner Mensch, von privaten Schwierigkeiten, die werden sogar mehrmals besprochen, alles hat den Anschein von üblicher tausendfacher uninteressanter langweiliger Ehekomik. Balzac[169] sagt dazu etwas sehr Schönes, der alte Ladenhüter. Der Patient murmelt immerzu von Eheschwierigkeiten etc., er ahnt das geheime[9] Gähnen und hat nicht die Courage, von dem einzigen Problem zu sprechen, das ihn wirklich betrifft. Er läßt sich Ratschläge geben, er hält sie nicht ein, das vor allem, er hält sich nicht einmal an die Ratschläge. Er geht dreimal pro Woche zu diesem großartigen Arzt und sagt nicht die Wahrheit. Warum sagt er sie nicht? Er sagt sie nicht, weil er jemand decken oder schützen möchte, den er liebt und nicht verurteilt wissen möchte, nicht einmal in den Augen eines Psychiaters. Er lügt also. Das ist der Patient. Täuschen Sie sich nicht. Er lügt. Denn er weiß noch nicht, daß er sich schon seine Grube gräbt mit diesem Verschweigen. Der Patient lügt. D. h. er sagt die Wahrheit, aber nur einen so geringen und unwichtigen Teil, daß kein Arzt vermuten kann, was noch dahinter steckt. So vergehen einige Wochen. Der Patient, Sie dürfen immer ruhig mich an dessen Stelle setzen, gibt seine Taktik nicht auf, er schweigt und erzählt Nebensächliches. Eines Tages findet der Patient sich in einer Situation, die entsetzlich und grauenvoll ist, nicht weil er krank ist, sondern weil etwas geschehen ist. Er betrinkt sich, zwei Tage lang, dann geht er, halb folgsam, halb Rebellion, zu dem Arzt, er muß jetzt zum erstenmal etwas preisgeben. Und nun fängt meine Geschichte mit den Ärzten an, und die geht Sie an, meine Herren. Sie alle.

Er gesteht zwar nur die Hälfte, aber er redet endlich, und der Arzt, ein sehr bedeutender Arzt, versteht und versteht nicht. Er gibt einen Rat, der zwar allen und mir auch heute noch richtig erscheint, in einem bürgerlichen Kontext, aber er rät einem Verzweifelten, etwas zu tun, was diesen Verzweifelten eines Tags in ein noch größeres Unglück stürzen wird. Er hat seinen Patienten im Auge und er vergißt, daß es Teufeleien gibt, die moralisch nicht bewertbar sind, und die seinen Patienten eines Tags ans Messer liefern werden. Der Patient tut, was der Arzt ihm sagt. Dann reist er ab. Er hält alles für erledigt. Der Patient versucht ein neues Leben. Er trinkt wieder, er nimmt wieder Beruhigungsmittel, er ist nur noch ein Schatten, aber er lebt. Dann fängt die Teufelei an. Der Patient erfährt, daß der Rat des Psychiaters, der ein Moralist ist, ihn in ein neues Unglück stürzt. Das überlebt er noch ein paar Tage, dann hat der Patient plötzlich etwas, was er nicht versteht, einen furchtbaren Anfall, natürlich an einem Sonntag, ein Internist ist ein paar Häuser weit zuhause, rettet ihn mit einer Spritze, er wird eingeliefert[170]. Es ist Mitternacht, es wird alles getan, EKG, Schlafspritze, man liegt in einem Krankenhaus, auf einer internen Abteilung. Man ist in einem Krankenhaus. Man weiß überhaupt nicht, was man hat, jeden Tag Erstickungsanfälle, Schwestern und Assistenzärzte stehen herum, bemühen sich, alles bemüht sich. Lassen Sie mich vor allem den Schwestern danken, ich versteh das ganze Theater nicht, das gemacht wird um Anonymität, ich kann Ihnen versichern, es gibt Krankenschwestern, die Heilige sind, und ich glaube nicht, daß man das für mich getan hat. Dann kommt das Übliche, Sie kennen es, Durchuntersuchung, bis zum EEG, verzeihen Sie, daß ich ein wenig Ihre Sprachgebräuche kenne, man wird am Ende ja, ohne es zu wollen, ein Spezialist. Alles wird kontrolliert, immerzu, der Chefarzt ist ein bezaubernder Mann, er vertröstet einen von einer Woche auf die andere, am Ende sind drei Monate vergangen, man wird entlassen. Nach acht Tagen wird man, bei strömendem Regen, von zwei Neanderthalern mit Riesenkräften auf eine Tragbahre geschmissen und festgehalten, und da ist man wieder. Und dann kommen dem Patienten die ersten Bedenken. Drei Monate interne Abteilung, immerzu Mittel. Mittel, Spritzen, Medikamente, und auf der Rechnung steht ein Wort, – ich hoffe, Sie lachen – vegetative Dystonie. Dieses Wort habe ich angestarrt, und nun mögen Sie denken, was Sie wollen, das war etwas komisch. Ich wußte wirklich nicht, was das heißt. Und meine Herren, wenn es auf den internen Abteilungen so zugeht – mögen Sie noch lachen darüber, über die vegetative Dystonie. Und mag noch jemand lachen, wenn ich sage, ich habe nicht gewußt, was ich habe, ich war nur so irrsinnig verzweifelt. Und jedesmal, wenn die Ärzte und eben dieser Chefarzt mir sagten, das geht vorbei, das kennen wir alles, das geht allen Frauen so, die Mitte dreißig sind, das ist eben das Übliche, und wenn Sie in ein paar Wochen hier herauskommen, dann sind Sie wieder hübsch und so weiter. Aber ein einziges Mal wollte ich etwas sagen, (denn Sie müssen nicht denken, daß ein Internist ein Ungeheuer ist), und da hat man mir gesagt, aber so sagen Sie doch nicht, das geht doch allen so. Und nachts habe ich Briefe geschrieben, immerzu geschrieben und einen leider, der mir nachher auch das Genick gebrochen hat. Hätte ein Arzt mich ein einziges Mal gefragt, warum ich da liege, dann hätte ich doch niemals während einer halben Schlafkur einen Brief geschrieben, der unverantwortlich war. Es ging für mich um juristische Probleme, und man wollte mir weismachen, das sei eben eine Angelegenheit von Mittdreißigerinnen. Ich habe mit niemand sprechen können, aber ich hätte mit einem Arzt gesprochen, gewiß. Nur hat man mir immer gesagt, aber so reden Sie nicht, vergessen Sie alles, denken Sie nicht daran. Und ich hätte damals sprechen müssen, ich wäre in einem Monat geheilt gewesen, und weniger noch – ein vernünftiger Arzt hätte mir einen Anwalt geholt, und nichts wäre passiert. Aber dann bin ich aus der Klinik gekommen, und...

Erscheint lt. Verlag 6.4.2020
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Briefe / Tagebücher
Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Briefe • Klinik • Krankheit • Max Frisch
ISBN-10 3-492-99608-6 / 3492996086
ISBN-13 978-3-492-99608-2 / 9783492996082
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