Der Ballhausmörder (eBook)

Kriminalroman

(Autor)

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2020 | 1. Auflage
320 Seiten
dtv Deutscher Taschenbuch Verlag
978-3-423-43605-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Der Ballhausmörder -  Susanne Goga
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Samstagabend in »Clärchens Ballhaus« und der Tod tanzt mit Berlin, Sommer 1928. In Bühlers Ballhaus in der Auguststraße, auch »Clärchens Ballhaus« genannt, wird eine Garderobiere ermordet aufgefunden. Clärchen, die Betreiberin, ist schockiert. Zielt der Mord in irgendeiner Weise auf ihr Etablissement? Oder hat der kommunistische Ex-Geliebte der Toten etwas mit der Tat zu tun? Kommissar Leo Wechsler und seine Kollegen ermitteln in einer Welt aus Charleston, Sekt für eine Mark und hemmungslosem Amüsement.

Susanne Goga lebt als Autorin und Übersetzerin in Mönchengladbach. Sie ist Mitglied des deutschen PEN-Zentrums. Außer ihrer Krimireihe um Leo Wechsler hat sie mehrere historische Romane veröffentlicht und wurde mit verschiedenen literarischen Preisen ausgezeichnet, u.a. dem Goldenen HOMER für >Mord in Babelsberg< und dem Silbernen HOMER für >Nachts am Askanischen Platz<.

Susanne Goga lebt als Autorin und Übersetzerin in Mönchengladbach. Sie ist Mitglied des deutschen PEN-Zentrums. Außer ihrer Krimireihe um Leo Wechsler hat sie mehrere historische Romane veröffentlicht und wurde mit verschiedenen literarischen Preisen ausgezeichnet, u.a. dem Goldenen HOMER für ›Mord in Babelsberg‹ und dem Silbernen HOMER für ›Nachts am Askanischen Platz‹.

1


SAMSTAG, 30. JUNI 1928

Eduard Fischer war kein Richard Tauber, doch er hatte seinen Tenor in den Straßen und Hinterhöfen Berlins geschult und verstand sich darauf, sein Publikum mitzureißen. Die Tangoklänge der Kapelle umschmeichelten seine Stimme und kaschierten deren Schwächen, und die Paare, die sich beim Witwenball dicht an dicht über die Tanzfläche bewegten, nur einander und der Musik hingegeben, bemerkten die falschen Töne nicht. Mehr noch, sie sangen begeistert die Worte mit, die ganz Berlin kannte.

Ich küsse Ihre Hand, Madame,
und träum’, es war Ihr Mund.
Ich bin ja so galant, Madame,
und das hat seinen Grund.

Irene Freund beugte sich vor und ließ sich von ihrem Begleiter, der sich als Joachim vorgestellt hatte, Feuer geben. Er sah sie über die Flamme hinweg an. Wie hatte man nur geflirtet, bevor das Rauchen gesellschaftsfähig wurde? Sie senkte ein wenig die Augenlider, blies den Rauch aus und lehnte sich auf dem Stuhl zurück. Die bunten Flecken der Lampions tanzten über die nackte Haut ihrer Arme. Die Wände des Saals waren mit Holzgittern verkleidet, in denen künstliche Zweige mit Kirschblüten steckten. Die farbige Deckenbeleuchtung machte den Raum zu dem »Lichtwundersaal«, den Clärchens Ballhaus in seinen Annoncen gerne anpries.

Irene war keine Witwe, sondern ledig, und Joachim war Eintänzer, das hatte sie bald gemerkt, aber was machte das schon, wenn die Musik mitreißend war und die Lichter schillerten und der Sekt für eine Mark in ihren Gläsern perlte?

Sie ließen einander nicht aus den Augen, und als ein Onestep angekündigt wurde, drückten sie wie auf ein Kommando die Zigaretten aus und eilten auf die Tanzfläche.

Wer hat bloß den Käse zum Bahnhof gerollt?
Das ist ’ne Frechheit, wie kann man so was tun?
Denn er war noch nicht verzollt.

»Der Text ist reichlich dämlich«, rief Irene.

»Aber die Musik geht prima in die Beine«, erwiderte Joachim, und sie marschierten dahin, seine Hand an ihrer Taille, ihre auf seiner Schulter, die anderen beiden Hände verschränkt, drehten sich lachend im Kreis und hatten den Käse bald vergessen.

Ihre Augen leuchten bis zu mir.

Die korpulente Gerda Wohlleben errötete und zeigte ihrer Freundin Irmgard kichernd das Zettelchen, das der Kellner mit der Saalpost gebracht hatte. Ick bin so jalant, nehm Ihnen bei der Hand. Wenn Se nicken, lass ick mir blicken. Bei Clärchen gab es keine Telefone, diese neue, kostspielige Mode machte sie nicht mit. Papier erfüllte den Zweck genauso gut und war auch romantischer als ein Apparat, der auf dem Tisch stand und kaum Platz für Sekt und andere Erfrischungen ließ.

Überall im Saal steckten Gäste die Köpfe zusammen und überlegten, von wem wohl welche Liebesbotschaft stammen mochte.

Vorn am Eingang gab Adele, die Garderobiere, dem Türsteher Wolf Meinecke ein Zeichen, indem sie Zeige- und Mittelfinger vor den Mund hielt und ihn bittend ansah. Er kam mit langmütiger Miene herüber, stellte sich in die mit dunkelbraunem Holz verkleidete Garderobennische und winkte Adele davon.

Ab und zu brauchte sie eine Zigarettenpause, doch Clärchen duldete nicht, dass ihre Garderobiere paffend inmitten von Mänteln und Hüten stand.

»Das gehört sich nicht, wir sind ein anständiges Haus«, pflegte sie zu sagen.

Adele war ihre Stelle lieb und teuer. Sie fügte sich also und baute darauf, dass Wolf für sie einsprang, wenn der Drang sie überkam.

Clara Bühler, genannt Clärchen, glitt unauffällig durch den Saal, begrüßte die Stammgäste und vergewisserte sich, dass alle Tische ausreichend mit Getränken versorgt waren. Sosehr sie ihre Angestellten schätzte, wusste sie doch, dass sie besser arbeiteten, wenn die Hausherrin ihnen persönlich auf die Finger schaute. Nachdem sie ihre Runde gedreht hatte, blieb sie an der Tür stehen und zündete sich eine Zigarette an. Sie blies den Rauch in die Luft und genoss den Anblick.

Hier unten gab es den Lichtwundersaal mit seinem japanischen Flair und oben den Spiegelsaal. Der war wie in Versailles, nur schöner. Heute war er aber geschlossen, weil bei dem warmen Wetter viele Leute in die Ausflugslokale strömten.

Sie schaute zur Kapelle, die gerade einen Tango beendete, zu den Kellnern, die Sekt und Wein servierten, den Paaren, die sich voneinander lösten und zu separaten Tischen strebten oder untergehakt gingen und sich Stuhl an Stuhl, eng beieinander, niederließen.

Sie wollte gerade zum Ausschank gehen, als ihr Blick am Klavierspieler der Kapelle hängenblieb. Sie winkte ihm, worauf er vom Podest sprang, zu ihr herübereilte und sie besorgt anschaute.

»Schauen Sie nicht so ängstlich, Fred, alles prima. Bin sehr zufrieden mit Ihnen.«

Er atmete sichtlich erleichtert aus, worauf sie ihm auf die Schulter klopfte. »Sie wissen doch, ohne den Mann am Klavier geht hier gar nichts.«

Wolf Meinecke schaute sich suchend nach Adele um. Inzwischen war es brechend voll im Eingangsbereich. Eine Frau lachte schrill und warf den Kopf zurück, als der Mann neben ihr eine anzügliche Bemerkung machte. Alle drängten sich vor der Garderobe, um mit den Mänteln auch den Alltag abzugeben und sich unbeschwert ins Vergnügen zu stürzen.

Es war ein heftiges Schieben und Schubsen, und er stand hier ganz allein und hielt die Stellung.

Verdammt, warum musste sie ausgerechnet dann qualmen gehen, wenn hier die Hölle los war? Es war, als hätte ein Zug vor dem Ballhaus angehalten und eine ganze Ladung Tanzwütige ausgespuckt. Adele war ein kesses Ding, nie um eine witzige Antwort verlegen und hübsch anzusehen obendrein, aber dass sie ihn so im Regen stehenließ …

»Soll mir ’n Bart wachsen, bis ick den Mantel krieje?«

»Steh nich rum wie ’n Öljötze!«

Wolf geriet ins Schwitzen, nahm Mäntel und Jacken entgegen, schleppte andere herbei, händigte Garderobenmarken aus, suchte nach verlorenen Schals und Hüten, kroch auf dem Boden herum, als eine Marke hinunterfiel und in die hinterste Ecke kullerte.

Poussierte Adele etwa mit einem Gast im Hinterhof? Es gab genügend Kerle, die ihr schöne Augen – und entsprechende Angebote – machten. Aber so war sie eigentlich nicht, sie ließ einen Kollegen nicht im Stich.

Als der größte Andrang vorbei war, atmete er tief durch und sah sich um. Noch immer keine Spur von der Garderobiere. Wo steckte sie nur?

Sie trug heute ein besonders hübsches Kleid, hellblau mit einem schwarzen Muster, das wie Spitze aussah, und einer schwarzen Schärpe. Er hatte vorhin gefrotzelt, sie sei wohl zu Geld gekommen, worauf Adele gesagt hatte, es sei ein Geschenk von einer Freundin. Er spähte in den Ballsaal, doch auch dort war kein Hellblau mit schwarzer Spitze zu entdecken.

Als sie an den Tisch zurückkehrten, ruhte Joachims Hand auf Irenes Schulter, und er zog sie erst zurück, als sie sich auf ihrem Stuhl niederließ.

»Sie tanzen ganz wunderbar. Und ich weiß, wovon ich rede«, sagte er und gab der Kellnerin ein Zeichen, noch zwei Gläser Sekt zu servieren. »Ich habe Sie übrigens noch nie hier gesehen. Kommen Sie öfter her?«

»Es ist das erste Mal. Mit meinen Freundinnen war ich ein paarmal im Chaussee-Palast oder im Resi-Casino, aber das war mir zu …«

»Gewagt?«, fragte er.

»Vielleicht.« Irene überlegte. »Nein, gewagt ist nicht das richtige Wort. Ich fand es unpersönlich. Eine Art Speisekarte, von der man Geschenke aussuchen und mit der Rohrpost durch den Saal schicken kann. Dazu die Telefone, die ständig bimmeln. Es war wie auf dem Rummel, zu viel von allem, und es lenkte von der Musik ab. Vom Tanzen.«

»Und heute sind Sie ganz allein hier?«

»Meine Freundin ist plötzlich krank geworden. Aber ich wollte den Abend nicht zu Hause verbringen. Also bin ich ohne sie gekommen, es ist ja ein Witwenball«, sagte sie lachend.

»Sind Sie eine?«

»Nein.« Irene hob ihr Sektglas. »Und ich möchte lieber tanzen, statt über mich zu reden.« Der Sekt perlte in ihrer Kehle und brachte sie zum Lachen, obwohl niemand etwas Komisches gesagt hatte. »Oder wir reden über Sie.«

Joachim lachte und hob ebenfalls sein Glas. »Da gibt es nichts zu erzählen. Es ist dieselbe traurige Geschichte, die Sie schon tausendmal gehört haben.«

»Ehemaliger Offizier?«, fragte sie und legte den Kopf schräg.

»2. Leib-Husaren-Regiment ›Königin Viktoria von Preußen‹. Nach dem Krieg waren meine Talente nicht mehr gefragt. Das heißt, nirgendwo außer hier.« Er stellte sein Glas ab, gab der Kapelle ein Zeichen, die wieder einen Tango anstimmte, und Irene folgte ihm auf die Tanzfläche.

Walter, der Saalchef, strich sich vor dem Spiegel des kleinen Hinterzimmers die pomadisierten Haare glatt. Dann klopfte er sorgfältig seinen Frack ab – er war der einzige Mann im Ballhaus, der einen trug, das war er seiner Stellung schuldig – und holte Geldscheine, Münzen und sogar eine Tafel Schokolade aus den Taschen hervor. Er zählte die Ausbeute zufrieden durch und verstaute sie in einem abschließbaren Schrank. Seine Kriegskasse, wie er sie bei sich nannte.

Das machte er an profitablen Abenden bis zu viermal, denn es sah einfach hässlich aus, wenn sich die Taschen ausbeulten.

Heute war Witwenball. Da zeigten sich die Damen besonders großzügig, zumal er häufig Damenwahl verkündet hatte. Frauen, die sich amüsieren wollten, waren spendabel, und der »süße Walter« erfreute sich bei den weiblichen Gästen großer Beliebtheit. Nie hätte er eine an sich herangelassen, geschweige denn mit nach Hause genommen, doch seine Unerreichbarkeit ließ ihre Sehnsucht nur noch stärker werden. Kurzum, die Damen bezahlten für...

Erscheint lt. Verlag 21.2.2020
Reihe/Serie Leo Wechsler
Leo Wechsler
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Krimi / Thriller / Horror Krimi / Thriller
Schlagworte Anne Stern • Band 7 • Berlin • Berlin-Krimi • Berlin Roman • Clärchens Ballhaus • Deutschland • deutschsprachige Kriminalromane • Fräulein Gold • Gereon Rath • historischer krimi berlin • Historischer Kriminalroman • Historischer Roman • Historische Spannung • Krimi • Kriminalroman • Krimi Neuerscheinungen • Krimis • krimi-serie berlin • Leo Wechsler • Regiokrimi Berlin • Tanzlokal • unterhaltsamer Krimi • Volker Kutscher • Weimarer Republik • Zwanziger Jahre
ISBN-10 3-423-43605-0 / 3423436050
ISBN-13 978-3-423-43605-2 / 9783423436052
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