Sommergeschichten (eBook)
272 Seiten
Diogenes (Verlag)
978-3-257-61035-2 (ISBN)
Anton Cechov wurde 1860 in Taganrog, Südrussland, geboren, wuchs in ärmlichen Verhältnissen auf und studierte dank eines Stipendiums in Moskau Medizin. Den Arztberuf übte Cechov nur kurze Zeit aus. Der Erfolg seiner Theaterstücke und Erzählungen machte ihn finanziell unabhängig. Seine Lungentuberkulose jedoch erzwang immer häufigere Aufenthalte in südlichem Klima, so dass Cechov auf die Krim übersiedelte. 1901 heiratete er die Schauspielerin Olga Knipper. Er starb 1904 in Badenweiler.
Einer von vielen
Eine Stunde vor Abfahrt des Zuges in die Sommerfrische kommt ein Familienvater, einen gläsernen Lampenschirm, ein Spielzeugfahrrad und einen Kindersarg in den Händen, zu seinem Freund und sinkt entkräftet auf den Divan.
– Mein Lieber, Liebster … – murmelt er, keuchend und mit fahrigem Blick. – Ich habe eine Bitte an dich. Ich flehe dich an um Christi willen … leih mir bis morgen deinen Revolver. Sei ein Freund.
– Wozu brauchst du einen Revolver?
– Ich brauche ihn … Oh, mein Gott! Gib mir Wasser. Schnell, Wasser! … Ich brauche ihn … Nachts muß ich durch einen dunklen Wald, und da dachte ich … für alle Fälle … Leih ihn mir, sei so gut! …
Der Freund blickt in das bleiche, verquälte Gesicht des Familienvaters, auf die schweißbedeckte Stirn, in die Wahnsinnsaugen und zuckt die Achseln.
– Ivan Ivanyč, du lügst doch! – sagt er. – Was, beim Teufel, redest du da von einem dunklen Wald? Wahrscheinlich hast du etwas vor! Ich sehe es dir an, du hast etwas Ungutes vor! Was ist los mit dir? Wozu schleppst du einen Kindersarg mit dir herum? Hör zu, dir ist schlecht!
– Wasser … Oh, mein Gott … Warte, laß mich verschnaufen … Ich bin hundemüde. Im ganzen Körper und in der Birne habe ich ein Gefühl, als hätte man mir alle Adern und Sehnen herausgezogen und am Spieß gebraten … Ich kann es nicht mehr ertragen … Sei ein Freund, frage nicht, vertief dich nicht in Einzelheiten … gib mir den Revolver! Ich flehe dich an!
– Jetzt reichts! Ivan Ivanyč, was für ein Kleinmut? Familienvater, Staatsrat! Schäm dich!
– Du hast leicht reden … andere zu beschämen, während du hier in der Stadt lebst und diese verfluchte Sommerfrische nicht kennst … Gib mir noch Wasser … Wenn du an meiner Stelle lebtest, du würdest anders reden … Ich bin ein Märtyrer! Ich bin ein Packesel, ein Sklave, ein Schurke, der immer noch etwas erwartet, statt sich endlich ins Jenseits zu befördern! Ein Waschlappen, ein Trottel, ein Idiot! Wozu lebe ich? Wofür?
Der Familienvater springt auf und beginnt, verzweifelt in die Hände klatschend, im Kabinett auf und ab zu schreiten.
– Sage du mir: wofür lebe ich? – schreit er, springt auf den Freund zu und packt ihn am Knopf. – Wozu diese ununterbrochene Kette moralischer und physischer Leiden! Ich begreife ja, Märtyrer für eine Idee zu sein, jawohl. Aber Märtyrer weiß der Teufel wofür, für Damenröcke und Kindersärge, nein – ergebenster Diener! Nein, nein, nein! Mir reicht es! Es reicht!
– Schrei nicht so, die Nachbarn können es hören!
– Sollen es auch die Nachbarn hören, ist mir doch egal! Gibst du mir den Revolver nicht, gibt ihn mir ein anderer, ich werde nicht länger leben! Es ist beschlossen!
– Warte, du hast mir den Knopf abgerissen … Sprich klar und deutlich. Ich begreife immer noch nicht, worin dein Leben so schlecht sein soll.
– Worin? Du fragst: worin? Bitte sehr, ich werd es dir erzählen! Bitte sehr! Ich werde dir alles sagen, das wird mich womöglich erleichtern. Setzen wir uns … Ich werde mich kurz fassen, ich muß nämlich gleich zum Bahnhof fahren und außerdem noch bei Tjutrjumov vorbei und zwei Dosen Sprotten bei ihm holen und ein Pfund kandierte Früchte für Marja Osipovna, mögen ihr die Teufel im Jenseits die Zunge rausreißen! Also, hör zu … Nehmen wir zum Beispiel nur den heutigen Tag. Nehmen wir ihn. Wie du weißt, habe ich von morgens um zehn Uhr bis um vier in der Kanzlei zu schmoren. Die Affenhitze, die Schwüle, die Fliegen – und ein unbeschreibliches Chaos. Der Sekretär hat Urlaub genommen, Chrapov ist auf Hochzeitsreise, das Schreibergemüse ist übergeschnappt vor Sommerfrische, Amouren und Liebhaberaufführungen. Alle sind verschlafen, entkräftet, übermüdet, erschöpft, es kommt nichts Sinnvolles heraus, nichts zu machen, weder mit gutem Zureden noch mit Gebrüll … Den Sekretär vertritt ein Subjekt, auf dem linken Ohr taub und verliebt, das kaum die Eingangs- von der Ausgangspost unterscheiden kann; der Trottel bringt nichts zustande, ich muß alles selber machen. Ohne den Sekretär und ohne Chrapov weiß niemand, wo was liegt, wohin was zu schicken ist, und die verblödeten Bittsteller, alle rennen irgendwohin und haben es eilig, sind zornig, drohen – ein solcher Schlamassel, daß man nach der Polizei rufen möchte. Ein Tohuwabohu und Höllengezänk … Dann die Satansarbeit: ein und dasselbe, ein und dasselbe, Anfrage, Stellungnahme, Anfrage, Stellungnahme – eintönig wie das Meeresrauschen. Verstehst du, dir fallen die Augen aus dem Kopf, und dann läßt sich zu meinem Leidwesen mein Chef auch noch scheiden und leidet an Ischias; er jammert und greint, daß es nicht auszuhalten ist. Es ist unerträglich!
Der Familienvater springt auf und setzt sich gleich wieder.
– All das sind Lappalien, hör zu, wie es weitergeht! – sagt er. – Du kommst aus der Behörde zerschlagen, gerädert; du möchtest essen gehn und dich aufs Ohr hauen, aber nein, denk dran, du hast ein Sommerhaus, d.h. du bist ein Sklave, ein Dreck, ein Packesel, also hast du alter Hundesohn jetzt durch die Stadt zu rennen und Aufträge zu erledigen. Es ist doch mittlerweile die liebe Gewohnheit bei uns: wenn jemand aus der Sommerfrische in die Stadt fährt, dann ist, von der Frau Gemahlin zu schweigen, jedes Geschmeiß, jede Laus befugt und berechtigt, ihm einen Haufen Aufträge aufzubinden. Die Frau Gemahlin verlangt, daß ich zur Modistin fahre und sie beschimpfe, weil das Kleid in der Taille zu weit und in den Schultern zu eng ist; Sonečkas Schuhe müssen umgetauscht werden, für die Frau Schwägerin ponceaurote Seide zu 20 Kop. nach Muster und drei Ellen Tresse … Hier, warte, ich lese es dir gleich vor.
Der Familienvater zieht einen zerknüllten Zettel aus der Westentasche und liest in rasender Wut:
– »Lampenschirm; 1 Pfund Schinkenwurst; Nelken und Zimt zu 5 Kop.; Rizinusöl für Miša; 10 Pf. Puderzucker; von zu Hause: den Kupferkessel und den Mörser für Zucker; Karbolsäure und persisches Pulver zu 20 Kop.; 20 Flaschen Bier, 1 Flasche Essigessenz; Korsett für m-lle Chanson Gr. 82 bei Gvozdev und von zu Hause Mišas Übergangsmantel und Galoschen mitbringen.« Das ist der Tagesbefehl der Gemahlin und Familie. Jetzt die Aufträge der lieben Bekannten und Nachbarn, der Teufel soll sie verschlingen! Bei Vlasins hat Volodja morgen Namenstag, für ihn soll ich ein Fahrrad mitbringen; den Kurkins ist ein Säugling krepiert, also muß ich einen Sarg kaufen; Marja Michajlovna kocht Varenje, deshalb muß ich für sie täglich ein halbes Pud Zucker schleppen; Frau Oberstleutnant Vichrin ist in anderen Umständen; ich bin nicht im Traume daran schuld, aber aus irgendeinem Grunde bin ich verpflichtet, zur Hebamme zu fahren und sie um ihren Besuch zu bitten … Gar nicht zu reden von Aufträgen dieser Art wie Briefe besorgen, Wurst, Telegramme, Zahnpulver. Fünf Zettel habe ich in der Tasche! Aufträge abzulehnen ist unmöglich: das ist unanständig, unliebenswürdig! Der Teufel soll sie holen! Jemandem ein Pud Zucker und die Hebamme aufhalsen – das ist anständig, aber es ablehnen – quel horreur, es gibt nichts Unanständigeres! Lehne ich den Kurkins etwas ab, geht als erste die liebe Frau Gemahlin auf die Barrikaden: was wird Fürstin Marja Alekseevna dazu sagen?! … oh! ach! dann kannst du dich vor Ohnmachtsanfällen nicht mehr retten, zum Teufel! Ja, mein Lieber, so rennst du in der Zeit zwischen Dienst und Zug durch die Stadt, rennst, rennst und verfluchst das Leben. Vom Warenhaus in die Apotheke, von der Apotheke zur Modistin, von der Modistin in den Wurstladen, von dort wieder in die Apotheke. Hier rutschst du aus, dort vergißt du dein Geld, an der dritten Stelle vergißt du zu bezahlen, und man jagt dir mit Geschrei hinterher, an der vierten Stelle trittst du einer Dame auf die Schleppe … Phu! Die Hetzerei macht dich rasend und zugleich so kaputt, daß dir danach die ganze Nacht die Knochen knacken und sämtliche Sehnen weh tun. Also schön, die Aufträge sind erledigt, alles ist eingekauft, aber wie verpackst du jetzt die ganze Musik? Wie verpackst du einen schweren Messingmörser nebst Stößel mit einem Lampenschirm oder das Karbolfläschchen mit dem Tee. Laß dir was einfallen. Wie bringst du die Bierflaschen mit diesem Fahrrad unter einen Hut? Nein, das ist eine ägyptische Plage, eine Denksportaufgabe, ein Rebus! Aber wie dus auch verpackst, wie dus auch verschnürst, sei sicher, am Ende geht doch etwas zu Bruch, und du verschüttest was, und auf dem Bahnhof und im Zug stehst du wie eine Vogelscheuche, die Arme verrenkt, verhakt, mit dem Kinn klemmst du irgendein Bündel auf die Brust, vollbehängt mit Tüten, Schachteln und anderem Mist. Und fährt der Zug an, schleudern die Leute dein Gepäck in alle Richtungen: du hast mit deinem Gepäck fremde Plätze belegt. Die Leute schreien, rufen nach dem Schaffner, drohen dich rauszuwerfen, aber was soll ich machen? Ich kann die Sachen doch nicht zum Fenster rauswerfen! Sie hätten sie aufgeben müssen! Leicht gesagt, aber dazu braucht man eine Kiste, muß den ganzen Mist verpacken, und wo soll ich jeden Tag eine Kiste hernehmen, in die ich neben den Lampenschirm den Messingstößel lege? So ist der Zug erfüllt von Geheul und Zähneknirschen, die ganze...
Erscheint lt. Verlag | 22.4.2020 |
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Übersetzer | Peter Urban |
Verlagsort | Zürich |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Klassiker / Moderne Klassiker |
Literatur ► Romane / Erzählungen | |
Schlagworte | 19. Jahrhundert • Anton • Erzählung • Erzählungen • Flüsse • Klassiker • Natur • Peter Urban • Russland • Sammlung • Sommer • Sommerbekanntschaften • Sommerfrische • Tschechow • Tschechow, Anton • Wald |
ISBN-10 | 3-257-61035-1 / 3257610351 |
ISBN-13 | 978-3-257-61035-2 / 9783257610352 |
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