Lassiter Sammelband 1807 (eBook)

Auf der Straße ertönte ein lauter Peitschenschlag.

Lassiter schrak aus dem Schlaf. Er hob ein Augenlid, kniff das Auge aber gleich wieder zu. Ein Sonnenstrahl hatte den Weg ins Zimmer gefunden und blendete ihn.

Durch das halb geöffnete Fenster drangen Stimmen von Passanten, die Rufe von Kutschern, Hufgetrappel, das Knirschen von Wagenrädern, das Quietschen von Türangeln und das Geschrei des Zeitungsjungen – die vielstimmigen Töne auf der Mainstreet von Cheyenne Wells.

Lassiter kreuzte die Hände unter den Kopf und streckte seine Beine aus, sodass er mit den Fußballen das untere Ende des Bettes berührte. Er hörte seinen Magen knurren und freute sich auf das Frühstück. Das Hotel, in dem er logierte, verfügte über eine separate, gemütlich eingerichtete Frühstücksstube und eine ausgezeichnete Küche. Es hieß, der Koch habe früher in einem New Yorker Feinschmeckerlokal und später in der Kombüse auf einem Mississippi-Dampfer gearbeitet.

Heute Abend kam Lassiters Kontaktmann aus Topeka. Es ging um die geheimnisvolle Mordserie an Geschäftsmännern, die Colorado und Kansas derzeit in Atem hielt. Die Zentrale der Brigade Sieben hatte Lassiter nach Cheyenne Wells zitiert. Er sollte dem geheimnisvollen Sterben auf den Grund gehen. Der Mann aus Topeka hatte die Instruktionen aus Washington im Gepäck.

Lassiter merkte auf. Durch die Türritzen zog der Duft von frisch gemahlenem Kaffee. Schnuppernd reckte er die Nase in die Luft.

Da klopfte es an der Tür.

»Moment!« Er stand auf und zog rasch seine Hose an.

»Hier ist Josepha, das Zimmermädchen«, klang es vom Korridor herein. »Bitte entschuldigen Sie die Störung, Sir, aber da ist eine Dame, die mit Ihnen zu sprechen wünscht. Sie sagt, es ginge um Leben und Tod.«

Barfuß tappte Lassiter zur Tür und öffnete sie.

Das Zimmermädchen machte einen Knicks und lächelte. Sie war eine zierliche Mittelblonde mit französischem Zopf und sauberer Schürze. »Die Dame wartet an der Rezeption auf Sie«, erklärte sie.

»Hat sie ihren Namen genannt, diese Dame?«

»Ja, aber sie hat mir untersagt, ihn zu nennen.« Mit diesen Worten raffte das Mädchen die Röcke und eilte davon.

Nachdenklich schloss Lassiter die Tür. Jemand, der spitzgekriegt hatte, dass er sich im Ballard Hotel in Cheyenne Wells befand, wollte ihm auf die Bude rücken, morgens um halb acht und anonym. Seltsam. Sein Blick ging zum Revolvergürtel, der über der Stuhllehne hing.

Er schüttete Wasser in die Schüssel, griff nach der Seife und machte sich frisch. Nachdem er seine Zähne mit Natron geputzt hatte, spülte er seinen Mund aus und kleidete sich an. Bevor er das Zimmer verließ, schnallte er sein Holster um und überprüfte den Remington. Die Waffe war geladen und schussbereit.

Lassiter trat hinaus auf den Flur. Grün gemusterte Teppichläufer dämpften seine Schritte.

Aus der unteren Etage erklang das Klappern von Geschirr. Eine Tür ging auf und schloss sich wieder. Kaffeegeruch wehte durch die Halle.

Über die Galerie gelangte der Mann von der Brigade Sieben zum Treppenabsatz. Am Pfosten des Geländers blieb er stehen und hielt Umschau. Von hier oben hatte er einen guten Ausblick auf die Rezeption und den Eingangsbereich.

Außer dem Portier am Empfangspult befanden sich ein älteres Ehepaar und ein Mann mit schlohweißem Haar im Raum. Der Portier blätterte im Anmeldebuch. Das Ehepaar betrachtete die Ausstellungsstücke in der Vitrine neben der Tür, die ins kleine Restaurant führte. Der Weißkopf saß auf der Bank am Zeitungstisch und las die Colorado Newspaper.

Lassiter rieb nachdenklich sein frisch rasiertes Kinn. Nirgendwo eine Dame, die auf ihn wartete.

Ohne Eile stieg er die Treppe hinab.

Der Portier blickte auf, als Lassiter an das Pult trat. »Kann ich Ihnen helfen, Sir?«

»Das Zimmermädchen sagte, da wäre jemand, der mich sprechen will.«

»Ja, natürlich, Mr. Lassiter.« Der Portier deutete diskret auf die Seitentür. »Die Dame ist vor einer Minute in das kleine Restaurant gegangen.«

»War sie allein?«

»Ja, Sir.«

»Kennen Sie ihren Namen?«

Der Portier zögerte. »Ja. Ich musste ihr aber versprechen, den Mund zu halten«, sagte er dann.

Lassiter schüttelte den Kopf. Die Heimlichtuerei ging ihm gegen den Strich. Er steuerte die Frühstücksstube an. Als er an der Vitrine vorbeikam, sagte der Weißhaarige zu seiner Frau: »Ist dir das Revolverweib aufgefallen, das vorhin an uns vorbeigegangen ist?«

»Die Frau in Männerkleidung? In der Tat, Charles. Wer war das?«

»Hast du noch nie Photographien vor ihr gesehen? So weit ich weiß, war sie früher einmal mit Wild Bill Hickok zusammen, dem berühmtesten Revolverhelden der gesamten Staaten.«

Jetzt wusste Lassiter, wer ihn erwartete, und er war tatsächlich überrascht.

Calamity Jane Cannary!

Sie war ein Unikum und konnte sehr anstrengend sein, besonders, wenn sie auf Sauftour war. Lassiter verband eine lose Freundschaft mit der Präriefrau, die behauptete, Wild Bills Geliebte gewesen zu sein. Unter ihrer rauen Schale verbarg sich ein goldenes Herz.

Er betrat das Lokal.

Kalamitäten-Jane stand an der Küchenklappe und zankte sich mit dem Koch. Sie trug enge erdfarbene Leggins, eine hellbraune Fransenjacke mit allerlei bunten Abzeichen und einen Stetson mit breiter Krempe. »Ich mag es nicht, wenn das Eigelb über meinen Teller quillt. Braten Sie meine Spiegeleier von beiden Seiten. Dann ist es gut.«

Der Koch erwiderte: »Okay, ich lege einen Deckel auf die Pfanne, dann stockt das Eigelb. Darum geht es Ihnen doch, oder?«

»Wie? Was?«

»Dass das Eigelb stockt«, sagte der Mann auf der anderen Seite der Durchreiche. »Ich meine, ein gestocktes Eigelb ist doch das, was Sie wollen. Sehe ich das richtig?«

»Beim Hoden des Manitou!«, grunzte Jane. »Ich möchte die Eier von beiden Seiten gebraten haben. Das kann doch nicht so schwierig sein.«

Der Koch gab auf. »Sehr wohl, Ma’am.«

Lassiter trat einen Schritt auf Jane zu. »Guten Morgen, mein Herzblatt!«

Die große Frau fuhr herum, seufzte vor Rührung und riss ihn in die Arme. »Lassiter! Eigentlich wollte ich dich überraschen, jetzt hast du mir die Pointe verdorben. Egal! Ach, wie ich mich freue, dich zu sehen!«

Es schmatzte laut, als sie ihn abküsste. Lassiter schloss die Augen. Widerstandslos ließ er die Begrüßung über sich ergehen.

»Wie geht es dir, mein Schöner?«, fragte sie. »Bist du gesund? Alles da, wo es hingehört.«

»O ja, Jane, es geht mir prächtig.«

Sie legte einen Arm um seine Taille. »Und? Was ist mit den süßen Mädchen? Bist du noch immer hinter ihnen her wie der Teufel hinter der Seele?«

Lassiter musste grinsen. Wie gewöhnlich nahm Jane kein Blatt vor den Mund. Sie redete, wie ihr der Schnabel gewachsen war, und das leider ziemlich laut. Die Gäste an den Tischen ringsum drehten neugierig die Köpfe. Eine Dame mit toupierter Hochfrisur hob pikiert eine Augenbraue, während sie das fast sechs Fuß große Unikum in Trapperkleidung von Kopf bis Fuß musterte.

Sie setzten sich an einen Tisch am Fenster. Von hier aus konnte man auf die Mainstreet schauen, ohne sich den Hals zu verrenken.

Der Kellner kam. Lassiter bestellte Eier mit Speck und Kaffee nach Cowboy-Art.

»Ich nehm dazu einen Whiskey«, sagte Jane. »Ruhig in einem großen Glas.« Als der Kellner ging, legte sie vertraulich ihre rechte Hand auf Lassiters linke. »Ich habe lange nach dir gesucht«, verkündete sie. »Erst vor ein paar Tagen bekam ich die Nachricht, dass du auf dem Weg nach Cheyenne Wells bist.«

Lassiter horchte auf. »Wer hat’s dir geflüstert?«

Jane lächelte. »Schon vergessen, dass ich meine Quellen niemals verrate?«

»Und wenn ich dir den Whiskey bezahle?«

Sie lachte. »Keine Chance, mein Lieber.«

»Schade.« Er hob die Achseln. »Dein Zuträger scheint ein findiges Kerlchen zu sein.« Er grinste, während Jane eine Zigarette entzündete und sich in Rauch hüllte.

Der Kellner brachte die Getränke. Jane langte nach dem Whiskey und leckte sich genießerisch die Lippen. Dann warf sie den Kopf in den Nacken, leerte das Glas in einem Zug und rollte mit den Augen. »Tod und Teufel«, keuchte sie. »Das war allerhöchste Eisenbahn. Seit gestern Nachmittag stehe ich auf dem Schlauch. Nicht einen Tropfen hab ich getrunken.«

»Du Ärmste. Wenn ich Zeit habe, bedaure ich dich.« Lassiter nippte an seinem Kaffee. »Warum wolltest du mich treffen?«, fragte er dann. »Das Zimmermädchen meinte, es ginge um Leben und Tod.«

Jane leckte den letzten Tropfen aus ihrem Glas, dann bedachte sie Lassiter mit einem verschwörerischen Blick. »Ich will, dass du einen Mann für mich findest«, sagte sie.

»Oha – du willst heiraten?«

Sie ging nicht auf den scherzhaften Ton ein. »Ich will, dass du einen Mörder für mich findest«, antwortete sie.

»Einen Mörder?«

»Er hat einen Freund von mir getötet.« Jane saugte an ihrer Zigarette. »Abgestochen wie ein Schwein auf der Schlachtbank. Einfach grauenhaft! Cale Roberts war ein herzensguter Mensch. Stell dir vor: Er hat mir einen Heiratsantrag gemacht, und das im nüchternen Zustand.«

Ein Mann, der Calamity Jane heiraten wollte? Lassiter verbarg sein Erstaunen. Dieser Cale Roberts musste ein sehr ungewöhnlicher Mensch gewesen sein.

Jäh packte Jane sein Handgelenk. »Seit Cales Tod sind nur ein paar Tage vergangen. Es reißt mir das...