Im Schatten des Kronturms (eBook)
462 Seiten
Klett-Cotta (Verlag)
978-3-608-11595-6 (ISBN)
Michael J. Sullivan, geboren 1961 in Detroit, begann zunächst eine Laufbahn als Illustrator und Künstler und gründete eine eigene Anzeigenagentur. 2005 beschloss er, sich ganz dem Schreiben zu widmen. Mit den Fantasyepen um die Diebesbande Riyria wurde er weltweit berühmt. Er lebt mit seiner Frau und drei Kindern in Fairfax in der Nähe von Washington, D. C.
Michael J. Sullivan, geboren 1961 in Detroit, begann zunächst eine Laufbahn als Illustrator und Künstler und gründete eine eigene Anzeigenagentur. 2005 beschloss er, sich ganz dem Schreiben zu widmen. Mit den Fantasyepen um die Diebesbande Riyria wurde er weltweit berühmt. Er lebt mit seiner Frau und drei Kindern in Fairfax in der Nähe von Washington, D. C.
1
Pickles
Hadrian Blackwater hatte sich erst fünf Schritte vom Schiff entfernt, da wurde er ausgeraubt.
Die Tasche – seine einzige – wurde ihm aus der Hand gerissen. Den Dieb bekam er nicht einmal zu Gesicht. In dem von Laternen erhellten Durcheinander auf dem Anlegesteg sah er sowieso nur ein Meer von Gesichtern und Menschen, die von der Gangway des Schiffs wegdrängelten oder sich auf das Schiff zuschoben. An das regelmäßige Auf und Ab des Schiffsdecks gewöhnt, hatte er auf festem Boden inmitten des Gewühls Mühe, sich auf den Beinen zu halten. Die anderen Neuankömmlinge blieben immer wieder stehen, so dass jede Vorwärtsbewegung zum Stillstand kam. Die am Ufer Wartenden suchten Freunde und Angehörige durch Rufe, Hüpfen und Winken auf sich aufmerksam zu machen. Wieder andere, von Berufs wegen hier und mit Fackeln in den Händen, boten lauthals Unterkünfte und Arbeit an. Ein glatzköpfiger Mann mit einer Stimme wie eine Kriegstrompete stand auf einer Kiste und schwor, im Wirtshaus ZUR SCHWARZEN KATZE sei das stärkste Bier zum günstigsten Preis zu haben. Zwanzig Schritte weiter balancierte sein Rivale auf einem wackligen Fass, hieß den Glatzkopf einen Lügner und behauptete, der GLÜCKSPILZ sei das einzige Wirtshaus, in dem Hammelfleisch nicht durch Hundefleisch ersetzt würde. Hadrian kümmerte das alles nicht. Er suchte nach einem Weg aus dem Gedränge, um den Dieb, der ihm die Tasche gestohlen hatte, verfolgen zu können. Doch musste er schließlich einsehen, dass das wohl aussichtslos war. Er beschloss, dafür ab sofort besonders gut auf seine Geldbörse aufzupassen, die ihm nicht gestohlen worden war. Insofern wenigstens hatte er Glück gehabt: Er hatte nichts Wertvolles verloren – nur Kleider, was angesichts der herbstlichen Kälte in Avryn allerdings sehr unangenehm werden konnte.
Ihm blieb nichts anderes übrig, als sich im Strom der Menge treiben zu lassen und aufzupassen, dass er nicht in ihr unterging, sondern wenigstens den Kopf oben behielt. Der Steg knarrte und ächzte unter dem Gewicht der Passagiere, die sich fluchtartig von dem Schiff entfernten, das über einen Monat lang ihr beengtes Zuhause gewesen war. An die Stelle der frischen salzigen Luft, die sie wochenlang eingeatmet hatten, war jetzt allerdings ein beißender Gestank von Fisch, Rauch und Teer getreten. Hoch über dem dunklen Hafen stiegen die Lichter der Stadt auf wie helle Punkte an einem gestirnten Himmel.
Hadrian folgte vier dunkelhäutigen Männern aus Calis, beladen mit Käfigen voller bunter Vögel, die kreischten und flatterten. Hinter ihm gingen ein Mann und eine Frau, beide ärmlich gekleidet. Der Mann trug gleich zwei Taschen, eine über der Schulter und die andere unter dem Arm. Für sein Gepäck schien sich freilich niemand zu interessieren. Hadrian wurde klar, dass er die falschen Kleider trug. In einem Land des Leders und der Wolle war sein östliches, weißleinenes Gewand nicht nur lächerlich dünn, sondern zusammen mit dem goldgesäumten Mantel eine plakative Zurschaustellung von Reichtum.
»Heda! Hierher!« Die Stimme war in dem ohrenbetäubenden Lärm von Stimmen, Wagenrädern und Glocken kaum zu hören. »Hier lang. Ja Ihr, kommt. Hierher!«
Am Ende der Rampe angelangt, wo das Gedränge ein wenig nachließ, fiel Hadrians Blick auf einen halbwüchsigen, sehnigen Jungen. In Lumpen gekleidet, wartete er unter dem feurigen Schein einer schwankenden Laterne. Er hielt Hadrians Tasche und begrüßte ihn mit einem strahlenden Lächeln. »Ja genau, Ihr, bitte kommt«, rief er und winkte mit der freien Hand. »Hierher.«
»Das ist doch meine Tasche!«, rief Hadrian empört und beschleunigte seinen Schritt, soweit es die Passanten auf dem schmalen Steg zuließen.
»Vollkommen richtig!« Der Bursche lächelte noch breiter und seine Augen leuchteten. »Ihr hattet ja ein solches Glück, dass ich sie Euch weggenommen habe. Sonst hätte man sie Euch bestimmt geklaut.«
»Du hast sie mir geklaut!«
»Aber nein, überhaupt nicht. Ich habe nur gut auf Eure wertvollen Sachen aufgepasst.« Der magere Bursche straffte sich, als wollte er vor Hadrian salutieren. »Jemand wie Ihr sollte seine Tasche nicht selbst tragen.«
Hadrian schob sich an drei Frauen vorbei, die stehen geblieben waren, um ein weinendes Kind zu trösten, und stieß auf das nächste Hindernis, einen alten Mann, der einen riesigen Koffer hinter sich herzog. Der Alte, klapperdürr und mit leuchtend weißen Haaren, blockierte den engen Durchgang, der sowieso schon durch den Berg von Taschen, die achtlos vom Schiff auf den Steg geworfen wurden, versperrt war.
»Was meinst du mit jemand wie ich?«, rief Hadrian über den Koffer hinweg, mit dem der Alte kämpfte.
»Ihr seid doch ein berühmter Ritter.«
»Nein, bin ich nicht.«
Der Junge zeigte mit der Hand auf ihn. »Doch, ganz bestimmt. Seht doch, wie groß Ihr seid. Und Ihr tragt Schwerter, sogar drei. Und das Schwert auf Eurem Rücken ist riesig. Nur Ritter haben so was.«
Der Koffer des Alten verkantete sich in einem Spalt am Ende der Rampe. Hadrian bückte sich mit einem Seufzer und hievte ihn darüber, was ihm einen Schwall von Dankesworten in einer ihm unbekannten Sprache einbrachte.
»Seht Ihr«, sagte der Junge. »Nur ein Ritter hilft einem Fremden in Not einfach so.«
Weitere Taschen fielen polternd auf den Stapel neben Hadrian. Eine rutschte über den Rand des Stegs und fiel mit einem Plumps ins schwarze Hafenwasser. Hadrian ging rasch weiter, um nicht von oben getroffen zu werden und um sein gestohlenes Eigentum wieder an sich zu nehmen. »Ich bin kein Ritter. Und jetzt gib mir meine Tasche.«
»Ich werde sie für Euch tragen. Ich bin übrigens Pickles, aber wir müssen uns beeilen. Schnell!« Der Junge, dessen Füße nackt und schmutzig waren, umklammerte Hadrians Tasche mit beiden Armen und lief los.
»He!«
»Schnell! Wir dürfen hier nicht bleiben.«
»Warum die Eile? Von was redest du? Komm sofort mit meiner Tasche zurück!«
»Ihr könnt Euch glücklich schätzen, dass Ihr mich habt. Ich kenne mich hier aus. Wenn Ihr etwas braucht, ich weiß, wo man es findet. Mit mir bekommt Ihr von allem das Beste für das wenigste Geld.«
Hadrian hatte ihn eingeholt, packte seine Tasche und zog daran. Doch der Junge ließ sich nicht abschütteln und kam im Schlepptau der Tasche mit.
»Da, seht Ihr?« Der Junge grinste. »Niemand nimmt mir Eure Tasche weg!«
»Hör zu« – Hadrian musste kurz verschnaufen – »ich brauche keinen Führer. Ich bleibe nicht hier.«
»Wohin wollt Ihr?«
»Nach Norden, weit hinauf. Zu einem Ort namens Sheridan.«
»Aha, zur Universität.«
Hadrian sah den Jungen überrascht an. Pickles machte keinen besonders gebildeten Eindruck. Er erinnerte eher an einen herrenlosen Hund, der vielleicht einmal ein Halsband getragen hatte, jetzt aber nur noch aus Flöhen, deutlich vorstehenden Rippen und einem stark ausgeprägten Überlebensinstinkt bestand.
»Ihr wollt studieren und Gelehrter werden? Ich hätte es wissen müssen. Entschuldigt, wenn ich Euch gekränkt habe. Ihr seid sehr klug – also werdet Ihr bestimmt ein großer Gelehrter. Ihr solltet mir kein Trinkgeld geben, weil ich einen solchen Fehler gemacht habe. Aber das ist ja noch viel besser. Ich weiß nämlich genau, wohin wir jetzt müssen. Es gibt ein Schiff, das den Barnum aufwärts fährt. Jawohl, dieses Schiff ist ideal für Euch und es fährt heute Abend. Danach fährt tagelang keins mehr und Ihr wollt doch nicht in einem solchen Kaff wie dem hier festsitzen. Wir werden in Windeseile in Sheridan sein.«
»Wir?« Hadrian lächelte säuerlich.
»Aber Ihr braucht mich doch als Begleiter. Ich kenne mich nicht nur in Vernes aus, sondern in ganz Avryn – ich bin viel gereist. Ich kann Euch helfen, als Euer Bursche, der Euch beschafft, was Ihr braucht, und auf Eure Habe aufpasst und sie vor Dieben schützt, während Ihr studiert. Dafür bin ich bestens geeignet.«
»Ich bin kein Student und will auch keiner werden. Ich will nur jemanden besuchen und ich brauche keinen Burschen.«
»Natürlich braucht Ihr das nicht – wenn Ihr kein Gelehrter werden wollt –, aber als Sohn eines adligen Herrn, der soeben aus dem Osten zurückgekehrt ist, braucht Ihr auf jeden Fall einen Hausdiener, und auch darauf verstehe ich mich hervorragend. Ich werde dafür sorgen, dass Euer Nachttopf immer geleert ist und im Winter ein warmes Feuer im Kamin brennt. Und im Sommer werde ich mit einem Fächer die Fliegen verscheuchen.«
»Pickles«,...
Erscheint lt. Verlag | 7.2.2020 |
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Reihe/Serie | Riyria-Chroniken | Riyria-Chroniken |
Übersetzer | Wolfram Ströle |
Verlagsort | Stuttgart |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Fantasy / Science Fiction ► Fantasy |
Schlagworte | Diebe • Freundschaft • Huren • Schätze • Zauberer |
ISBN-10 | 3-608-11595-1 / 3608115951 |
ISBN-13 | 978-3-608-11595-6 / 9783608115956 |
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