Nebelkinder (eBook)

Roman
eBook Download: EPUB
2020 | 3. Auflage
400 Seiten
Aufbau Verlag
978-3-8412-1987-9 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Nebelkinder -  Stefanie Gregg
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Zwischen uns ein ganzes Leben.

München, 1945. Zusammen mit ihrer Mutter Käthe ist Ana aus Breslau geflohen. Käthe ist traumatisiert, und so ist es an Ana, für ihre Familie zu sorgen. Als sie ihre eigene Familie gründet, scheint der Krieg verwunden, doch ihre Tochter Lilith bleibt ihr seltsam fremd. Viele Jahre später steht Lilith vor einer großen Entscheidung: Ausgerechnet sie, die doch immer unter ihrer distanzierten Mutter gelitten hat, soll den Sohn ihrer besten Freundin bei sich aufnehmen. Da fährt Ana mit ihr nach Breslau und erzählt ihr endlich, was damals wirklich geschehen ist ...

Eine berührende Familiengeschichte, die über drei Generationen bis ins 21. Jahrhundert reicht.



Stefanie Gregg, geboren 1970 in Erlangen, studierte Philosophie, Kunstgeschichte, Germanistik und Theaterwissenschaften bis zur Promotion. Nach Stationen im Bereich Bucheinkauf und als Unternehmensberaterin widmet sich die Autorin jetzt nur noch dem Schreiben. Mit ihrer Familie wohnt sie in der Nähe von München.

Kapitel 1


Anastasia
München, Februar 1945

»Hier könnt ihr schlafen.« Der Bauer machte eine abwertende Geste mit der Hand. Es war der Kuhstall, auf den er zeigte.

Im Umkreis von München waren sie in einem kleinen Dorf bei einem Bauern einquartiert worden, der die ›Flüchtlinge‹ – ein Schimpfwort für ihn – nur unter Zwang aufnahm.

Eigentlich hätte Käthe sich nun durchsetzen müssen, aber das Einzige, was sie herausbrachte, war ein nicht forderndes, sondern verzweifeltes: »Das ist doch nicht Ihr Ernst?«, auf das der Bauer nicht einmal reagierte, bevor er sich umdrehte und zu seinem Haus stapfte. Mit hängenden Schultern stand sie da, bis Anastasia sie in den Stall hineinzog. »Mutti, es ist warm dort drinnen!«

So weit war es, das Kind, das im Rüschenkleid auf dem Pony hätte sitzen sollen, begnügte sich mit einem warmen Kuhstall. Käthe wollte nicht mitgehen, aber Anastasias Wille war zu stark für sie. Ihr konnte Käthe nichts entgegensetzen.

Selma, die ältere Schwester Käthes, stand schon, die Hände in die Hüften gestützt, im Stall. »Es geht wohl nicht anders, wir müssen in der Mitte schlafen.« Mit diesen Worten hatte sie sich an Anastasia gewandt und an ihren Sohn Wolfi, der vier Jahre älter als seine Cousine war und auf der Flucht einen erheblichen Beitrag zum Überleben der zwei Familien geleistet hatte. Anastasia betrachtete den Kuhstall, in dem rechts und links die Kühe so angebunden waren, dass ihr Hinterteil zur Mitte stand, wo unter einem Rost eine Abflussrinne die Jauche abtransportierte. Nur eine schmale Gasse war zwischen den Kuhhintern frei. Selma seufzte und begann die Daunendecke herauszuziehen. »Wir werden bedeckt mit Kuhscheiße sein bis morgen früh. Ist aber sicher schön warm!« Selma hatte sich ihren Humor bewahrt. Wolfi schüttelte missbilligend den Kopf, wohingegen Lenchen, Anastasias kleine sechsjährige Schwester, zwischen den Kühen herumsprang, ihnen die Hintern tätschelte und gerade begeistert eine Box mit Kälbchen entdeckt hatte.

»Tante Selma, ja, so hat sich der Bauer das vorgestellt, aber warte, ich habe eine Idee.« Anastasia hinderte Selma daran, die Decke auf dem Boden auszubreiten. Fragend sah Selma ihre Nichte an.

Tante Selma hatte es geschafft, dass sie noch in den vielleicht letzten Zug aus Breslau hineingekommen waren. Auch wenn Anastasia sich nicht daran erinnern wollte, wie. Doch dann hatte Anastasia statt ihrer Mutter die Verantwortung übernommen. Während Käthe nur noch das Leben erlitt, hatte Anastasia sich um ihre Mutter und auch um ihre Schwester gekümmert. Schon als es Anastasia gewesen war, die ihre lethargisch verzweifelte Mutter zur Flucht bewegte, war sie zur Verantwortlichen für die Vahrenhorst-Familie geworden. Nach der Flucht war aus dem Kind Anastasia aus edler, schlesischer Abstammung die bayerische Ana geworden.

Ana stemmte die Hände selbstbewusst in die Hüften. »Wir legen uns in die Box zu den Kälbchen. Wenn wir das gute Stroh auf die eine Seite geben und die Kälbchen zur anderen Seite, kann uns gar nicht so viel passieren.« Selma legte ihre Hand auf Anastasias Kopf. »Du Kluge, du bist wirklich wie die Zarentochter! Du überlebst alles!«

Auch der größere Wolfi nickte ehrfürchtig, was Ana eine kleine, heimliche Freude war. Nur Käthe stand hilflos ein wenig weiter hinten, wie ein Kind, das abwartete, was die Eltern nun entscheiden. Dann schoben sie das saubere Stroh auf die eine Seite der Box und die drei Kälbchen auf die andere Seite, die sehr verdutzt darüber waren, aber es sich wohl oder übel gefallen ließen. Als sie schließlich alle mehr übereinander- als nebeneinanderlagen, krabbelte Lenchen über Ana, die ganz bewusst den schlechtesten Platz neben den kleinen Kühen übernommen hatte, und zwängte sich zwischen ihre Schwester und eines der Kälbchen. Lenchen streichelte den Kopf des Tieres, das dankbar ihre Hand abschleckte. »Ana, zu Hause, da hatte ich meine Stoffkuh, weißt du noch, mit der habe ich auch immer geschlafen. Das jetzt ist doch viel schöner!«

Ana lächelte und legte ihren Arm um Lenchen.

Es war die wärmste Nacht, die sie seit Langem hatten. Und es wurden weit mehr Nächte daraus, als sie gedacht hatten, denn über Wochen ließ man sie nicht weiterreisen. Keiner wusste, wohin mit dem Strom der Flüchtlinge. Seltsamerweise waren dennoch diese Tage auf dem Bauernhof wie eine zeitweise Erholung für alle, auch wenn die Nächte kurz waren, denn sie mussten alle vor dem Bauern wach sein, damit er nicht merkte, was sie mit den kleinen Kälbchen anstellten. Dass sie, ob er dies wollte oder nicht, die Kühe melkten und die frische Milch tranken, war ihm klar. »Gebt’s Wasser zur Milch, die frische macht Bauchweh«, war eines der wenigen Dinge, die er zu ihnen gesagt hatte, obwohl sie nicht wussten, ob dies stimmte oder ob er sie nur daran hindern wollte, zu viel Milch zu trinken.

Ana schlich früh am Morgen hinüber in den Hühnerstall und holte ihnen drei Eier – mehr nicht, damit der Bauer es nicht merken konnte. An einem Tag durften die Vahrenhorsts, Mutti, Lenchen und Ana, die drei haben, am nächsten Tag Tante Selma und Wolfi. Ana stach mit einem Holzstück ein kleines Loch, aus dem sie dann das Ei auszutschte. Herrlich! Wenn sie sich beherrschte, war es ein minutenlanges Vergnügen, das ein wundervoll sättigendes Gefühl im Magen hinterließ.

Ab und zu kam auch die Bäuerin vorbei mit einem Laib Brot und etwas Butter. Doch, es war fast wie Urlaub. Tagsüber stromerte Ana mit Wolfi und Lenchen über den Bauernhof und die dazugehörigen Felder. Keiner von ihnen hatte das Bedürfnis, schnell fortzukommen. Es gab mehr zu essen als vorher in Breslau, es war wärmer als im Zug, und es gab keinen Bombenalarm und keine Luftschutzkeller. Selbst Selma und Käthe waren sich unsicher, ob es irgendwo in der Stadt im Moment wirklich besser für sie wäre. Wie ein kostbarer Augenblick der Ruhe erschien es ihnen. Aber Käthe schüttelte den Kopf bei dem Gedanken, Ruhe im Kuhstall zu finden.

Abends ging Ana gerne noch unter dem Sternenhimmel ein wenig spazieren. Der Himmel dort oben, die Wiese unter den Füßen, es war so leise, man war so frei, es gab keine Gefahr.

Diesmal ging sie den Weg entlang, obwohl sie sonst meist durch die Wiesen lief. Obwohl sie am Bauernhof eigentlich nur entlanglaufen wollte, zog das hell erleuchtete Fenster des Bauernhauses sie an. Sie sah durch das Fenster in die Bauernstube hinein. Einfach so. Um nicht zu vergessen, dass es Zimmer gab, eine Bank, einen Tisch, eine Lampe, einen warmen Ofen. Nur heimlich natürlich, denn es war schon so dunkel, dass niemand sie von innen mehr sehen konnte. Bestimmt schon zehn Minuten stand sie da und beobachtete, wie die Bäuerin in einem großen Topf rührte, während der Bauer einfach nur auf der Bank saß, als ihr Blick auf den großen Tageskalender an der Wand fiel. 19. März stand darauf. Kurz zuckte sie zusammen. Keinem war es aufgefallen. Es war doch nur ein Jahr her, dass sie noch eine silberne Spieldose von Vati bekommen hatte. Ein Jahr. In einer anderen Welt. Es war ihr Geburtstag. Ihr dreizehnter Geburtstag.

Am nächsten Tag war Ana wieder früh wach im Stall. Sie hatte sich auf die Treppe gesetzt, die auf den Heuboden führte, und ließ ihre Beine durch das Geländer hinabbaumeln. Missbilligend wie immer hatten die drei Bauernbuben sie angesehen, als sie sie dort wie fast jeden Morgen sahen. Einen Gruß gab es nicht. Aber wo hätte sie denn sonst hingehen sollen? Sie beobachtete die drei Bauernbuben beim Ausmisten. Nach wenigen Malen war ihr klar, wie es zu bewerkstelligen war, das alte dreckige Stroh auf die Schubkarre zu geben und dann neues auszustreuen. Ana mochte es. Ihr gefiel diese ruhige Art des täglichen Tuns, die mit den immer gleichen Handgriffen vor sich ging. Wenn der Bauer ausmistete, tat er es mit gleichbleibender Geschwindigkeit, Schaufel für Schaufel, mit gleichbleibendem Gesichtsausdruck und mit dem eben gleichen festen Druck auf den Kuhhintern, um die Kühe beiseitezuschieben. Für Ana sah es so aus, als ob er dies sein Leben lang noch keinen Tag nicht getan hätte und es nie einen Tag geben würde, an dem er dies nicht tun werde. Das war gleichermaßen faszinierend wie beneidenswert, fand sie. Bei ihr hatte sich fast jeden Tag die Welt verändert und kein Mensch wusste, wie es am nächsten Tag weitergehen würde. Bei diesem Bauern war alles sicher.

Wenn aber die Jungs ausmisten mussten, arbeiteten sie nur ordentlich, solange der Vater in der Nähe war. Kaum schaute er fort, wurde der Kuhmist nur ein wenig platt gedrückt und das neue Stroh darübergegeben, so dass man es nicht sehen konnte. Ihnen lag offensichtlich nichts an dieser Tätigkeit. Auch dies beobachtete Ana von der Leiter aus, auf der sie so gerne saß. Der Bauernbub sah sie böse an und sagte etwas, das für sie klang wie »machstaugnwiakua«. Nach längerem Überlegen meinte sie herausbekommen zu haben, dass er ihr sagen wollte, dass sie Augen wie eine Kuh mache.

»Ich sehe gerne zu!«

»Du schaust uns gern beim Arbeiten zu.« Missmutig, fast wütend schüttelte er den Kopf: »Aber helfa tuast ned.«

Nach einem abermaligen kurzen Zögern glaubte sie auch diese Worte zu verstehen.

»Klar helfe ich! Wenn ich darf.«

»Wenn du darfst?« Er sah sie erstaunt an. »Helfen darfst schon.« Seine Augen deuteten auf die Schaufel, die an der Wand gelehnt stand.

Ana kletterte die Leiter hinunter, nahm die Schaufel und begann, bei der ersten Kuh auszumisten. Der Junge stützte sich auf seine Schaufel und sah ihr dabei zu, bis sie fertig war.

...

Erscheint lt. Verlag 15.6.2020
Reihe/Serie Die Schatten des Krieges
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Historische Romane
Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 2.Weltkrieg • Breslau • Erbe • Familiengeschichte • Familienschicksal • Flüchtling • Kriegsenkel • Kriegsgeneration • Kriegsvergangenheit • Mechtild Bormann • München • Nachkriegsdeutschland • Nachkriegsjahre • Nebelkinder • NS-Täter • Trümmerkind • Vertriebene
ISBN-10 3-8412-1987-X / 384121987X
ISBN-13 978-3-8412-1987-9 / 9783841219879
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