Erdsee (eBook)

Die zweite Trilogie
eBook Download: EPUB
2020 | 1. Auflage
752 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-491248-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Erdsee -  Ursula K. Le Guin
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Die große Fortsetzung des Fantasy-Klassikers erstmals neu übersetzt in einem Band Tenar, die geflohene Priesterin aus den Gräbern von Atuan, hat sich auf der Insel Gont niedergelassen. Sie adoptiert Therru, ein Mädchen, das ein schlimmes Schicksal erlitten hat und dem bestimmt ist, entscheidend in die Geschicke von Erdsee einzugreifen. Als Ged, einstiger Erzmagier und am Ende von »Das letzte Ufer« seiner magischen Kräfte beraubt, nach Gont zurückkehrt, schließt er sich der Dorfgemeinschaft an, und zusammen mit Tenar sorgt er für Therru, um sie vor dem bösen Zauberer Aspen zu schützen. Bald verflicht sich ihr Schicksal mit dem des jungen Dorfzauberers Erle. Dieser wird von Albträumen geplagt, in denen ihn die Toten im Dunklen Land jenseits der Mauer anrufen und auffordern, sie in die Welt zurückzuholen. Auf der Suche nach Deutung dieser Träume und der Erlösung von ihnen führt Erles Weg über die Zauberschule von Rok, den ehemaligen Erzmagier Ged und an den Hof König Lebannens, wo er auch auf Tenar und Tehanu trifft. Gemeinsam mit den Drachen von Erdsee müssen sie versuchen, ihre Welt wieder ins Gleichgewicht zu bringen ... Enthält: »Tehanu«, »Das Vermächtnis von Erdsee«, »Rückkehr nach Erdsee« Für alle LeserInnen von J.R.R. Tolkien, Tad Williams und J. K. Rowling »Absolut brillant - einer der Meilensteine der modernen Fantasy!« Patrick Rothfuss

Ursula K. Le Guin (1929-2018) gilt als die Grande Dame der angloamerikanischen Science Fiction. Sie wurde mit zahlreichen Literatur- und Genrepreisen ausgezeichnet, zuletzt mit dem National Book Award für ihr Lebenswerk. Ihre Bücher beeinflussten viele namhafte Autoren, darunter Salman Rushdie und David Mitchell ebenso wie Neil Gaiman und Ian M. Banks.

Ursula K. Le Guin (1929–2018) gilt als die Grande Dame der angloamerikanischen Science Fiction. Sie wurde mit zahlreichen Literatur- und Genrepreisen ausgezeichnet, zuletzt mit dem National Book Award für ihr Lebenswerk. Ihre Bücher beeinflussten viele namhafte Autoren, darunter Salman Rushdie und David Mitchell ebenso wie Neil Gaiman und Ian M. Banks. Sara Riffel studierte Amerikanistik, Anglistik und Kulturwissenschaft in Berlin und arbeitet seit vielen Jahren als freiberufliche Übersetzerin und Lektorin. Zu ihren Autoren gehören William Gibson, Anthony Ryan und Joe Hill. Hans-Ulrich Möhring, geboren 1953, hat so unterschiedliche Autoren wie Zora Neale Hurston, J.R.R. Tolkien, James Hamilton-Paterson und William Blake übersetzt. 2008 erschien sein Roman ›Vom Schweigen meines Übersetzers‹, 2014 die Novelle ›Ausgetickt – Ein Exzess‹.

2 Unterwegs zum Falkenhorst


Über ein Jahr darauf, in den endlosen heißen Tagen nach dem Langen Tanz, kam auf der Straße von Norden ein Bote ins Mitteltal und fragte nach der Witwe Goha. Die Leute im Dorf wiesen ihm den Weg, und spät am Nachmittag erreichte er den Eichenhof. Ein Mann mit spitzem Gesicht und flinken Augen. Sein Blick wanderte von Goha zu den Schafen in der Hürde hinter ihr, und er sagte: »Feine Lämmer. Der Magier von Re Albi schickt nach dir.«

»Er hat dich geschickt?«, erkundigte sich Goha ungläubig und belustigt. Wenn Ogion sie sehen wollte, hatte er schnellere und bessere Boten: einen rufenden Adler etwa, oder es reichte schon, dass er einfach leise ihren Namen sagte: Kommst du?

Der Mann nickte. »Er ist krank«, sagte er. »Verkaufst du welche von den weiblichen Lämmern?«

»Könnte sein. Sprich den Hirten drauf an, wenn du magst. Drüben am Zaun. Möchtest du was zu Abend essen? Du kannst hier übernachten, wenn du willst, aber ich bin dann weg.«

»Heute Abend noch?«

Diesmal war ihr Blick nicht belustigt, sondern leicht geringschätzig. »Ich werde keine Zeit vertrödeln«, sagte sie. Sie besprach sich kurz mit dem alten Hirten Klarbach und ging dann zum Haus hinauf, das am Rand des Eichenhains am Hang stand. Der Bote folgte ihr.

Ein Kind, das er einmal kurz ansah, um sofort wieder wegzuschauen, setzte ihm in der Steinbodenküche Milch, Brot, Käse und Lauchzwiebeln vor, dann ging es hinaus, ohne ein Wort zu sagen. An der Seite der Frau tauchte es wieder auf, beide mit Reiseschuhen an den Füßen und mit leichten Lederranzen auf dem Rücken. Der Bote folgte ihnen nach draußen, und die Witwe schloss die Haustür ab. Sie brachen gemeinsam auf, er noch in anderen Geschäften, denn Ogions Botschaft auszurichten war nur eine kleine Gefälligkeit gewesen neben der wichtigen Pflicht, für den Fürsten von Re Albi einen Zuchtwidder zu kaufen. Wo der Gehweg zum Dorf abbog, sagten ihm die Frau und das verbrannte Kind Lebewohl. Sie schritten die Straße bergan, die er gekommen war, nordwärts und dann westlich in die Ausläufer des Gontbergs.

Sie marschierten, bis das lange sommerliche Abendlicht zu schwinden begann. Da verließen sie die schmale Straße und suchten sich einen Schlafplatz in einem kleinen Tal an einem Flüsschen, das flink und still dahinlief und in dem sich zwischen dichtem Weidengestrüpp der fahle Abendhimmel spiegelte. Goha richtete ein Lager aus trockenen Gräsern und Weidenblättern, im Dickicht versteckt wie eine Hasenkuhle, und wickelte auf dieser Unterlage das Kind in eine Decke ein. »So«, sagte sie, »jetzt bist du ein Kokon. Am Morgen wirst du ein Schmetterling sein und ausschlüpfen.« Sie machte kein Feuer, sondern legte sich einfach im Mantel neben das Kind und beobachtete, wie einer nach dem anderen die Sterne erschienen, lauschte, was der Fluss leise erzählte, bis sie einschlief.

Als sie in der Kälte vor Tagesanbruch erwachten, machte sie über einem kleinen Feuer einen Topf Wasser heiß, um für sie beide Haferschleim zu kochen. Der kleine verunglückte Schmetterling kam zitternd aus seinem Kokon, und Goha ließ den Topf im taufeuchten Gras abkühlen, damit das Kind ihn halten und daraus trinken konnte. Über dem hohen, dunklen Rücken des Berges hellte es im Osten auf, als sie ihren Weg fortsetzten.

Sie gingen den ganzen Tag im Tempo eines Kindes, das rasch ermüdete. Das Herz der Frau drängte zur Eile, doch sie ging langsam. Sie war nicht fähig, das Kind länger zu tragen, und um ihm den Weg zu erleichtern, erzählte sie ihm Geschichten.

»Wir gehen einen Mann besuchen, einen alten Mann, der Ogion heißt«, erzählte sie ihm, während sie die schmale Straße entlangstapften, die sich immer höher hinauf durch den Wald wand. »Er ist ein weiser Mann und ein Magier. Weißt du, was ein Magier ist, Therru?«

Falls das Kind vorher einen Namen gehabt hatte, kannte es ihn entweder nicht oder wollte ihn nicht verraten. Goha nannte es Therru.

Es schüttelte den Kopf.

»Tja, ich eigentlich auch nicht«, sagte die Frau. »Aber ich weiß, was sie können. Als ich jung war – älter als du jetzt, aber noch jung –, war Ogion mein Vater, so wie ich jetzt deine Mutter bin. Er hat sich um mich gekümmert und versucht, mir beizubringen, was ich wissen musste. Er ist bei mir geblieben, obwohl er manchmal lieber allein umhergeschweift wäre. Er ist gern gewandert – auf den Straßen so wie wir jetzt und auch im Wald, in der Wildnis. Er ist über den ganzen Berg gestreift, hat geschaut, gelauscht. Weil er immer am Lauschen war, haben sie ihn den Schweigsamen genannt. Aber mit mir hat er geredet. Er hat mir Geschichten erzählt. Nicht nur die großen Geschichten, die alle lernen, von Helden und Königen und Begebenheiten vor langer Zeit und in weiter Ferne, sondern auch Geschichten, die nur er gekannt hat.« Sie ging ein Stück weiter, bevor sie fortfuhr. »Ich erzähle dir mal eine von diesen Geschichten.

Zu den Fähigkeiten, die Magier haben, gehört, dass sie sich in etwas anderes verwandeln können, eine andere Form annehmen können. Gestaltwandel nennen sie das. Ein gewöhnlicher Zauberer bringt es fertig, dass er wie jemand anderes aussieht oder wie ein Tier, so dass du erst mal nicht weißt, was du vor dir hast – als ob er eine Maske aufgesetzt hätte. Aber die Magier können mehr. Sie können selbst die Maske werden, sie können sich wirklich in ein anderes Wesen verwandeln. Wenn also ein Magier das Meer überqueren will und kein Schiff hat, kann er sich in eine Möwe verwandeln und hinüberfliegen. Aber er muss aufpassen. Wenn er ein Vogel bleibt, beginnt er zu denken, was ein Vogel denkt, und vergisst, was ein Mensch denkt, und dann kann es passieren, dass er als Möwe davonfliegt und nie wieder ein Mensch wird. Es heißt, es gab einmal einen großen Magier, der sich gern in einen Bären verwandelte und das zu häufig machte, und er wurde ein Bär und tötete seinen eigenen kleinen Sohn, und sie mussten ihn jagen und töten. Aber Ogion hat auch Scherze damit gemacht. Als einmal die Mäuse in seine Speisekammer einfielen und sich über den Käse hermachten, fing er eine mit einem kleinen Mausefallenzauber, und er hielt die Maus hoch, so, und sah ihr ins Auge und sagte: ›Habe ich dir nicht gesagt, du sollst nicht Maus spielen!‹ Und im ersten Moment dachte ich, er meint es ernst.

Die Geschichte jetzt handelt von etwas Ähnlichem wie Gestaltwandel, aber Ogion meinte, dass es über alles hinausging, was er an Gestaltwandel kannte, denn in dem Fall waren zwei Wesen gleichzeitig in ein und derselben Gestalt, und das, sagte er, würde die Macht von Magiern übersteigen. Aber er hat es selbst erlebt, und zwar in einem kleinen Dorf an der Nordwestküste von Gont, das Kemay heißt. Dort lebte eine Frau, eine alte Fischersfrau, keine Hexe, nicht ausgebildet; aber sie dichtete Lieder. Dass Ogion von ihr erfuhr, kam so. Er streifte dort an der Küste entlang, wie es seine Gewohnheit war, und lauschte, und er hörte Leute singen, die gerade ein Netz flickten oder ein Boot kalfaterten, und dabei sangen sie:

Jenseits des westlichsten Westens,

wo kein Land mehr ist,

tanzt mein Volk

auf dem anderen Wind.

Ogion hörte die Melodie und die Worte, und da ihm beides völlig unbekannt war, fragte er, wo das Lied her war. Zur Antwort wurde er hierhin und dorthin geschickt, bis er schließlich an jemanden kam, der sagte: ›Ach, das ist eines der Lieder von der Frau aus Kemay.‹ Darauf zog er weiter nach Kemay, dem kleinen Fischerdorf, wo die Frau lebte, und er fand ihr Haus unten am Hafen. Da klopfte er mit seinem Magierstab an die Tür. Und sie kam und machte ihm auf.

Du erinnerst dich vielleicht, wie wir über Namen gesprochen haben, dass Kinder Kindernamen haben und dass jeder einen Rufnamen hat und vielleicht auch einen Spitznamen. Manche nennen einen so, andere so. Du bist meine Therru, aber wenn du älter wirst, bekommst du vielleicht einen hardischen Rufnamen. Außerdem wirst du, wenn du ins Frauenalter kommst und alles mit rechten Dingen zugeht, deinen wahren Namen erhalten. Du wirst ihn von jemandem erhalten, der wahre Macht besitzt, einem Magier der einen oder anderen Art, denn das ist ihre Kraft, ihre Kunst: dass sie einem den Namen geben. Und weil dein innerstes Wesen in deinem wahren Namen liegt, kann es sein, dass du den Namen niemals einem anderen Menschen verrätst. Er ist deine Stärke, deine Macht, aber für jemand anders ist er eine Gefahr und eine Last, und er darf nur in höchster Not und größtem Vertrauen verraten werden. Aber ein großer Magier, der alle Namen kennt, kann ihn auch erkennen, ohne dass du ihn verrätst.

Ogion also, der ein großer Magier ist, stand vor der Tür des kleinen Hauses dort am Deich, und die alte Frau machte die Tür auf. Da wich Ogion zurück, und er hielt seinen Eichenstab hoch und hob auch die Hand, so, wie um sich vor Feuershitze zu schützen, und in seinem Erstaunen und Erschrecken sprach er ihren wahren Namen aus: ›Drache!‹

In diesem ersten Moment, erzählte er mir, sah er gar keine Frau dort im Eingang, sondern ein feuriges Lodern und Leuchten und ein Glitzern goldener Schuppen und Klauen und die großen Augen eines Drachen. Einem Drachen, heißt es, darf man nicht in die Augen schauen.

Dann war es vorbei, und er sah keinen Drachen mehr, sondern eine alte Frau dort im Eingang stehen, ein bisschen gebückt, eine hochgewachsene alte Fischersfrau mit großen Händen. Sie sah ihn an und er sie. Und sie sagte: ›Tritt ein, Meister Ogion.‹

Also trat er ein. Sie setzte ihm Fischsuppe vor, und sie aßen, und dann unterhielten sie sich am Feuer. Er dachte, sie müsste eine...

Erscheint lt. Verlag 27.5.2020
Reihe/Serie Erdsee-Trilogie
Erdsee-Trilogie
Übersetzer Sara Riffel, Hans-Ulrich Möhring
Zusatzinfo 1 s/w-Abbildung
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Fantasy / Science Fiction Fantasy
Schlagworte Charles Vess • Drachen • EPIC • Fantasy • Fantasy Bestseller • Fantasy Klassiker • Fantasy Serie • Feministische Fantasy • Magie • Nebula Award • Neuübersetzung • Tolkien • World Fantasy Award • Zauberlehrling • Zauberschule
ISBN-10 3-10-491248-3 / 3104912483
ISBN-13 978-3-10-491248-6 / 9783104912486
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