Gangsterswing in New York (eBook)
704 Seiten
Piper Verlag
978-3-492-99561-0 (ISBN)
Ray Celestin studierte Asiatische Kunstgeschichte und Sprachen in Großbritannien. Er ist Drehbuchautor für Film und Fernsehen und veröffentlichte bereits mehrere Kurzgeschichten. Auf seinen Debütroman Höllenjazz in New Orleans, der die britischen Bestsellerlisten und Feuilletons im Sturm eroberte, folgten mit Todesblues in Chicago und Gangsterswing in New York Band zwei und drei seiner »City Blues Quartett«-Reihe. Derzeit schreibt Ray Celestin an seinem vierten Roman.
Ray Celestin studierte Asiatische Kunstgeschichte und Sprachen in Großbritannien. Er ist Drehbuchautor für Film und Fernsehen und veröffentlichte bereits mehrere Kurzgeschichten. Auf seinen Debütroman Höllenjazz in New Orleans, der die britischen Bestsellerlisten und Feuilletons im Sturm eroberte, folgten mit Todesblues in Chicago und Gangsterswing in New York Band zwei und drei seiner "City Blues Quartett"-Reihe. Derzeit schreibt Ray Celestin an seinem vierten Roman.
1
Montag, der 3., 1:45 Uhr
Kommen Sie und werfen Sie einen Blick auf die Vampire. Sehen Sie zu, wie sie über dem Times Square kreisen. Sehen Sie zu, wie sie sich drängeln und zusammenströmen, während die Sterne über das nächtliche Firmament ziehen. Die Huren, Zuhälter und Rauschgiftsüchtigen, die Gauner und Nassauer, die Marihuanaschmuggler, die Messerstecher, die Aufschneider, die Nutten, die ihre betrunkenen Freier ausrauben, die Taschendiebe, die Besoffene bestehlen, die irgendwo auf einer Bank eingeschlafen sind, die Ausreißer, die, die die ganze Nacht feiern, und die Rumtreiber, Taugenichtse und Underdogs – von bunten Neonlichtern, flottem Jazz und dem Versprechen auf eine Eroberung ins Herz der größten Stadt der Welt gelockt. Aus den Absteigen in der Bowery, aus Drogennestern in Uptown, aus den Schwulenbars, die sich wie Lichterketten an den Kais von Chelsea und Brooklyn reihen, aus Nepplokalen und Bebop-Clubs, aus Taxiständen, aus Waschsalons, aus Bühneneingängen und Künstler-Lofts, aus einfachen Zimmern, in denen es nur kaltes Wasser gibt, und aus Penthousewohnungen in den Wolken, aus Brücken und Schnellstraßen, aus der Dunkelheit unter der Third-Avenue-Hochbahn, aus Tunneln, aus Gassen, aus Kellern, aus Gossen, aus Schatten, ja sogar aus dem Beton der Stadt selbst, ist die Dunkelheit gekommen und hat sich zu etwas Gefährlichem und Lebendigem geformt: Das Reich der Nacht hat sich erhoben.
Durch die Menschenmassen bewegte sich ein großer, dunkelhaariger Mann Mitte dreißig, den Kragen seines Trenchcoats hochgeschlagen, den Stetson tief ins Gesicht gezogen. Er verbarg ein gequältes Lächeln, ein Gesicht, das die Spuren eines Lebens im Gewimmel der Straßen von New York trug. Seine längst verstorbenen Eltern hatten ihn nach dem Erzengel Gabriel getauft, und er wandelte schon sein ganzes Leben lang ein wenig müde über die Erde, als drückte das Gewicht von zwei Flügeln auf seinem Rücken ihn nieder.
Er ging an Jazzclubs vorbei, aus denen Bebop in die Nacht drang, Sex-Shows mit beleuchteten Schildern – MÄDCHEN, MÄDCHEN, MÄDCHEN –, die die Gehwege beleuchteten wie einen Rummelplatz. Im Fensterglas der die ganze Nacht geöffneten Selbstbedienungsrestaurants erhaschte er hier und da einen Blick auf sein Spiegelbild, das sich verzerrte, wenn er sich weiterbewegte. Er ging im Zickzack um Werbeschilder vor zwielichtigen Kinos herum, ignorierte die Rufe der Koberer, die in den Schatten lehnten, und erreichte sein Ziel: 1557 Broadway, Horn & Hadart’s Automatenrestaurant. Er blickte an dem Gebäude hinauf und betrachtete die riesigen Buntglasfenster und das rote Neonschild, das zwei Stockwerke hoch aufragte.
Er verharrte, bevor er hineinging, und sah sich um. Wenn jemand ihn entdeckt hatte, könnte das seinen Tod bedeuten oder, was noch schlimmer wäre, den Tod des Mädchens. Und für das Mädchen nahm er das ganze Risiko auf sich. Reingehen, die Pässe holen, rausgehen. Verschwinden, bevor ihn ein zufälliger Blick traf und sechs Jahre Planung zunichtemachte.
Er trat ein und sah, dass das Lokal gerammelt voll war, dröhnender Lärm und Gäste, die in zwei Reihen vor den Automaten standen. Gabriel ließ den Blick durch den dichten Zigarettenrauch über die Menschenmenge schweifen und entdeckte den Fälscher allein an einem Tisch in der Nähe der Toiletten. Er kämpfte sich zu ihm durch und ließ sich auf den zweiten Stuhl sinken. Er bemerkte sofort, dass der Mann dem Tod nahe war – abgehärmte Züge, gelbe Haut, stumpfer Blick. Nicht zum ersten Mal überlegte Gabriel, warum der Fälscher die Übergabe mitten in der Nacht am Times Square vorgeschlagen hatte. Vielleicht wollte er sich in einem der Bordelle, die die Gegend sprenkelten wie Konfetti, ein letztes Mal flachlegen lassen. Dabei hatte der Mann ihm erklärt, er habe einen Platz im Nachtzug von der Penn Station gebucht und sei inzwischen so krank, dass er sowieso nicht schlafen könne.
Die Stimme des Fälschers war rau, und er sprach so leise, dass Gabriel die Ohren spitzen musste, um ihn über dem Lärm von Kaffeemaschinen, Münzschlitzen und Kellnerinnen, die Teller zu hohen Stapeln auftürmten, zu verstehen. Das Lokal gehörte zu den Orten, die den Lärm vervielfachten, die alle Geräusche in ein Klappern verwandelten und zwischen den Wänden hin und her warfen.
Der Fälscher trank einen Schluck von dem Kaffee, der vor ihm stand, und zuckte zusammen. Gabriel reichte ihm einen Umschlag. Darin war genug Geld, damit der Mann nach Toronto fahren, in die Klinik gehen und sich ausreichend Schmerzmittel verabreichen lassen konnte, um seine letzten paar Wochen auf Erden erträglich zu machen. Der Tod des Fälschers würde sein Schweigen besiegeln, deswegen hatte Gabriel ihn ausgewählt. Die Pässe waren der letzte Baustein seines Fluchtplans, und als er über einen Freund von einem Freund gehört hatte, dass der Fälscher auf dem Weg ins Jenseits war, war er nach Jersey gefahren, um ihn zu treffen, und hatte ihm ein Angebot gemacht.
Der alte Mann hievte seinen Koffer auf den Stuhl neben sich, öffnete ihn und kramte darin herum. Gabriel schaute hinüber, um zu sehen, was er auf seiner Reise in den Tod mitnahm – ordentlich gefaltete Kleidung, einen Kulturbeutel von PanAm, eine Reader’s-Digest-Ausgabe von Spinoza. Der Mann hatte die Ecken von einem Dutzend oder mehr Seiten umgefalzt, und Gabriel fragte sich, welche Weisheiten diese enthielten. Er fühlte sich an den Doc erinnert, der seine Bemerkungen gern mit Zitaten aus der Ethik spickte.
»Erkennen ist Freiheit«, sagte Gabriel.
Der Fälscher verharrte und blickte mit gerunzelter Stirn zu ihm auf. Gabriel zeigte auf das Buch. Der Fälscher nickte und setzte seine Suche fort. Er zog ein in knisterndes Papier eingewickeltes Päckchen aus dem Koffer und reichte es über den Tisch.
Gabriel öffnete es und holte die Pässe heraus. Sie waren von bester Qualität. Der alte Mann hatte seine jahrzehntelange Erfahrung und Kunstfertigkeit einfließen lassen; es waren schließlich die letzten Dokumente, die er je fälschen würde, das letzte Mal, dass er seine Kunst ausübte.
Gabriel schob die Pässe in seine Tasche und beglückwünschte den Fälscher zu seiner hervorragenden Arbeit. Doch als der Mann etwas erwidern wollte, bekam er einen Hustenanfall. Er zog ein Taschentuch aus dem Ärmel, das voller braun eingetrockneter Blutflecken war.
Während Gabriel darauf wartete, dass der alte Mann sich erholte, sah er sich um, um zu schauen, ob er jemanden kannte. Sein Blick landete auf den Automatenfächern, groß wie Schuhkartons, mit ihren Glastüren, die sich an den Wänden stapelten. Man warf Fünf-Cent-Stücke in den Schlitz, drehte einen Griff und konnte das Essen entnehmen – einen Teller überbackener Makkaroni, eine Tomatensuppe, eine Fischfrikadelle, ein Stück Limettenkuchen.
An einem Tisch ein Stück weiter kauften College-Kids von einem puerto-ricanischen Teenager in einer Lederjacke Marihuana ab. An anderen Tischen saßen müde dreinblickende Taxifahrer und Telegrammboten, Revuetänzerinnen, Drogenabhängige und Freier, die Außenseiter und komischen Käuze, die sich jeden Abend auf dem Times Square einfanden und sich in der Morgendämmerung wieder zerstreuten. Gabriel würde sie vermissen, wenn er fort war, auch wenn er genau wusste, dass sie so zynisch und opportunistisch waren wie die Stadt, die sie ihr Zuhause nannten. Er würde auch New York vermissen, sein Brausen, seine Energie, seine Ruhelosigkeit und die ruppige Art, mit der es einen anrempelte. Wie kein anderer Ort auf der Welt. Die Städte in Europa und Asien waren im Krieg stark dezimiert worden, jetzt stand New York allein da. Am dunklen Himmel der Upper Bay leuchtete die Fackel in der Hand der Freiheitsstatue heller auf.
Die Türen des Automatenrestaurants flogen auf, und eine Gruppe Touristen aus dem sogenannten Maisgürtel kam hereinspaziert. Sie sahen sich um, als hätten sie ein modernes Babylon betreten, und nach ein paar verlegenen Augenblicken drehten sie sich um und gingen wieder hinaus. Die Türen schwangen zu, und das Kondenswasser an den Fenstern verwandelte die Lichter und Schilder des Times Square in ein Prisma vielfarbiger Streifen, die Gabriel an Sternbilder, an Halluzinationen und an das Drip-Painting-Bild in seiner Wohnung erinnerten.
Er wandte sich dem alten Mann zu, der einen letzten Schluck von seinem Kaffee trank und nickte.
»Sind Sie froh, die Stadt zu verlassen?«, fragte Gabriel und überlegte, ob der Fälscher genau wie er gemischte Gefühle bezüglich seines Fortgehens hatte.
Der Fälscher sann über die Frage nach. »Froh, traurig – ein und dasselbe«, sagte er.
Gabriel fragte sich, ob diese Einsicht von Spinoza stammte.
Er half dem Mann auf die Füße und erbot sich, ihn zur Penn Station zu begleiten. »Sie tragen eine Menge Geld bei sich«, sagte Gabriel und hoffte, dass der Fälscher sich nicht bevormundet fühlte. »Auf den Straßen geht es ruppig zu.«
Sein Gegenüber schüttelte den Kopf.
Sie traten hinaus auf den Gehweg. Während sie drinnen gewesen waren, hatte leichter Nieselregen eingesetzt. Der Fälscher schlug den Kragen seines Mantels hoch und setzte sich eine Schiebermütze auf. Er bedachte Gabriel mit einem Blick, und Gabriel ahnte, was der Grund für das frostige Betragen des Mannes war: Er hatte gefälschte Pässe für sich selbst und ein dreizehnjähriges Mädchen bestellt. Keine Gelegenheit, ihm zu erklären, dass das Mädchen seine Nichte war, dass die beiden um des Mädchens willen davonliefen. Gabriel musste es aushalten, dass der Mann das Schlimmste von ihm dachte. Doch daran war er gewöhnt. Im Laufe seines Lebens war Gabriel Leichenbeseitiger gewesen, ein kleiner...
Erscheint lt. Verlag | 6.4.2020 |
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Reihe/Serie | City-Blues-Reihe |
City-Blues-Reihe | City-Blues-Reihe |
Übersetzer | Elvira Willems |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | The Mobster's Lament |
Themenwelt | Literatur ► Historische Romane |
Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller | |
Literatur ► Romane / Erzählungen | |
Schlagworte | detective • Ermittler • Geschichte • Heroin • historischer Krimi • Historische Romane • Jazz • Krimis Band • Louis Armstrong • Mafia • michael talbot • Mord • Mystery Thriller • New York • Pinkerton • Ragtime • Rassismus • Roman • Swing • Thriller • Vierziger Jahre • Voodoo |
ISBN-10 | 3-492-99561-6 / 3492995616 |
ISBN-13 | 978-3-492-99561-0 / 9783492995610 |
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