Was niemand sieht (eBook)

Ein Shetland-Krimi

(Autor)

eBook Download: EPUB
2020 | 1. Auflage
432 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-00658-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Was niemand sieht -  Ann Cleeves
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Der achte und letzte Band der beliebten Shetland-Krimis um Kommissar Jimmy Perez - in Großbritannien von Fans und Presse gefeiert: Um dem hektischen Großstadtleben zu entkommen, ziehen Helena und Daniel Fleming mit ihren beiden Kindern auf die Shetland-Insel Northmavine. Das fragile Gleichgewicht der Familie wird jedoch jäh erschüttert, als der autistische Sohn eine erhängte junge Frau in der Scheune findet. Schnell steht fest, dass sie getötet wurde. Kommissar Jimmy Perez und seine Vorgesetzte Willow Reeves erkennen bald: Um die Tote, die als Nanny bei einer Familie im Ort angestellt war, ranken sich zwar zahlreiche Gerüchte - doch niemand scheint die junge Frau wirklich zu kennen. Oder zu wissen, wozu sie fähig war ...

 Ann Cleeves lebt mit ihrer Familie in West Yorkshire und ist Mitglied des «Murder Squad», eines illustren Krimi-Zirkels. Für ihren Kriminalroman «Die Nacht der Raben» erhielt sie den «Duncan Lawrie Dagger Award», die weltweit wichtigste Auszeichnung der Kriminalliteratur. 2017 wurde sie für ihr exzellentes Lebenswerk mit dem «Diamond Dagger» ausgezeichnet. Sowohl die «Vera Stanhope»-Reihe, als auch Cleeves zweite Serie um das Shetland-Quartett, sind verfilmt worden.

 Ann Cleeves lebt mit ihrer Familie in West Yorkshire und ist Mitglied des «Murder Squad», eines illustren Krimi-Zirkels. Für ihren Kriminalroman «Die Nacht der Raben» erhielt sie den «Duncan Lawrie Dagger Award», die weltweit wichtigste Auszeichnung der Kriminalliteratur. 2017 wurde sie für ihr exzellentes Lebenswerk mit dem «Diamond Dagger» ausgezeichnet. Sowohl die «Vera Stanhope»-Reihe, als auch Cleeves zweite Serie um das Shetland-Quartett, sind verfilmt worden. Stefanie Kremer, geb. 1966 in Düsseldorf, arbeitet freiberuflich als Übersetzerin für Sachbücher und Belletristik aus dem Englischen und Französischen. Sie lebt südlich von München.

Drei


Sie standen auf dem Schulhof und warteten darauf, dass die Kinder nach Schulschluss aus dem Unterricht kamen. Zum größten Teil waren es Mütter, aber es waren auch zwei Väter, drei Großmütter und die junge Frau darunter, die bei der Arztfamilie als Kindermädchen arbeitete. An den meisten Nachmittagen bildeten sich kleine Grüppchen von Bekannten und Freunden, in denen zwanglos und heiter geschwatzt wurde. Nach neun Monaten wusste Helena Fleming, was sie erwartete. Harmloses Geplauder, Anekdoten darüber, was die Kinder mal wieder angestellt oder was sie Besonderes geleistet hatten. Helena fühlte sich keinem der Grüppchen wirklich zugehörig und erzählte nur selten von ihren eigenen Kindern, gab aber stets ein bereitwilliges Publikum ab.

Heute jedoch wirkten die Grüppchen geschlossener, das Geplauder ernster, und sie zögerte kurz, bevor sie den Schulhof betrat. Das Tor quietschte, als Helena es aufstieß, und die zusammengesteckten Köpfe drehten sich zu ihr um. In dem Moment wurde ihr bewusst, dass alle über sie gesprochen hatten. Sie hatten nur darauf gewartet, dass sie kam. Plötzlich verwandelten sich die dicht beisammenstehenden Erwachsenen in ihrer Phantasie zu Figuren aus einem Horrorfilm, sie glichen mehr einem Rudel wilder Hunde als den Nachbarn, von denen sie geglaubt hatte, sie einigermaßen zu kennen. Sie gierten nach Klatsch, und ganz kurz hatte Helena eine Vision, wie die Meute sie in Stücke riss, um an Gerüchte zu kommen, die Köpfe dabei gierig nach vorn gereckt und sabbernd. Am liebsten wäre sie davongerannt und war von ihrer eigenen Angst überrascht. Immerhin war sie eine starke, unabhängige Frau, eigenständig und erfolgreich in ihrem Beruf. Sie sollte sich nicht so fühlen wie jetzt: betäubt, mit düsteren Gedanken und zittrig. Nur der Schreck und ein letzter Rest Stolz hinderten sie am Weglaufen und zwangen sie, sich den anderen zu stellen. Also wirklich, sagte sie sich, was können die mir schon tun? Mir eine Szene zu machen, trauen sie sich bestimmt nicht. Zumindest nach außen hin waren Shetländer ein sehr höfliches Volk. Sie drehte ihnen den Rücken zu, bückte sich und tat so, als müsste sie sich die Schnürsenkel binden. Das gab ihr die Gelegenheit, den neugierigen Blicken nicht länger standhalten zu müssen.

In diesem Augenblick wurde die erste Klasse auf den Schulhof gelassen. Helenas Kinder waren zwar schon älter, doch nun lösten sich die Grüppchen auf, und die Wartenden sammelten ihren Nachwuchs ein. Beladen mit Schulranzen und Mänteln wirkten sie gleich weniger bedrohlich. An diesem Nachmittag brauchte man ausnahmsweise keinen Mantel, es war Mai und ungewöhnlich warm für die Shetlands. Die Anspannung war verflogen, wenigstens für heute, und Helena beruhigte sich. Sie sagte sich, dass ihre Reaktion – dieses Bild mit den wilden Hunden – lächerlich gewesen sei. Sie hätte sich den Leuten stellen sollen. Was war so schwer daran, einfach auf sie zuzugehen und sich am Gespräch zu beteiligen? Wie erbärmlich sie sich verhalten hatte! Wie feige!

Kurz darauf kam Ellie mit rudernden Armen und Beinen herausgerannt, die Strümpfe waren bis zu den Knöcheln heruntergerutscht, Kreide oder Wasserfarbe prangte auf der Stirn und vorn auf dem Pullover. Und natürlich plapperte sie aufgeregt. Manchmal dachte Helena, dass die Kleine schon plappernd auf die Welt gekommen war. Jedenfalls brauchte sie immer viel Aufmerksamkeit. Helena war schon daran gewöhnt, nur mit halbem Ohr hinzuhören und bisweilen zustimmend zu nicken. Bei dem Gedanken überkam sie ein schmerzliches Schuldgefühl: Bei ihrer Mutter hatte sie dieselbe Strategie angewendet, als deren Alzheimererkrankung im letzten Stadium angelangt war. Helena beugte sich zu ihrer Tochter hinunter und gab sich Mühe, ihr zuzuhören, doch sie hatte den Anfang von Ellies Erzählung schon verpasst, und was die Kleine jetzt sagte, ergab keinen Sinn mehr. Davon abgesehen konnte Ellie ohnehin kaum länger als eine Minute stillstehen und sprang bereits wieder davon.

Christopher kam, von seiner Schulhelferin begleitet, als Letzter aus dem Gebäude. Er kam immer als Letzter heraus und immer in Begleitung. Helena glaubte, dass es besser für ihn wäre, sich unter die anderen zu mischen, denn wie sollte er die Regeln zwischenmenschlicher Beziehungen lernen, wenn er nie die Gelegenheit dazu bekam? Allerdings hatte sie bisher nicht den Mut gehabt, diesen Punkt anzusprechen. Sie verstand, weshalb die Schule auf Nummer sicher gehen wollte, gleichzeitig aber machte es sie ganz krank, dass ihm auf diese Weise immer das Gefühl vermittelt wurde, anders zu sein. Er war elf, ziemlich schmal und hatte dunkle Haare und dunkle Augen. Bezaubernd. Die Schulhelferin bestand darauf, ihr stets einen Bericht über die Ereignisse des Tages zu geben. In der Schule in London waren die Lehrkräfte für solche Rückmeldungen immer viel zu beschäftigt gewesen. Dort hatte es zu viele Problemkinder gegeben. Damals wäre Helena dankbar gewesen, zu erfahren, wie Christopher im Klassenverband zurechtkam. Sie hätte sich gewünscht, zu hören, dass ihrem Sohn die Aufmerksamkeit geschenkt wurde, die er verdiente. Nun aber empfand sie das tägliche Ritual als bedrückend. Sie wollte gar nicht wissen, ob Christopher ein Kind beschimpft oder ein anderes gebissen hatte. All das Mitgefühl und Verständnis laugten sie aus. Da zog sie ja schon fast die Klatschsucht der Eltern auf dem Schulhof vor, die alles über ihren seltsamen, feuerlegenden Sohn und den Trübsal blasenden Ehemann erfahren wollten.

«Nun, heute war ein recht guter Tag.» Die Schulhelferin kam von den Shetlands und war immer gut gelaunt, auch wenn es Unerfreuliches zu berichten gab. «Nicht wahr, Christopher?» Immerhin hatte sie mittlerweile begriffen, dass er es nicht ausstehen konnte, Chris genannt zu werden.

Christopher sah seine Mutter an und verdrehte die Augen. Helena glaubte, dass gerade diese Arroganz zum Großteil dafür verantwortlich war, dass ihm viele Leute feindselig begegneten. Er war sehr intelligent, verfügte über ein ausgezeichnetes Gedächtnis und besaß die Fähigkeit zum logischen Denken, zur Lösung mathematischer Probleme. Weil ihm klar war, dass er mit seinem Wissen den meisten anderen überlegen war, verhielt er sich, als sei er der Mittelpunkt des Universums und behandelte die Erwachsenen in seinem Umfeld, seine Mutter eingeschlossen, manchmal wie Dienstboten.

«Ein kleiner Wutanfall in der Mittagspause, aber nichts, was wir nicht in den Griff bekommen hätten.» Becky, die Schulhelferin, lächelte. «Außerdem gab’s heute keinen Ärger mit Streichhölzern. Bis Montag, Christopher.»

Christopher trug Shorts, T-Shirt und Sandalen. Keinen Pullover, keine Socken. Das war seine bevorzugte Kleidung, selbst im tiefsten Winter. Er schien die Kälte nicht zu spüren, hasste jedoch das Gefühl von Stoff auf seiner Haut, selbst wenn es sich um Naturfasern wie Baumwolle oder Wolle handelte. Nachts trug er keinen Schlafanzug, und wenn er damit durchkam, lief er nackt im Haus herum. In der Schule hatten sie sich mittlerweile an seinen spärlichen Kleidungsstil gewöhnt. Anfangs hatte die Direktorin Helena jeden Tag angerufen und sich erkundigt, weshalb der Junge ohne Mantel gekommen sei. «Wir schicken die Kinder gern an die frische Luft, auch wenn es draußen kühl ist.» Helena hatte versucht, es ihr zu erklären, und Christopher schließlich mit einer Tasche in die Schule geschickt, in der ein Pullover und ein Mantel waren, wobei sie gemurmelt hatte: Und wenn Sie ihn dazu bringen können, die Sachen zu tragen, weihen Sie mich bitte in Ihr Geheimnis ein. Natürlich in der Hoffnung, dass es auch der Schule nicht gelingen und sich herausstellen würde, dass sie recht hatte. Selbstverständlich behielt sie recht, und die Anrufe der Direktorin hörten auf.

Während der Unterhaltung zwischen Becky und seiner Mutter stand Christopher daneben und wartete. Er zappelte nicht herum wie Ellie. Hin und wieder zuckte einer seiner Muskeln, oder er kaute an den Fingernägeln. Manchmal kratzte er an seinem Arm, bis es blutete und sich eine Kruste bildete. Doch diese Rücksprachen zwischen Schule und Zuhause folgten einem stets gleichbleibenden Ablauf, den man durchzustehen hatte, und gleichbleibende Abläufe waren etwas, was Christopher verstand. Als das Gespräch zu Ende war, hatte der Schulhof sich bereits geleert. Helena rief nach Ellie, die kopfüber am Klettergerüst hing, damit sie sich auf den Heimweg machen konnten.

Sie wohnten über eine Meile von der Schule entfernt, aber solange das Wetter nicht wirklich grauenhaft war, gingen sie zu Fuß. Christopher beschwerte sich immer, dass er nicht mit dem Auto abgeholt wurde, aber wie die Gespräche zwischen seiner Mutter und Becky waren auch diese Beschwerden zu einem Ritual geworden. Er war nicht gern an der frischen Luft, und da er so schnell wie möglich nach Hause in sein Zimmer und an seinen Computer wollte, beeilte er sich. Sein steifer, ruckartiger Gang ließ ihn dabei aussehen wie ein Roboter. Ihr Weg führte am Strand vorbei, auf dem oberhalb der Gezeitenlinie ein paar umgedrehte alte Boote im Seetang lagen. Eine gekieste Böschung trennte den Strand von der Straße ab. Ellie lief ihnen davon und balancierte, die Arme seitlich ausgestreckt, um das Gleichgewicht zu halten, den Kamm der Böschung entlang. Nach einem Tag erzwungenen Stillsitzens glich sie einem Hund, der dringend Auslauf brauchte. Am Ende des Strands führte ein Pfad über eine flache, morastige Landspitze, die um diese Jahreszeit fröhlich bunt leuchtete: gelbe Salzwiesenschwertlilien, Sumpfdotterblumen, Lichtnelken, dazu Blumen und Gewächse, die Helena nicht benennen konnte. Als sie hergezogen waren, hatte sie sich vorgenommen, die Namen all dieser...

Erscheint lt. Verlag 16.6.2020
Reihe/Serie Die Shetland-Krimis
Die Shetland-Krimis
Übersetzer Stefanie Kremer
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Krimi / Thriller / Horror Krimi / Thriller
Schlagworte Architektur • Autismus • Die Shetland-Krimis • Drohbrief • Ermittler • Inverness • Jimmy Perez • Klippe • Kommissar • Krimi aus England • Kriminalroman • Missbrauch • Modedesign • Mord • Nebel • Nordsee • Northmavine • Orkney • Schottland • Shetland-Inseln • Start-up • Urlaub • Willow Reeves
ISBN-10 3-644-00658-X / 364400658X
ISBN-13 978-3-644-00658-4 / 9783644006584
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