Unter ihren Augen -  Dorit David

Unter ihren Augen (eBook)

Roman

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2020 | 1. Auflage
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978-3-89656-665-2 (ISBN)
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1922 - Zeit des Aufbruchs. Begeistert befreit sich auch die 16-jährige Lieselotte von alten moralischen Verkrustungen. Tanzend. Etliche Frauen verdienen ihr Geld selbst und vor allem ohne Mann. Den vermisst das ehrgeizige Mädchen ohnehin nicht. Unabhängigkeit und Selbstverwirklichung sind die Zauberworte ihrer Zeit. Dass sie ernsthaft 'lila' sein könnte, darauf kommt Lotte nicht einmal im Traum. Wie ein Gestirn am Himmel erscheint ihr Berta Habenicht, und Lotte umkreist die Lehrerin seit dem Moment, als sie deren Schule betritt. Nur wenige Augenblicke später gehört sie bereits zu den Elevinnen, denn Berta hat ein Auge auf sie geworfen. Turnen und Tanzen - nur davon träumt Lotte. Und die Sterne stehen günstig für sie in der Weimarer Republik. Dass die junge Frau jahrelang ihre Sexualität verdrängt, bemerken alle, nur Lotte selbst nicht, und dass Berta in einer lesbischen Beziehung lebt, führt sie beide in einen gefährlichen Strudel aus Konkurrenz, Verleumdung und Verrat. Nicht ungefährlich in einem Land, das mehr und mehr zur Diktatur wird.

Dorit David lebt seit 1992 in Hannover. 2007 geht sie mit ihrem ersten Buch Herr Feng Shui weint an die Öffentlichkeit und bringt drei weitere Bilderbücher heraus. Sie arbeitet u.a. als Schauspielerin, Pädagogin und Illustratorin. 1993 beginnt sie spontan auf der Bühne Geschichten zu erfinden und ab dem Jahrtausendwechsel auch am Schreibtisch. Ihr erster Roman Gefühl ohne Namen erschien 2012, gefolgt im Jahr 2014 von Tür an Tür (beide im Querverlag).

1


1924 – Frühjahr

Sie war laut. Laut und herrisch. Eine Stimme wie der Dampfstrahl aus einem Wasserkessel. „Was sind das für Tischtücher? Holt die weißen!“, befahl sie. Die scharfen Worte Berta Habenichts drangen durch die verglasten Scheiben der großen Halle bis in den Flur. Die Mädchen zuckten zusammen. Zu dritt standen sie vor der Seitentür, die zum Sportsaal des Turn-Klubbs Hannover führte, und warteten, dass sie hereingerufen wurden: Lieselotte, Else Marie und Tilla. Für die Kür ihrer Lehrprüfung im Fach Handgeräte war es Lieselotte erlaubt, von zwei Assistentinnen begleitet zu werden. Tilla und Else Marie ahnten nur, wie aufgeregt ihre Kommilitonin war. Anzumerken war Lotte kaum etwas, denn das blonde, hochgewachsene Mädchen wirkte gefasst. Lediglich ihre blaugrauen Augen verrieten ihre Anspannung. Lottes rechte Braue zuckte; unwirsch schüttelte sie den Kopf. Der kleine Verrat ihres Körpers ärgerte sie. Im Gegensatz zu den anderen Mädchen war Lieselotte mit ihren achtzehn Jahren ernster und strenger zu sich als jede Lehrerin.

„Du musst keine Angst haben.“ Else Maries Worte halfen nur wenig.

„Du hast uns so oft angeleitet.“ Tillas Beruhigungsversuche machten es nur noch unerträglicher.

„Gutsein genügt nicht bei ihr.“ Mit zusammengepressten Lippen deutete Lotte in Richtung Berta Habenicht, die gerade mit der Prüfungskommission hinter den breiten Glastüren entlangschritt. Tilla nickte.

Vor dem Schwingportal der großen Halle hielt die Gruppe inne und wartete, bis die Prüfungsassistentinnen die gemusterten Tischdecken gegen die weißen ausgetauscht hatten, dann öffnete Berta Habenicht energisch die Türen und begab sich mit der Kommission zu den Tischen. Geschäftig nahmen sie alle Platz.

Tilla und Else Marie wechselten Blicke. „Du hast wirklich nichts zu befürchten, Lotti. Du bist gut. Du bist schön. Bei dir stimmt die Linie von Brust bis Po.“ Tilla versuchte zu scherzen. „Schau, damit kann ich nicht dienen.“ Sie wackelte mit ihrem Hinterteil.

Lieselotte grinste leicht gequält, aber Tilla hatte recht. Die Figur der dunkelhaarigen Kommilitonin war im Gegensatz zu ihrer die einer Pyknikerin: kantige Gesichtszüge, kräftige Knochen und selbst, wenn das schwarzlockige Mädchen gar nichts mehr aß oder bis zum Äußersten trainierte – feiner würden ihre Körperlinien nie werden, höchstens eckiger. Da war die Natur bei Lieselotte gnädiger gewesen. Ihre ohnehin grazile Figur hatte durch das mehrjährige Unterrichtstraining an Kontur gewonnen. Wie rasch alles gegangen war! Verflogen, die Wochen, die Monate, die Jahre an der Berta-Habenicht-Schule. Und wie oft hatte sie mit stillem Stolz abends im Bett ihre nackten Beine betrachtet. Wohlgeformt, gerade und entspannt. Diese Beine gehörten ihr und doch taten sie es wiederum nicht. Ihr Körper war zwar das Produkt einer eisernen Disziplin, aber ihre Gestalt hatte Lotte Berta Habenicht zu verdanken. Viele Mädchen in der Ausbildung neideten ihr diesen Körper, nur war das etwas, das Lotte im Moment am wenigsten kümmerte.

„Hauptsache, die Zensur stimmt hinterher“, sagte sie schroff.

„Selbst, wenn Frau Habenicht einen spüren lässt, dass man nichts wert ist, gerecht in der Note bleibt sie“, erwiderte Tilla und Else Marie nickte leidvoll. „Mach dir nicht ins Hemd. Du warst gut. Du bist gut, und du wirst auch heute gut sein.“

Dennoch zitterten Lottes Hände, als sie das Netz vom Haken nahm und die Bälle unter ihren Assistentinnen aufteilte. Sie hatte sich eine Ball-Kür ausgedacht, die Bewegungsnotation aufgeschrieben und vor einer knappen Woche bei Frau Habenicht eingereicht. Alles termingerecht. Schweigend standen sie vor der Tür zur großen Halle, dann vernahmen die drei Mädchen endlich Lottes Namen.

„Fräulein Daube, bitte!“

„Vorwärts“, zischte Tilla, „ab in die Höhle der Löwin!“

Kaum aber hatten sie den großen Turnsaal betreten und Position bezogen, rief Berta Habenicht scharf: „Mit Begleitung? Ohne Begleitung?“

Lotte stockte und blickte hilfesuchend zu Else Marie und Tilla. Hatte sie jetzt schon etwas falsch gemacht? Eine Assistenz war doch erlaubt.

„Fräulein Daube, warum schauen Sie wie ein Laubfrosch aus Zelluloid?“

„Meine Assistenz …“, stotterte Lotte. Ihre Stimme klang dünn.

„Papperlapapp! Wer redet denn von der Assistenz? Ich spreche von der Be-glei-tung! Benötigen Sie Musik? Ja? Nein? So etwas hätte ich gerne vorher gewusst.“ Gebieterisch klopfte Berta Habenicht mit dem Stift auf die Prüfungsunterlagen. Offenbar war sie erzürnt, dass ausgerechnet ihre beste Schülerin einen so gravierenden Fehler begangen hatte.

„Aber ich habe doch schon dem Fräulein Dorn Bescheid …“, versuchte Lotte zu erklären.

Berta Habenicht schnitt ihr das Wort ab. „Das gehört in Ihre schriftliche Ausarbeitung. Als Anmerkung. Vernachlässigen Sie nie die Theorie. Beginnen Sie nun.“ Das nachgeschobene, deutlich mildere Lächeln in Bertas Habenichts Gesicht nahm Lotte schon nicht mehr wahr. Ihre Hände zitterten so sehr, dass sie den Ball nicht mehr halten konnte. Ständig fiel er hinunter und jedes Mal, wenn er ihrem Griff entsprang, rollte er natürlich immer in Richtung der Kommission. Tilla und Else Marie versuchten zu helfen, wo sie nur konnten, aber vergeblich. Verbissen rang Lotte um jene Fassung, mit der sie während der gleichen Übung in der Vorprüfungszeit geglänzt hatte. Es schien ein Desaster zu werden.

„Ich versteh es nicht!“, flüsterte Tilla Else Marie in einem unbeobachteten Augenblick zu. „Sonst ist die Habenicht doch nie so streng mit ihrem Daube-Sternchen gewesen?“

„Prüfung ist eben Prüfung“, wisperte Else Marie zurück.

Schweigend verfolgte die Kommission hinter den gestärkten Tischtüchern Lieselottes Kür: Links Dorothea Bragge – Berta Habenichts Schulsekretärin und rechte Hand –, daneben Dr. Kahlbutz und noch weiter rechts ein Amtsmann, den die Mädchen noch nie zuvor gesehen hatten.

Schweißtropfen drangen aus Lottes Poren, aber es gelang. Ohne Fehler brachte sie den ersten Teil zu Ende. Für den zweiten ließ sie sich das Seil bringen. Eifrig liefen Else Marie und Tilla zu den Handgeräten, legten die Bälle ab und eilten zurück. Als Else Marie Lieselotte das Seil in die Hand drückte, flüsterte sie ihr mit dem Rücken zur Kommission zu: „Du bist die Beste. Glaub das endlich.“ Lottes Körper straffte sich. Für den zweiten Teil hatte sie etwas Besonderes vor. Eine Improvisation. Kaum ein Mädchen traute sich das zu, aber alle wussten: Frau Habenicht war damit zu beeindrucken, schließlich improvisierte sie selbst gern. Die Schulpianistin, Fräulein Dorn, saß aufrecht am Klavier und verfolgte Lieselottes Bewegungen mit dunklem Blick. Ihre Finger ruhten auf den Tasten, warteten auf ihren Einsatz, und Lotte meinte plötzlich, eine warme Welle aus Mitgefühl wahrzunehmen, so, als hätte sie noch eine dritte Verbündete. Dann gab Berta Habenicht das Zeichen, Lotte füllte ihren Brustkorb mit Atemluft und Irma Dorn begann zu spielen. Die weichen Klänge der Schumann-Melodie verzauberten den riesigen Raum und ließen ihn sofort wärmer und milder erscheinen. Alles ging erstaunlich leicht. Mühelos kombinierte Lieselotte die Bewegungsfolgen. Tilla und Else Marie atmeten auf und beobachteten, wie sie sich langsam dem Fluss ihres Körpers hingab und alle unnütze Spannung von ihr abfiel. Das Zittern ihrer Hände verebbte und endlich kam Leben in die Choreografie. Verstohlen zwinkerte Else Tilla zu.

Plötzlich aber begann Lotte zu stocken. Ein dummer Stolperer. Unglücklicherweise verfing sie sich in ihrem Seil und die Rolle rückwärts misslang. Zornig sprang Lieselotte auf und schlug mit dem Seil auf den Holzboden, als würde sie ihn auspeitschen. Die Kommission war irritiert und den beiden Mädchen stockte der Atem. Was machte Lotte da? So riskierte sie durchzufallen!...

Erscheint lt. Verlag 28.2.2020
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Historische Romane
ISBN-10 3-89656-665-2 / 3896566652
ISBN-13 978-3-89656-665-2 / 9783896566652
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