PiHKAL (eBook)
590 Seiten
TWENTYSIX (Verlag)
978-3-7407-2110-7 (ISBN)
Alexander Shulgin (1925 - 1914) lehrte an der University of California in Berkeley Toxikologie, er war Berater der NASA und der DEA und er machte sich in seinen privaten Studien im Bereich der Psychopharmakologie verdient. Neben etlichen Publikationen in einschlägigen Fachzeitschriften schrieb Shulgin zwei autobiographische Romane, PiHKAL und TiHKAL, die von seinem wissenschaftlichen Schaffen durchzogen sind. Nicht nur als Stiefvater des MDMAs ist Alexander Shulgin zu den einflussreichsten Figuren im Bereich der Psychedelika zu zählen.
Kapitel 1. Der Daumen
Ich wurde am 17. Juni 1925 in der fortschrittlichen Stadt Berkeley in Kalifornien geboren.
Mein Vater hieß Theodore Stevens Borodin; geboren wurde er in den frühen 1890er Jahren. Er war der erste Sohn von Stevens Alexander Borodin, der wegen der seltsamen Logik der russischen Namenshierarchie, wiederum Sohn von Alexander Theodore Borodin war. Da ich der erste Sohn war, erhielt auch ich den Namen meines Urgroßvaters und hieß somit Alexander Theodore. Und weil es ein russischer Brauch vorsieht, allen Kindern einen weiblichen Deminutiv zu geben (das wird übrigens auch bei Haustieren und geliebten Dingen gemacht, ungeachtet des Geschlechts), hörte ich auf den Namen Shura Borodin.
Mein Vater war der strenge Elternteil, der Teil, der sich um Disziplin kümmerte, auch wenn ich mich nicht daran erinnern kann, dass er jemals von seinem oft angedrohten Gürtel Gebrauch gemacht hat. Jedenfalls hatte er Autorität, die er stetig durch seine Tätigkeit als Geschichts- und Deutschlehrer in Oakland pflegte; die Schüler waren überwiegend aus Portugal. Daneben brachte er den rüpelhaften, die Schule hassenden Kindern auch das Gärtnern bei. Auf irgendeine Weise muss er sie beeindruckt haben, weil der Schulgarten prächtige Blüten hervorbrachte und man um sein Leben fürchten musste, wenn man auch nur auf eine einzige Pflanze tappte, die von seinen Schülern kultiviert und aufgezogen wurde.
Die Freunde meines Vaters waren hauptsächlich russische Emigranten, die zur gleichen Zeit wie er – in den 1920er Jahren – nach Amerika gekommen waren. Die meisten waren vor dem Bolschewismus in Richtung Osten durch die Mandschurei geflüchtet, dann weiter Richtung Japan. Und als Präsident Harding das Land für Einwanderer öffnete, kamen viele nach San Francisco, um ein neues Leben zu beginnen. Aus diesen Kreisen stammten auch die Familien seiner Freunde, die Frauen und Kinder und so kam auch ich zu diesem russischen Umfeld. Ich kann mich an keinen persönlichen Freund meiner Mutter erinnern, einmal abgesehen von diesen Verbündeten meines Vaters.
Ich bin fest davon überzeugt, dass mein Vater stolz auf mich war, aber ich weiß nicht genau wie es zu diesem Eindruck gekommen ist. Er sprach von mir als seinem »Sohn und Erben«, aber er erzählte mir weder von seiner Kindheit, noch von seiner Gedankenwelt. Alles was ich von seiner Familie wusste, war, dass er fünf Brüder und sechs Schwestern hatte, die alle in Chelyabinsk aufgewachsen waren und noch immer dort in Russland lebten. Er war ein begeisterter Leser, vor allem der russischen Literatur; die Bücher waren alle aus diesem ganz dünnen Papier und auf der Innenseite des Einbandes war oft Riga oder Moskau eingeprägt. Das Haus war voll von diesen braunen, gebundenen Büchern mit kahlen Einbänden, die in unbekannten Ländern veröffentlicht worden waren.
Meine Mutter, Henrietta D.D. (für Dorothy Dot), wurde in einer kleinen Stadt in Illinois, ebenfalls in den frühen 1890er Jahren, geboren. Sie studierte Literatur an der staatlichen Hochschule von Pullman in Washington, sie reiste sehr viel und fand in der Lyrik ihre Ausdrucksform. Sie schrieb auf einer gigantischen Schreibmaschine, deren Schriftbild beständige Unebenheiten aufwies. Sie behauptete immer, dass dies ihr Markenzeichen sei und sie sich deswegen die Signatur sparen könne. Sie hatte einen Bruder und zwei Schwestern, die alle in Kalifornien lebten. Tatsächlich lebte eine ihrer Schwestern zusammen mit ihrem Mann und den beiden Kindern ganz in der Nähe von uns in Berkeley und zwar in der Milvia Street, aber wir haben uns kaum gesehen. An einem Weihnachtsabend, als wir bei ihnen waren, entdeckte ich in deren Keller den größten Schatz: Eine komplette Pfeifenorgel, zerlegt in unzählige Einzelteile. Ich träumte davon, wie ich sie eines Tages zusammenbauen würde ohne jemandem davon zu erzählen, wie ich einen Luftkompressor finden und anschließen würde, um mitten in der Nacht einen B-Moll Akkord anzuspielen, nur um herauszufinden wie lange es dauern würde bis alle Leute das Haus verlassen hätten. Ich fragte Onkel David nach der Herkunft der Orgel und er entgegnete mir, er wüsste es nicht; zur Zeit des Hauskaufs sei die Orgel bereits im Keller gewesen. Als er starb, wurde das Haus für den Bau von Wohnungen abgerissen und die wunderschönen Einzelteile der Orgel waren für immer verloren.
Die meisten Eindrücke meines Vaters resultierten aus Geschichten, die mir meine Mutter immer wieder erzählte. Als ich sehr jung war, machten wir einen Ausflug zu den Great Lakes, wo wir ein brandneues Auto in Detroit abholten. Wir fuhren durch den südlichsten Teil von Ontario und reisten auf Höhe der Niagarafälle, im nördlichen Teil des Bundesstaats New York wieder in die USA ein. Offensichtlich waren die Einwanderer von unserem flotten, neuen Auto alarmiert, denn sie hielten uns an und stellten uns Fragen.
»Seid ihr amerikanische Staatsbürger?«, fragte der Beamte am Grenzübergang.
»Ja, das sind wir«, antwortete mein Vater, der einen klaren, eindeutig russischen Akzent hatte.
»Oh«, sagte der Beamte, indem er sich direkt an meinen Vater wandte: »Wo wurden sie geboren?«
»Chelyabinsk«, war die Antwort, vorgetragen mit unmissverständlichem Stolz.
»Und wo ist das?«
»In Russland.«
Ich kann den Akzent ganz gut imitieren, aber diesen aufzuschreiben ist nicht ganz so einfach. Das »R« wird leicht gerollt, gefolgt von einem breiten, in die Länge gezogenen Vokal, vergleichbar mit der Aussprache des »A« in »Dart«, so ähnlich wie »Rashia«, oder besser »Rrraaaashia«. Meine Mutter meldete sich mit der Erklärung zu Wort, dass mein Vater tatsächlich aus Russland komme, er aber in den frühen 1920er Jahren hierher gekommen sei und die amerikanische Staatsbürgerschaft ersucht und erhalten habe. Das hatte ausgereicht. Wir wurden in die Hütte gebeten, die das Büro für Immigration darstellen sollte, um weitere Fragen zu beantworten. Es sah ganz danach aus, dass es den Beamten verdächtig erschien, wenn Ehefrauen die Fragen beantworten, die an ihre Männer gerichtet waren.
»Führen Sie ihre Einbürgerungspapiere mit sich?«
»Nein, es gibt keinen Grund diese überall mit hin zunehmen«, antwortete mein Vater.
»Wie lautet die Nummer auf Ihrem Personenausweis?«
»Ich habe keine Ahnung«
»Welchen Beweis haben Sie für Ihre Staatsbürgerschaft?«
»Ich bin Mitglied der kalifornischen Lehrervereinigung. Man muss amerikanischer Staatsbürger sein, um an einer öffentlichen, kalifornischen Schule unterrichten zu können.«
»Woher soll ich das wissen?«
»Jeder weiß das!«
Wir kamen auf unsere kanadische Einreise zu sprechen. Der letzte Wortwechsel war ein Klassiker.
»Wenn Sie keinen Beweis für Ihre amerikanische Staatsbürgerschaft mit sich führen«, fragte der aggressive Polizist, »wie ist es dann möglich, dass die kanadischen Autoritäten Ihnen erlaubten einzureisen?«
Die Antwort meines Vaters war klar und deutlich: »Weil die kanadischen Autoritäten Gentlemen sind.«
Das reichte schließlich aus. Offenbar legte der Staatsbeamte schlicht seinen Arbeitsenthusiasmus ab und realisierte, dass niemand außer einem aufrichtigen Amerikaner eine solche Überheblichkeit an den Tag legen würde. In unserem brandneuen 1929er Model A Ford waren wir wieder schnell auf dem Weg.
Ein weiterer Vorfall, der meine Eltern betrifft, zeichnet ein durchaus anderes Bild meines Vaters. Als ich etwa zehn Jahre alt war, gab es eine Zeit, in der sich mein Vater mit einer anderen Frau eingelassen hat. Ich kannte damals weder die Bedeutung von »sich einlassen« in diesem Kontext, noch die von »einer anderen Frau«, aber ich verstand, dass etwas geschehen war, das meiner Mutter Unbehagen bereitete. In diese seltsame Angelegenheit wurde ich hineingezogen. Wir fuhren zu einem Motel in der San Pablo Avenue, gleich an der Grenze zwischen Berkeley und Oakland, und meine Mutter zitierte mich zu einem bestimmten, parkenden Auto, um die Luft aus einem der Reifen zu lassen. Als das erledigt war, fuhren wir wieder nach Hause. Am selben Abend, nur viel später, kam mein Vater von einem Schultreffen nach Hause und klagte über einen platten Reifen, der ihn aufgehalten hatte. Ich war verblüfft. Geschahen hier mysteriöse Dinge, von denen ich nichts wusste? Es war alles sehr aufregend, aber meinen Vater versetzte das in einen Zusatnd, in dem ich ihn noch nie erlebt hatte. Ich konnte sein Unbehagen direkt nachfühlen.
Wie bei dem Vorfall an der Grenze sah ich meinen Vater erneut mit den Augen meiner Mutter und jetzt, da ich all diese Dinge aus dem Blickwinkel eines alten Mannes sehe, scheint es mir, als verraten diese Vorkommnisse genauso viel über meine Mutter wie über meinen Vater, zum Beispiel über ihre Unsicherheit bei und Abhängigkeit von Anderen.
Meine Schulzeit nahm den erwarteten Rahmen ein, abzüglich der Klassen, die ich übersprungen habe, aber die meisten Geschehnisse davon...
Erscheint lt. Verlag | 6.1.2020 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
ISBN-10 | 3-7407-2110-3 / 3740721103 |
ISBN-13 | 978-3-7407-2110-7 / 9783740721107 |
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