Du bist die Nächste - Rachel Dylan

Du bist die Nächste

(Autor)

Buch | Softcover
344 Seiten
2020 | 1. Auflage
Francke-Buch (Verlag)
978-3-96362-123-9 (ISBN)
16,00 inkl. MwSt
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Voller Engagement stürzt sich die Staatsanwältin Sophie Dawson in ihren nächsten großen Fall: Sie will Anklage gegen einen Bankangestellten erheben, der seit Jahren seine Klienten betrügt.
Als sie zufällig gleich zwei kaltblütige Morde beobachtet, steht ihr Leben schlagartig kopf. Jetzt muss sie nicht nur als Hauptzeugin aussagen, sondern zugleich um ihre Karriere und ums Überleben kämpfen. Ihr Chef macht ihr einen ungeheuren Druck und irgendjemand will sie mit aller Macht daran hindern, vor Gericht zu erscheinen.
Nicht nur für Sophie beginnen harte Zeiten. Auch für den Personenschützer Cooper Knight, den man gegen ihren Willen angeheuert hat.

Rachel Dylan arbeitete mehr als acht Jahre als Prozessanwältin für eine namhafte amerikanische Kanzlei. Heute ist sie als Justiziarin für einen der größten Automobilhersteller der USA tätig und schreibt christliche Romane, die in der Gerichtswelt spielen. Zusammen mit ihrem Mann, zwei Hunden und drei Katzen lebt sie in Michigan.

Kapitel 1 »Schuldig. Das ist das einzig mögliche Urteil. Sehr geehrte Damen und Herren Geschworenen, der Geschäftsführer der Banton Corporation, Felix Sanders, veruntreut seit fünf Jahren Gelder.« Sophie Dawson holte tief Luft und fuhr dann mit ihrem Schlussplädoyer fort. Währenddessen stellte sie Blickkontakt zu jedem einzelnen der zwölf Jurymitglieder her, die das Schicksal des betrügerischen Unternehmers besiegeln würden. »Im Verlauf der letzten Woche haben Sie nicht nur die Zeugenaussagen von anderen Angestellten der Banton Corporation gehört, sondern auch die unserer Buchprüfungsexperten für Wirtschaftskriminalität. Wie diese Fachleute ausgesagt haben, besteht kein Zweifel daran, dass Mr Sanders Geld von den Konten etlicher Banton-Investoren abgezweigt und auf seine private Schmiergeldkasse transferiert hat, die sich auf einem Schweizer Bankkonto befindet.« Wenn sie diesen Fall verlor, hatte sie die Kündigung verdient. Die Beweise gegen Sanders waren hieb- und stichfest. Es kam nicht oft vor, dass ein Fall so wasserdicht war. »Die Verteidigung will Sie glauben machen, dass jede einzelne dieser Transaktionen auf einen Buchungsfehler zurückzuführen ist, aber jetzt, nachdem Sie alle Beweise gehört und gesehen haben, stimmen Sie mir sicherlich zu, dass man zu diesem Schluss unmöglich kommen kann. Ich möchte Sie daran erinnern, dass wir von Hunderten Transaktionen über einen Zeitraum von fünf Jahren sprechen. Die Verteidigung verlangt von Ihnen, dass Sie jede Logik in den Wind schlagen und an ein Märchenland glauben, das es nicht gibt. Unsere Aufgabe als Staatsanwaltschaft ist es, Beweise für die Schuld des Angeklagten zu erbringen, und genau das haben wir getan.« Dies war einer ihrer ersten wichtigen Geschworenenprozesse, seit sie in der Abteilung für Wirtschaftskriminalität der Bezirksstaatsanwaltschaft von Fulton County angefangen hatte. Von den allgemeinen Straffällen in die Wirtschaftsabteilung versetzt zu werden, war eine Beförderung gewesen, aber Finanzverbrechen waren nicht ganz so aufregend wie Mord. Und in diesem konkreten Fall waren die Opfer nicht individuelle Verbraucher, sondern andere wohlhabende Hedgefonds-Manager. Trotzdem hatten sie Gerechtigkeit verdient, denn ihnen war Geld gestohlen worden. Was Sanders getan hatte, war strafbar und Sophie nahm ihre Aufgabe als Staatsanwältin sehr ernst. Nachdem sie mit den Geschworenen die weiteren Beweise durchgegangen war, war die Verteidigung mit ihrem Schlussplädoyer an der Reihe. Sanders hatte einen bekannten Verteidiger von Peters & Gomez angeheuert, aber selbst ein teurer Staranwalt würde ihn nicht vor einer Verurteilung retten können. Während der Verteidiger redete und versuchte, Schwächen in ihrer Argumentation zu finden, schweiften Sophies Gedanken ein wenig ab. Sie fand, dass es ein strategischer Fehler des gegnerischen Anwalts war, so langatmig zu reden. Die Geschworenen saßen schon die ganze Woche hier, also waren sie so weit, dass sie ihre Meinung sagen und die Sache hinter sich bringen wollten. Aber sie war keine Verteidigerin und verspürte auch nicht das Bedürfnis, eine zu sein. Wenn das die Strategie war, die der Mann verfolgen wollte, war es nicht an ihr, ihn zu kritisieren. Als der gegnerische Anwalt sich endlich setzte, gab der Richter den Geschworenen die nötigen Anweisungen. Dann wurden sie entlassen, um sich zu besprechen. Jetzt konnte Sophie nur noch warten. Es konnte Minuten dauern oder Stunden oder sogar Tage, bis die Geschworenen mit einem Urteil zurückkamen, doch sie hoffte, dass es schnell gehen würde. Wenn es zu lange dauerte, würde sie anfangen, sich Sorgen zu machen. Sophie war gerade dabei, ihre Sachen zusammenzupacken, als der gegnerische Anwalt, John Gomez, auf sie zukam. Sanders bezahlte ihm, einem Partner und Mitbegründer der Kanzlei, wahrscheinlich mehr als tausend Dollar die Stunde. Ihrer Meinung nach eine absurde Summe für einen Rechtsbeistand. »Das war ein sehr beeindruckendes Schlussplädoyer, Ms Dawson.« John Gomez strich seine maßgeschneiderte dunkelblaue Anzugjacke glatt. »Danke.« Sophie vermutete, dass der Staranwalt in den Fünfzigern war. Seine kurzen dunklen Haare waren an den Schläfen bereits grau gesprenkelt. Sie war sich nicht sicher, warum er sie angesprochen hatte. Sie war nur eine von vielen Vertretern der Staatsanwaltschaft von Fulton County und er war einer der Top-leute in der Juristenszene. Dass er eine der angesehensten Anwaltskanzleien der Stadt mit begründet hatte, ließ die meisten Leute vor Ehrfurcht erstarren. Aber Sophie war von seiner Macht und seinem Einfluss nicht besonders beeindruckt. Andere Eigenschaften hatten mehr Wirkung auf sie. John trat einen Schritt näher. »Sie haben sehr viel Ausstrahlung, trotz einiger Ecken und Kanten.« »Wie bitte?« Es war nicht das erste Mal, dass ein gegnerischer Anwalt sie mit unerwünschten Kommentaren über ihr Auftreten bedachte. Als relativ junge Frau mit einem eher kindlichen Gesicht und blonden Haaren musste sie sich ständig beweisen. »Das war ein Kompliment. Und zwar ein so ernst gemeintes, dass ich Ihnen gerne ein Angebot machen würde. Überlegen Sie sich doch mal, ob Sie nicht zu uns kommen wollen. Ich bin mir sicher, dass ich Ihr jetziges Gehalt mindestens verdreifachen kann, und wir können immer Spitzentalente mit echter Gerichtserfahrung brauchen. Bewährte Prozessanwälte sind Mangelware.« Seine dunklen Augen musterten sie. Ihm war nicht klar, dass sie nicht wegen des Geldes Anwältin geworden war. Sie müsste überhaupt nicht arbeiten, wenn sie nicht wollte, weil sie über ein beträchtliches Treuhandvermögen verfügte, das ihr Vater für sie eingerichtet hatte. Sie war Staatsanwältin, weil sie es gerne war. »Ich weiß Ihr freundliches Angebot zu schätzen, Mr Gomez.« »Bitte nennen Sie mich John.« Er schenkte ihr ein strahlendes Lächeln. »Aber ich habe meine neue Stelle in der Abteilung für Wirtschaftskriminalität gerade erst angetreten und mir gefällt meine Arbeit. Ich kann mir nicht vorstellen, in eine Privatkanzlei zu wechseln.« Genau genommen würde sie das niemals in Betracht ziehen, aber sie hielt es für besser, ihre Erklärungen allgemein zu halten. Es war nicht nötig, dass sie dem Mann ihren persönlichen Hintergrund und ihre Karriereziele erläuterte. John nickte. »Ich verstehe. Falls Sie es sich anders überlegen sollten, wissen Sie ja, wie Sie mich erreichen. Meine Tür steht Ihnen immer offen.« Er legte eine Hand auf ihre Schulter. »Und ich würde Sie gerne einmal zum Essen einladen und weiter darüber reden.« Mit einem Mal wurde ihr unbehaglich zumute. Sophie trat einen Schritt zurück, um etwas Abstand zwischen sich und den Mann zu bringen. »Wie gesagt: Danke, aber ich habe kein Inte-resse. Und es tut mir leid, aber ich muss jetzt los. Es gibt da noch ein paar Dinge, die ich erledigen muss.« »Natürlich. Wir werden ja sehen, wie lange die Geschworenen brauchen, aber es könnte gut sein, dass wir erst nächste Woche eine Entscheidung bekommen.« »Hoffentlich nicht«, murmelte sie. John Gomez lächelte ihr noch einmal mit seinen perfekt polierten weißen Zähnen zu und ging dann davon. Sie atmete erleichtert aus. Puh, das war unangenehm! Vielleicht hatte sie seine Signale ja auch nur falsch interpretiert, aber sie hatte den Eindruck gehabt, dass er mehr an ihr als Frau interessiert gewesen war und weniger als Anwältin. Auch das hatte sie bei männlichen Kollegen leider schon häufiger erlebt. Konnten die Männer sie nicht einfach für die Arbeit wertschätzen, die sie machte, ohne gleich etwas anderes von ihr zu wollen? Kein Wunder, dass sie ihren Märchenprinzen noch immer nicht gefunden hatte, trotz ihrer stetigen Suche. Sophie schüttelte die Begegnung mit John Gomez ab und ging zu ihrem Büro zurück, um sich wieder in die Arbeit zu stürzen. Sie hatte viel zu tun, aber nicht annähernd so viel wie in der allgemeinen Abteilung für Strafrecht. In den vergangenen sieben Jahren war sie beinahe jeden Tag im Gericht gewesen und hatte die Arbeit als Staatsanwältin von der Pike auf gelernt. Jetzt, mit ihrer Erfahrung, hatte sie die Chance, sich von der Menge abzuheben. Sobald sie wieder in ihrem Büro saß, zog sie ihre neueste Prozessakte heraus. Sie hatte gerade angefangen, in einem Fall zu ermitteln, in den die Southern Investment Bank, kurz SIB, verwickelt war. Der Hauptsitz der Bank war in Atlanta und ihren Unterlagen zufolge gab es zahlreiche Klagen gegen einen der leitenden Angestellten namens Glen Shelton. Dies war die Art Fall, in die sie sich richtig reinhängen konnte. Im Gegensatz zu dem Verfahren, das sie gerade abgeschlossen hatte, waren die Opfer hier Menschen, die es sich wirklich nicht leisten konnten, betrogen zu werden. Shelton wurde beschuldigt, seine Kunden zu bestehlen und für jede Transaktion viel zu hohe Gebühren zu berechnen, und zwar so, dass für die Kunden nicht transparent war, dass sie überhaupt Gebühren zahlten, geschweige denn, wofür. Die Klagen waren von kleineren Unternehmen und Einzelpersonen angestrengt worden, die über Shelton Privat- oder kleine Geschäftskredite aufgenommen hatten. Diese Menschen hatten Shelton ihr Geld anvertraut, manchmal sogar ihr gesamtes Erspartes oder ihre ganze Firma, und jetzt war alles weg. Und das nur, weil ein Mann in seiner Gier nicht genug bekommen konnte. Es gab zwar noch jede Menge Lücken in den Ermittlungen, die es zu füllen galt, aber Sophie war ganz entschieden bereit für diesen neuen Fall. Und jetzt, wo sie nicht mehr unter Aktenbergen begraben war, würde sie ihm auch endlich einen Großteil ihrer Zeit widmen können. Ein Adrenalinstoß jagte durch ihren Körper, wenn sie nur daran dachte. Wenn das, was sie über Shelton gelesen hatte, stimmte, dann musste er für sein verbrecherisches Handeln zur Rechenschaft gezogen werden. Aber der Fall würde Fingerspitzengefühl erfordern. Sie war schon lange genug im Geschäft, um zu wissen, dass eine solche Angelegenheit leicht politisch werden konnte. Sehr politisch. Die SIB war eines der angesehensten Geldinstitute in Atlanta und hatte Unmengen an Beziehungen. Die Geschäftsführerin der SIB war eine der mächtigsten Frauen in der Stadt. Momentan hatte Sophie nicht vor, die SIB als Ganzes anzugreifen. Ihr Ziel war lediglich einer ihrer Angestellten. Deshalb hoffte sie auf volle Mitwirkung des Unternehmens, vor allem der Unternehmensleitung, aber verlassen würde sie sich darauf lieber nicht. Jede Art von strafrechtlichen Ermittlungen würde die Geschäftsführung der SIB beunruhigen und das konnte Sophie den Leuten nicht verdenken. Aber sie musste ihre Arbeit machen und hatte nicht vor, sich von dem Ansehen und dem tadellosen Ruf der Bank einschüchtern zu lassen. Sophie war noch immer dabei, sich an ihr neues Büro zu gewöhnen. Es war ein wenig größer als ihr altes, aber immer noch nichts Besonderes. Sie lachte leise, als sie an ihre beiden besten Freundinnen dachte, die in großen Anwaltskanzleien arbeiteten. Sie hatten riesige Büros in Hochhäusern, in denen weiche Sessel mit Blick auf die Skyline von Midtown oder in Richtung Stone Mountain standen, und genossen dazu alle Annehmlichkeiten der Welt, während sie selbst hier in einem Schuhkarton im dritten Stock saß, dessen winziges Fenster den Blick auf das Parkhaus freigab. Das Mobiliar bestand aus einem einsamen Aktenschrank, einem Schreibtisch und drei gewöhnlichen Stühlen. Zusätzlichen Luxus gab es nur, wenn man ihn selbst mitbrachte. So war das Leben als Beamter nun einmal, aber sie wollte es gar nicht anders. Als Sophie das nächste Mal einen Blick auf die Uhr warf, sah sie, dass ihr die Zeit davongelaufen war. So war es bei ihr immer. Oft verließ sie das Büro erst spät am Abend. Noch immer nichts von den Geschworenen, das bedeutete, die Sache würde sich definitiv bis nächste Woche hinziehen, es sei denn, die Jury beschloss, das Wochenende durchzuarbeiten – was unwahrscheinlich war, solange sie nicht ganz kurz vor einem Urteil stand. Sie sollte besser nach Hause gehen. Als Sophie in ihrem Auto saß und den Anlasser betätigte, fing ihr Magen an zu knurren. Mit einem Mal wurde ihr bewusst, dass sie seit dem Frühstück nichts mehr gegessen hatte. Sie verspürte einen plötzlichen Heißhunger auf Junkfood und beschloss, zu der Tankstelle zu fahren, bei der sie sich regelmäßig mit Chips und Schokoriegeln eindeckte. Eine ordentliche Dosis Salz und Zucker würde den Hunger besänftigen. Als sie vor dem kleinen Laden parkte, konnte sie den herrlichen Geschmack von salzigen Chips und Schokolade bereits auf der Zunge schmecken. Wenn sie schon sündigte, dann wenigstens richtig. Aber als sie dann im Laden war und durch die Gänge lief, konnte sie sich nicht entscheiden. Vielleicht sollte sie doch vernünftig sein, sich nur eine Kleinigkeit gegen den ärgsten Hunger kaufen und anschließend versuchen, irgendwo etwas Richtiges, Gesundes zu Abend zu essen. Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. Es war zehn Uhr. Da war es für eine richtige Mahlzeit sowieso zu spät. Sie ging in den hinteren Teil des Geschäfts, um sich einen aromatisierten Eistee zu holen. Während sie die Kühlschranktür öffnete und hin und her überlegte, ob sie Himbeere oder Extra-Süß nehmen sollte, drangen von der Kasse laute Geräusche zu ihr herüber. Sophie drehte sich um und schnappte nach Luft. Ein Mann richtete eine Waffe auf den Kassierer und die beiden brüllten einander an. Ihrem ersten Reflex folgend lief sie zu den Streithähnen, um eine Katastrophe zu verhindern, aber sie hatte erst den halben Gang zurückgelegt, als ein Schuss ertönte. Instinktiv ließ sie sich zu Boden fallen, hob die Hände schützend über ihren Kopf und rutschte hinter einen der Popcornaufsteller. Im Rahmen ihres Jobs hatte sie ein Krisentraining absolviert und so wusste sie, dass es das Beste war, sich unsichtbar zu machen. Sie spähte um den Aufsteller herum und versuchte, dabei den Großteil ihres Körpers versteckt zu halten. Der Schütze drehte sich um und sie konnte sein Gesicht deutlich sehen. Er wirkte jung, war noch keine zwanzig, würde sie sagen. Er schien sie nicht zu bemerken, während er aus der Tankstelle rannte, die Waffe noch in der Hand. Kaum war er durch die Tür verschwunden, sprang Sophie auf und rannte zur Kasse. Der Kassierer lag auf dem Boden in einer schnell wachsenden Blutlache. Sie hockte sich neben ihn und tastete nach seinem Puls. Nichts. Er war tot. Dann hörte sie weitere Schüsse und blickte hinaus. Der Schütze hatte auf dem Weg aus dem Laden das Feuer eröffnet und lief jetzt zu einem mittelgroßen grauen SUV, aber links davon stand noch ein Auto. Die Frau auf der Fahrerseite war hinter dem Wagen in Deckung gegangen, die Arme über dem Kopf, aber die Frau, die auf der Beifahrerseite stand, war völlig ungeschützt und befand sich genau in der Schusslinie des Mannes. Sophie hörte sich selbst eine Warnung schreien, aber es war zu spät. Der Mann feuerte und traf die Frau, die seinem SUV am nächsten stand. Dann sprang er in sein Auto und raste davon. Sophie merkte sich das Kennzeichen des Wagens, während sie hinausrannte, um nach dem Opfer zu sehen. Die andere Frau stand über ihre Freundin gebeugt da und schrie hysterisch. »Keine Angst«, sagte Sophie in dem Versuch, sie zu beruhigen. »Rufen Sie 911 an!« Die Frau nickte, während ihr unablässig Tränen über die geröteten Wangen liefen, und zog ihr Handy heraus. Sophie wandte ihre Aufmerksamkeit der Frau zu, die auf dem Boden lag. Auch sie war von einer Blutlache umgeben. Jetzt, wo Sophie das Opfer genauer betrachtete, fiel ihr auf, dass die zierliche Brünette kaum älter als ein Teenager aussah. Die Kugel hatte sie in den Kopf getroffen. Diesmal brauchte Sophie nicht einmal den Puls zu fühlen. Sie wusste schon, was dabei herauskommen würde. Diese junge Frau war tot. Wahrscheinlich hatte der Kopfschuss sie sofort getötet. Herr, sie sind beide tot. Bitte hilf mir. Lass mich die Ruhe bewahren und jetzt nicht zusammenklappen. Es gab nichts, was sie für die getroffene Frau tun konnte, also nahm sie der anderen Frau das Telefon aus der Hand, da diese vor Schock zitterte und kaum ein Wort über die Lippen brachte. Sophie informierte die Notrufzentrale über das, was geschehen war, und gab das Kennzeichen des Fahrzeugs durch. Der Schütze würde den Wagen wahrscheinlich so schnell wie möglich loszuwerden versuchen, also hatten sie nicht viel Zeit, ihn anhand des Nummernschildes zu finden. Sophie legte einen Arm um die Frau, die ihre Freundin verloren hatte. »Sie sind in Sicherheit. Niemand wird Ihnen etwas tun.« Die Frau antwortete nicht, sondern schluchzte nur. Kurz darauf erfüllte der schrille Klang von Sirenen die Nachtluft. Für Sophie war ein Tatort nichts Neues. Sie hatte schon mehr davon gesehen, als sie zählen konnte. Aber das hier war etwas anderes. An diesem Abend war sie nicht als Staatsanwältin hier, sondern als Zeugin. Zum Glück kannte sie einen der beiden Beamten, die aus dem Wagen stiegen. Officer Carlos Wall riss die Augen auf, als er sie sah. »Sophie«, sagte er. »Wie bist du denn so schnell hierhergekommen?« Dann fiel sein Blick auf ihre Hände und ihre sandfarbene Anzugjacke, die mit leuchtend rotem Blut befleckt waren. »Sophie? Was ist passiert?« »Ich wollte mir hier eine Kleinigkeit zu essen kaufen, Carlos. Ich habe alles gesehen.« Sie konnte hören, dass ihre Stimme brach, aber sie musste stark bleiben und dafür sorgen, dass die Polizisten alle Informationen bekamen, die sie brauchten. Dies war nicht der richtige Zeitpunkt, um Emotionen zu zeigen. Sie musste durchhalten und sich konzentrieren. Carlos murmelte etwas und wandte sich dann an seinen Partner, der neben ihm stand. »Sie ist eine von uns«, sagte er. »Staatsanwältin.« Sie machte sich nicht die Mühe, auf ihre Beförderung hinzuweisen. Das spielte jetzt keine Rolle. »Ihr Name ist Sophie Dawson. Sophie, das ist Officer Peter Gray«, sagte Carlos. Dann sah er Peter an. »Du solltest Sophies Aussage aufnehmen.« »Drinnen ist noch eine Leiche«, sagte sie leise. »Er hat zwei Menschen getötet.« »Dann bist du also Zeugin eines Doppelmordes«, konstatierte Carlos.

Kapitel 1

"Schuldig. Das ist das einzig mögliche Urteil. Sehr geehrte Damen und Herren Geschworenen, der Geschäftsführer der Banton Corporation, Felix Sanders, veruntreut seit fünf Jahren Gelder." Sophie Dawson holte tief Luft und fuhr dann mit ihrem Schlussplädoyer fort. Währenddessen stellte sie Blickkontakt zu jedem einzelnen der zwölf Jurymitglieder her, die das Schicksal des betrügerischen Unternehmers besiegeln würden.
"Im Verlauf der letzten Woche haben Sie nicht nur die Zeugenaussagen von anderen Angestellten der Banton Corporation gehört, sondern auch die unserer Buchprüfungsexperten für Wirtschaftskriminalität. Wie diese Fachleute ausgesagt haben, besteht kein Zweifel daran, dass Mr Sanders Geld von den Konten etlicher Banton-Investoren abgezweigt und auf seine private Schmiergeldkasse transferiert hat, die sich auf einem Schweizer Bankkonto befindet." Wenn sie diesen Fall verlor, hatte sie die Kündigung verdient. Die Beweise gegen Sanders waren hieb- und stichfest. Es kam nicht oft vor, dass ein Fall so wasserdicht war.
"Die Verteidigung will Sie glauben machen, dass jede einzelne dieser Transaktionen auf einen Buchungsfehler zurückzuführen ist, aber jetzt, nachdem Sie alle Beweise gehört und gesehen haben, stimmen Sie mir sicherlich zu, dass man zu diesem Schluss unmöglich kommen kann. Ich möchte Sie daran erinnern, dass wir von Hunderten Transaktionen über einen Zeitraum von fünf Jahren sprechen. Die Verteidigung verlangt von Ihnen, dass Sie jede Logik in den Wind schlagen und an ein Märchenland glauben, das es nicht gibt. Unsere Aufgabe als Staatsanwaltschaft ist es, Beweise für die Schuld des Angeklagten zu erbringen, und genau das haben wir getan."
Dies war einer ihrer ersten wichtigen Geschworenenprozesse, seit sie in der Abteilung für Wirtschaftskriminalität der Bezirksstaatsanwaltschaft von Fulton County angefangen hatte. Von den allgemeinen Straffällen in die Wirtschaftsabteilung versetzt zu werden, war eine Beförderung gewesen, aber Finanzverbrechen waren nicht ganz so aufregend wie Mord. Und in diesem konkreten Fall waren die Opfer nicht individuelle Verbraucher, sondern andere wohlhabende Hedgefonds-Manager. Trotzdem hatten sie Gerechtigkeit verdient, denn ihnen war Geld gestohlen worden. Was Sanders getan hatte, war strafbar und Sophie nahm ihre Aufgabe als Staatsanwältin sehr ernst.
Nachdem sie mit den Geschworenen die weiteren Beweise durchgegangen war, war die Verteidigung mit ihrem Schlussplädoyer an der Reihe. Sanders hatte einen bekannten Verteidiger von Peters & Gomez angeheuert, aber selbst ein teurer Staranwalt würde ihn nicht vor einer Verurteilung retten können. Während der Verteidiger redete und versuchte, Schwächen in ihrer Argumentation zu finden, schweiften Sophies Gedanken ein wenig ab. Sie fand, dass es ein strategischer Fehler des gegnerischen Anwalts war, so langatmig zu reden. Die Geschworenen saßen schon die ganze Woche hier, also waren sie so weit, dass sie ihre Meinung sagen und die Sache hinter sich bringen wollten. Aber sie war keine Verteidigerin und verspürte auch nicht das Bedürfnis, eine zu sein. Wenn das die Strategie war, die der Mann verfolgen wollte, war es nicht an ihr, ihn zu kritisieren.
Als der gegnerische Anwalt sich endlich setzte, gab der Richter den Geschworenen die nötigen Anweisungen. Dann wurden sie entlassen, um sich zu besprechen. Jetzt konnte Sophie nur noch warten. Es konnte Minuten dauern oder Stunden oder sogar Tage, bis die Geschworenen mit einem Urteil zurückkamen, doch sie hoffte, dass es schnell gehen würde. Wenn es zu lange dauerte, würde sie anfangen, sich Sorgen zu machen.
Sophie war gerade dabei, ihre Sachen zusammenzupacken, als der gegnerische Anwalt, John Gomez, auf sie zukam. Sanders bezahlte ihm, einem Partner und Mitbegründer der Kanzlei, wahrscheinlich mehr als tausend Dollar die Stunde. Ihrer Meinung nach eine absurde Summe für einen Rechtsbeistand.
"Das war ein sehr beeindruckendes Schl

Erscheinungsdatum
Übersetzer Dorothee Dziewas
Sprache deutsch
Original-Titel Lone Witness
Maße 135 x 205 mm
Themenwelt Literatur Krimi / Thriller / Horror Krimi / Thriller
Schlagworte Bandenkriminalität • Bodyguard • Christlich • Gericht • Glaube • Justiz • Krimi • Liebe • Mord • Personenschutz • Staatsanwältin • Zeugin
ISBN-10 3-96362-123-0 / 3963621230
ISBN-13 978-3-96362-123-9 / 9783963621239
Zustand Neuware
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