Unsichtbar durch die Hölle - Holocaust-Roman nach wahren Begebenheiten -  Siglinde M. Petzl

Unsichtbar durch die Hölle - Holocaust-Roman nach wahren Begebenheiten (eBook)

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2020 | 1. Auflage
444 Seiten
Verlag DeBehr
978-3-95753-734-8 (ISBN)
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NÜRNBERG 1939 - Energisches Klopfen an der Wohnungstüre. 'Sie holen uns', stammelte Alisah. Frau Stern zerrte ihre Tochter zum Fenster. Ohne einen Augenblick zu zögern, sprang das Mädchen hinaus und landete unsanft auf dem gepflasterten Weg im Hinterhof. An diesem Tag sah sie ihre Mutter und die Brüder das letzte Mal ... Das Mädchen Alisah entkommt nur knapp der Deportation, doch als Jüdin schwebt sie ständig in Todesgefahr. Sie muss unsichtbar werden, um die Hölle auf Erden zu überstehen. Die ergreifende Geschichte der Holocaust-Überlebenden Alisah Stern.

 

3 NÜRNBERG, JANUAR 1939

 

Nervös blickte sich Frau Stern in den Straßen um und ermahnte ihre Kinder abermals, dicht hinter ihr zu bleiben. Die Schlange jüdischer Männer, Frauen und Kinder vor dem Rathaus war lang. Sie stellten sich dazu und warteten geduldig, bis es in der dichtgedrängten Reihe voranging. Vor der großen, zweiflügeligen Eingangstüre stand ein Schild mit dem Hinweis ‚Neues Gesetz für Juden. Jeder Jude ist verpflichtet, den Zweitnamen in den Ausweis eintragen zu lassen’. Einige SA-Männer waren abgestellt worden, um das Ganze im Auge zu behalten. Kaum jemand sprach ein Wort, was die Situation noch bedrückender erscheinen ließ. Nach einer geschlagenen Stunde stand Frau Stern mit ihren drei Kindern vor dem Beamten in der braunen Uniform und legte die Papiere vor. Erst vor drei Monaten waren die Reisepässe eingezogen worden, um sie mit einem eingestempelten roten ‚J’ zu kennzeichnen. In ihren und Alisahs Ausweis wurde nun der Zweitname ‚Sara’ eingetragen, bei den Jungen war es der Name ‚Israel’. Bekümmert sah sie zu, mit ihren Kindern so schnell wie möglich von hier wegzukommen.

„Wieso heißt Jakob jetzt ‚Jakob Israel’ und ich ‚Jonathan Israel’?“

„Sei still Jonathan, ich erkläre es dir zu Hause“, ermahnte ihn die Mutter.

„Ich verstehe es auch nicht“, flüsterte Alisah ihrem Bruder zu, damit er Ruhe gab.

Nach dem Abendessen ging die Mutter in Alisahs Zimmer, sobald die Jungen im Bett lagen. Sie setzte sich auf den Bettrand und hielt ihre Hand.

„Der heutige Eintrag der Zweitnamen in unsere Pässe ist ein weiterer Schritt der Stigmatisierung“, die Bitterkeit in ihrer Stimme war nicht zu überhören.

„Vielleicht sollten wir weggehen?“

„Das habe ich mir oft durch den Kopf gehen lassen, aber wohin könnten wir gehen? Für Juden ist in ganz Deutschland kein Platz mehr, die Nazis sind überall, andernorts geht es genauso zu wie hier in Nürnberg. Wir müssten ins Ausland fliehen, in die Schweiz, nach England oder nach Frankreich zu meinem Cousin. Solange ich nicht weiß, was mit deinem Vater geschehen ist, gehe ich von hier nicht fort.“

„Bisher dachte ich, deine Angst wäre übertrieben, aber seit heute fürchte ich mich vor dem, was noch alles auf uns zukommen könnte.“

Die Bemerkung ihrer Tochter trieb Frau Stern Tränen in die Augen.

„Hoffen wir auf ein Wunder, dass der Spuk bald vorüber sein wird. Die Dummheit kann nicht ewig regieren, irgendwann wird die Vernunft siegen, davon bin ich überzeugt. Gute Nacht Alisah!“

Beim Verlassen des Zimmers blieb Frau Stern stehen, um einen Blick über die Schulter auf ihre Tochter zu werfen, mit Entsetzen sah sie Alisah in das Kissen weinen. Verzweifelt lief sie in die Küche zurück. Sie setzte sich an den Tisch, schlug die Hände vors Gesicht und ließ ihren Tränen freien Lauf. Ihre anfangs unerschütterliche Haltung, alles tapfer zu ertragen, was mit ihnen und um sie herum geschah, bekam bereits seit geraumer Zeit einen Riss, nur wollte sie es vor ihren Kindern nicht zeigen. Wie sehr ihr die Buben leidgetan hatten, wenn sie heimkamen und unter Tränen von den erduldeten Schikanen in ihrer Schule sprachen. Regelmäßig wurde dies vom Turnlehrer praktiziert, der den arischen Kindern vorführen wollte, wie schwach und schlapp die Juden seien, indem er die jüdischen Kinder Klimmzüge am Reck machen ließ, bis sie aus Erschöpfung zu Boden fielen. Ihr hatte das Herz wehgetan, als Jakob berichtete, wie er und seine jüdischen Schulkameraden zusätzlich weitere Runden um die Halle hatten laufen müssen, bis sie völlig erschöpft taumelnd zusammensackten. Seit den ständigen Demütigungen in der Schule, welchen die jüdischen Kinder sowohl vonseiten der Lehrkräfte als auch von den Mitschülern ausgesetzt worden waren, hatte sie das ganze Ausmaß des Unheils bereits erkannt. Es war nun fünf Wochen her, dass ihre Jungen nicht mehr in die öffentliche Schule gehen durften und von Veranstaltungen ausgeschlossen wurden. Noch galt Rebekkas Hauptsorge ihrem Mann, aber auch um die Kinder, denen so viel Unrecht durch die Nazis widerfahren war, musste sie sich immer mehr sorgen. Wie sollte sie nur die kommenden Tage und Wochen ohne Simon überstehen? Würde die Gestapo ihn überhaupt wieder freilassen? Das bezweifelte sie von Tag zu Tag mehr. Solche Gedanken versuchte sie, aus ihrem Kopf zu verbannen, denn sie durfte die Hoffnung nicht verlieren und musste ihren drei Kindern zuliebe stark sein, dennoch blieb die ständige, nagende Angst. Obwohl es nicht in ihrer Natur lag, aufzugeben, hatte sie die Zuversicht, dass sich bald das Blatt wenden würde, längst verloren.

Ein energisches Klopfen an der Wohnungstüre ließ sie hochschrecken. Eine Sekunde später stand Alisah vor ihr.

„Sie holen uns“, stammelte sie mit verweinten, roten Augen.

„Schnell zieh dir was an!“

Gefolgt von der Mutter eilte das Mädchen in ihr Zimmer zurück, streifte über das Nachthemd ein Kleid und schlüpfte in den Mantel. Beim Anziehen der Stiefel ertönte erneut das laute Klopfen, das im Treppenhaus laut widerhallte. Inzwischen war das Fenster von der Mutter weit geöffnet worden. Die hereinströmende kalte Luft, die den Raum erfüllte, spürte Alisah nicht.

„Hör zu, du gehst zur Tante deiner Freundin und wartest dort, bis ich dich abhole!“, flüsterte Frau Stern aufgeregt.

Sie steckte ihr den Hausschlüssel in die Manteltasche und zerrte ihre Tochter zum Fenster. Für eine Umarmung blieb keine Zeit mehr, ohne einen Augenblick zu zögern, sprang Alisah hinaus und landete unsanft auf dem gepflasterten Weg im Hinterhof. Durch das nunmehr geschlossene Fenster konnte sie mitverfolgen, wie die Mutter hektisch das Bett machte und die Überdecke glattstrich, bevor sie den Raum verließ.

Mit bangem Herzen öffnete Frau Stern die Wohnungstüre und spähte vorsichtig hinaus. Wie ihre Tochter richtig vermutet hatte, stand ihnen die Abholung bevor. Zumindest war es ihr gelungen, wenigstens Alisah davor zu bewahren. Zwei Männer in Stiefeln drängten sich an ihr vorbei und drangen mit polternden Schritten in die Wohnung ein. Einer war ein Riese von einem Mann, der andere ebenfalls groß und kräftig gebaut mit scharf gezeichneten Gesichtszügen.

„Eine Minute länger und wir hätten die Türe eingeschlagen!“, schrie der Mann, der als Erster an ihr vorüberstürmte.

Mit verächtlichen Worten brüllte er die verschlafenen Jungen an, dem Befehl, sich anzuziehen, auf der Stelle Folge zu leisten.

„Wo ist die Tochter?“, fragte der andere schroff.

„Sie ist nicht hier, sie ist zu Besuch in Hamburg“, stammelte Alisahs Mutter mit tränenerstickter Stimme, dabei versuchte sie nicht, in die Richtung der Kinder zu sehen.

Zu gern hätte sie ihnen mit einem flehenden Blick zu verstehen gegeben, das Gleiche zu behaupten, aber sie befürchtete von den Gestapo-Männern dabei beobachtet zu werden.

„Zum letzten Mal, wo ist die Tochter?“, wiederholte er brüllend.

Die Anwandlung von Angst niederkämpfend ließ Jakob die eingeschüchterte Mutter nicht aus den Augen. Er musste ihr beistehen.

„Sie ist in Hamburg“, bekräftigte er.

Unterdessen wurden die Zimmer von dem anderen Mann inspiziert.

Nachdem der Judenhass in der Bevölkerung wuchs, hatte die Mutter ihre Kinder darauf vorbereitet, dass sie Mut brauchen würden, aber Alisah hatte nicht erwartet, schon so früh und so hart auf die Probe gestellt zu werden. Von einer unsagbaren Angst getrieben löste sich Alisah von der Hauswand und suchte hinter einem Gebüsch Deckung. Von dort aus war zu beobachten, wie das Licht in ihrem Zimmer angeknipst wurde. Mit langsamen Bewegungen wurde der Raum von dem Nazi in Augenschein genommen, dessen Blick schließlich auf dem gemachten Bett hängenblieb. Jetzt erst begriff Alisah, warum die Mutter das getan hatte, niemand sollte wissen, dass noch vor Kurzem eine weitere Person in der Wohnung anwesend war.

Nach Minuten entfernte sie sich schnellen Schrittes, stolperte im Finstern über einen Gegenstand, lief in geduckter Haltung an der Mauer entlang und richtete einen vorsichtigen Blick in das unbeleuchtete Gässchen, das um den hinteren Teil des Gebäudes herumlief. Die ersten Schneeflocken fielen vom Himmel und schmolzen gleich wieder weg. Froh darüber, keine Spuren im Schnee zu hinterlassen, schlich sie lautlos ein Stück weiter, wandte sich nach links und folgte dem schmalen Weg, der in der Hauptstraße endete. Nur einige Häuser von ihrem Zuhause entfernt drückte sie sich an die kalte Mauer und spähte vorsichtig um die Ecke. Von dieser Stelle aus hatte sie eine gute Sicht auf das Mietshaus, in dem sie wohnten. Direkt davor stand ein Lastwagen mit laufendem Motor, hinter dessen Lenkrad ein Mann saß, der den Zigarettenrauch aus dem halb geöffneten Fenster blies. Voller Anspannung unterdrückte Alisah bei der Beobachtung einen Aufschrei, denn sie wusste, was das zu bedeuten hatte. Keine Minute später wurde die Haustüre aufgeschoben, zuerst sah sie ihre Mutter, die gefolgt von Jakob und Jonathan aus dem Haus bugsiert wurde. Im nächsten Moment stieß der Mann, der ihr Zimmer in Augenschein genommen hatte, die Mutter in den Rücken. Sie verlor das Gleichgewicht und wäre fast gefallen, wenn nicht Jakob ihren Arm zu fassen bekommen hätte. Wütend, mit den Armen um sich schlagend, versuchte sich Frau...

Erscheint lt. Verlag 3.1.2020
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Historische Romane
ISBN-10 3-95753-734-7 / 3957537347
ISBN-13 978-3-95753-734-8 / 9783957537348
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