Gone Baby Gone -  Dennis Lehane

Gone Baby Gone (eBook)

Ein Fall für Kenzie & Gennaro
eBook Download: EPUB
2020 | 1. Auflage
576 Seiten
Diogenes (Verlag)
978-3-257-61017-8 (ISBN)
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Als die vierjährige Amanda entführt wird, beginnen Patrick Kenzie und Angela Gennaro ihre Suche in den einschlägigen Kreisen, was selbst die hartgesottenen Ermittler an ihre Grenzen bringt. Bis sich herausstellt, dass sie von gänzlich unerwarteter Seite auf eine falsche Fährte gelockt wurden und jemand wissentlich mit ihrem Leben gespielt hat. Kenzie und Gennaro müssen sich entscheiden: für Recht und Gesetz oder für ihre Menschlichkeit.

Dennis Lehane, irischer Abstammung, geboren 1965 in Dorchester, Massachusetts, hat bisher 14 Romane veröffentlicht, vier davon wurden verfilmt, darunter die Weltbestseller ?Shutter Island? und ?Mystic River?. Lehane unterrichtete Kreatives Schreiben unter anderem an der Harvard University und ist erfolgreicher Produzent und Drehbuchautor, zuletzt für die Apple-TV+-Serie ?In with the Devil?. Dennis Lehane lebt in Südkalifornien.

ERSTER TEIL Indian Summer, 1997


1


Tag für Tag werden in den USA zweitausenddreihundert Kinder vermisst gemeldet.

Ein Großteil wird von einem Elternteil entführt, das mit dem anderen zerstritten ist, und in über fünfzig Prozent der Fälle ist der Aufenthaltsort des Kindes bekannt. Die Mehrheit dieser Kinder kehrt innerhalb einer Woche zurück.

Dann gibt es die Ausreißer. Auch hier bleibt der Großteil von ihnen nicht lange fort; meist findet man sie in kürzester Zeit – für gewöhnlich im Haus von Freunden.

Anders ist es bei denen, die zu Hause vor die Tür gesetzt werden oder weglaufen, ohne dass die Eltern die Suche nach ihnen aufnehmen. Dies sind zumeist die Kinder, die die Notunterkünfte und Busbahnhöfe bevölkern, in Rotlichtbezirken an den Straßenecken herumlungern und schließlich im Gefängnis landen.

Von den mehr als achthunderttausend Kindern, die landesweit Jahr für Jahr als vermisst gemeldet werden, fallen nur etwa dreieinhalb- bis viertausend in die Kategorie der nicht familiären Entführungen, wie es das Justizministerium nennt, also Fälle, bei denen die Polizei recht schnell ausschließen kann, dass das Kind von einem Familienmitglied entführt wurde, ausgerissen ist oder rausgeworfen wurde, sich verlaufen hat oder gar verletzt wurde.

Von ihnen verschwinden jedes Jahr dreihundert Kinder, die nie wiederauftauchen.

Niemand – weder Eltern, Freunde noch Gesetzeshüter, weder Fürsorgeeinrichtungen noch Vermisstenstellen – weiß, wohin diese Kinder geraten. In Gräber womöglich; in Keller oder Häuser von Pädophilen; ins Nichts vielleicht, in die Löcher im Gewebe des Universums, aus denen nie wieder etwas von ihnen hinausdringt.

Wohin diese dreihundert auch gehen, sie bleiben verschwunden. Eine Weile lang verstören diese Fälle die Öffentlichkeit; bei den Menschen, die ihnen nahestehen, dauert es erheblich länger.

Sie sterben nicht, denn es gibt keine Leiche als Beweis dafür. Fortdauernd warnen sie uns vor dem Nichts.

Und bleiben verschwunden.

 

»Meine Schwester«, sagte Lionel McCready, der in unserem Büro im Glockenturm auf und ab ging, »hat ein sehr schweres Leben gehabt.« Lionel war ein großer Mann mit einem schlaffen Bassetgesicht und breiten Schultern, die steil von seinen Schlüsselbeinen abfielen, so als würde dort etwas auf ihnen hocken, das wir nicht sehen konnten. Er hatte ein schüchternes Lächeln, und seine schwielige Hand konnte fest zupacken. Er trug braune UPS-Dienstbekleidung und knetete den Schirm der dazu passenden braunen Baseballmütze in seinen kräftigen Pranken. »Unsere Ma war – na ja, eine Trinkerin, offen gestanden. Und unser Dad hat sich verdrückt, als wir beide noch klein waren. Wenn man so aufwächst, dann – dann – na ja, man entwickelt wohl ziemlich viel Wut. Es dauert eine Weile, bis man zur Vernunft kommt und seinen Weg im Leben findet. Das betrifft nicht nur Helene. Ich mein, ich hatte auch ein paar ernsthafte Probleme, bin mit zwanzig verhaftet worden. Ich war kein Engel.«

»Lionel«, mahnte seine Frau.

Er hob eine Hand, so als müsse er das endlich mal alles loswerden, sonst würde er das nie wieder schaffen. »Ich hatte Glück. Ich habe Beatrice kennengelernt und mein Leben auf die Reihe gekriegt. Was ich damit sagen will, Mr. Kenzie, Miss Gennaro, wenn man genug Zeit hat und die paar Brüche übersteht, dann wird man erwachsen. Man schüttelt diesen Mist ab. Meine Schwester wird erst noch erwachsen, mehr will ich gar nicht sagen. Sie hat ein schweres Leben gehabt und –«

»Lionel«, sagte seine Frau, »hör auf, andauernd nach irgendwelchen Entschuldigungen für Helene zu suchen.« Beatrice McCready fuhr sich mit einer Hand durch das kurze erdbeerrote Haar und sagte: »Liebling, setz dich. Bitte.«

»Ich versuche doch nur zu erklären«, sagte Lionel, »dass Helene kein leichtes Leben gehabt hat.«

»Du auch nicht«, meinte Beatrice, »und du bist ein guter Vater.«

»Wie viele Kinder haben Sie denn?«, fragte Angie.

Beatrice lächelte. »Eins. Matt. Er ist fünf. Er wohnt bei meinem Bruder und seiner Frau, bis wir Amanda gefunden haben.«

Lionel schien bei der Erwähnung seines Sohnes ein wenig aufzuleben. »Er ist ein toller Junge«, sagte er, doch sein Stolz schien ihm ein wenig peinlich zu sein.

»Und Amanda?«, fragte ich.

»Amanda ist auch ein großartiges Kind«, sagte Beatrice. »Und sie ist viel zu jung, um allein dort draußen zu sein.«

Amanda McCready war vor drei Tagen aus der Nachbarschaft verschwunden. Seitdem schien ganz Boston besessen darauf herauszufinden, wo sie sich aufhielt. Die Polizei hatte mehr Männer auf die Suche geschickt als bei der Jagd auf John Salvi nach der Schießerei in der Abtreibungsklinik vor vier Jahren. Der Bürgermeister hatte eine Pressekonferenz abgehalten, auf der er verkündet hatte, dass alle Stadtangelegenheiten auf Eis liegen würden, bis Amanda gefunden worden sei. Die Berichterstattung war umfassend: jeden Morgen die Titelseiten der beiden Zeitungen, am Abend die Hauptmeldung in den führenden drei Nachrichtensendungen, stündliche Updates zwischen den Seifenopern und Talkshows.

Und nach drei Tagen – nichts. Keine Spur von ihr.

Als Amanda McCready verschwand, war sie vier Jahre und sieben Monate auf der Welt gewesen. Ihre Mutter hatte sie Sonntagabend zu Bett gebracht, hatte gegen halb neun nach ihr gesehen und am Morgen kurz nach neun in ihr Bett geschaut, doch es war leer gewesen bis auf den knittrigen Abdruck auf dem Laken.

Verschwunden waren auch die Kleidungsstücke, die Helene McCready für ihre Tochter bereitgelegt hatte – pinkfarbenes T-Shirt, Jeansshorts, pinkfarbene Socken und weiße Turnschuhe, ebenso Amandas Lieblingspuppe, die blondhaarige Nachbildung einer Dreijährigen, die eine geradezu unheimliche Ähnlichkeit mit ihrer Besitzerin aufwies und die Amanda auf den Namen Pea getauft hatte. Im Zimmer fanden sich keinerlei Spuren eines Kampfs.

Helene und Amanda wohnten im ersten Stock eines dreigeschossigen Hauses; zwar wäre es möglich gewesen, dass Amanda von jemandem entführt worden war, der eine Leiter an ihr Schlafzimmerfenster gestellt und das Fliegengitter aufgedrückt hatte, um einzudringen, doch das war unwahrscheinlich. Fliegengitter und Fensterbretter wiesen keinerlei Spuren auf, und im Boden am Fuß des Hauses gab es auch keine Leiterabdrücke.

Erheblich wahrscheinlicher war, wenn man mal davon ausging, dass eine Vierjährige sich nicht plötzlich dazu entschloss, mitten in der Nacht allein das Haus zu verlassen, dass der Entführer die Wohnung durch die Wohnungstür betreten hatte, ohne das Schloss zu knacken oder die Scharniere aus den Zargen zu hebeln, denn all das war bei einer Tür, die nicht abgeschlossen worden war, völlig unnötig.

Als diese Information an die Öffentlichkeit kam, musste sich Helene McCready von der Presse einiges anhören. Vierundzwanzig Stunden nach dem Verschwinden Amandas stand in der News, Bostons Klatschzeitungspendant zur New York Post, folgende Schlagzeile:

HEREINSPAZIERT:

Mutter der kleinen Amanda lässt Tür unverschlossen

Unter der Überschrift befanden sich zwei Fotos, eins von Amanda, das andere von der Wohnungstür. Die Tür stand sperrangelweit offen, was, wie die Polizei mitteilte, nicht der Situation am Morgen von Amanda McCreadys Verschwinden entsprach. Nicht abgeschlossen, ja; weit geöffnet, nein.

Ein Unterschied, für den sich der Großteil der Stadt allerdings nicht interessierte. Helene McCready hatte ihre vierjährige Tochter allein in einer unverschlossenen Wohnung gelassen und war nach nebenan in die Wohnung ihrer Freundin Dottie Mahew gegangen. Die beiden hatten ferngesehen – zwei Sitcoms und den Film der Woche mit dem Titel Her Father’s Sins, mit Suzanne Somers und Tony Curtis. Nach den Nachrichten hatten sie die Hälfte der Wochenendausgabe von Entertainment Tonight geschaut, dann war Helene nach Hause gegangen.

Amanda McCready war etwa drei Stunden und fünfundvierzig Minuten allein in einer unverschlossenen Wohnung zurückgelassen worden. Irgendwann in diesem Zeitraum, so die Vermutung, war sie entweder weggelaufen oder entführt worden.

Angie und ich hatten den Fall so genau verfolgt wie der Rest der Stadt, und wir waren ebenso ratlos wie alle anderen. Helene McCready hatte eingewilligt, sich einem Lügendetektortest zu unterziehen, und bestanden. Die Polizei hatte nicht eine einzige Spur gefunden, der sie hatte folgen können; den Gerüchten zufolge wandte sie sich sogar an Personen mit übersinnlichen Fähigkeiten. Nachbarn meldeten, sie hätten in jener Nacht, einer warmen Spätsommernacht, in der die meisten Fenster offen waren und überall Leute auf den Straßen, nichts Verdächtiges bemerkt und nichts gehört, das Kinderschreien geähnelt hätte. Niemand erinnerte sich daran, eine Vierjährige allein herumwandern gesehen oder Personen bemerkt zu haben, die entweder ein Kind oder ein merkwürdig aussehendes Bündel bei sich gehabt hätten.

Amanda McCready war, soweit das irgendjemand beurteilen konnte, spurlos verschwunden.

 

Ihre Tante Beatrice McCready hatte uns am Nachmittag angerufen. Ich drückte ihr gegenüber meine Zweifel aus, dass wir viel mehr tun könnten als zig Polizisten, die Hälfte der Bostoner Reporter und tausende von Mitbürgern ihrer Nichte wegen schon taten.

»Mrs. McCready«, sagte ich, »sparen Sie sich das...

Erscheint lt. Verlag 22.4.2020
Reihe/Serie Kenzie & Gennaro
Kenzie & Gennaro
Übersetzer Peter Torberg
Verlagsort Zürich
Sprache deutsch
Original-Titel Gone, Baby, Gone
Themenwelt Literatur Krimi / Thriller / Horror Krimi / Thriller
Schlagworte Affleck • Affleck, Ben • Ben • Blockbuster • Boston • Crime • ED • Entführung • Ermittler • Freeman • Freeman, Morgan • Harris • Harris, Ed • HBO • Krimi • Missbrauch • Morgan • Mystic River • pädophil • Privatdetektiv • Shutter Island • Spannung • Thriller • Unterwelt
ISBN-10 3-257-61017-3 / 3257610173
ISBN-13 978-3-257-61017-8 / 9783257610178
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