Hegels Welt (eBook)
592 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-11981-9 (ISBN)
Jürgen Kaube, geboren 1962, ist Herausgeber der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung». 2015 erhielt er den Ludwig-Börne-Preis. Kaube ist Autor mehrerer Bücher, die zu Bestsellern wurden. Über «Die Anfänge von allem» (2017) schrieb die «Süddeutsche Zeitung»: «ein ungemein lesenswertes Buch, unfassbar interessant». «Hegels Welt» (2021) wurde mit dem Deutschen Sachbuchpreis ausgezeichnet.
Jürgen Kaube, geboren 1962, ist Herausgeber der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung». 2015 erhielt er den Ludwig-Börne-Preis. Kaube ist Autor mehrerer Bücher, die zu Bestsellern wurden. Über «Die Anfänge von allem» (2017) schrieb die «Süddeutsche Zeitung»: «ein ungemein lesenswertes Buch, unfassbar interessant». «Hegels Welt» (2021) wurde mit dem Deutschen Sachbuchpreis ausgezeichnet.
Einleitung Was ist Idealismus?
Noch scheint alles ruhig. Die Welt, überwiegend aufgeteilt in Monarchien, ihre Kolonien und viele weiße Flecken auf der Landkarte, befindet sich um 1770 augenscheinlich nicht in revolutionärem Aufruhr. Es gibt Kriege, aber die gab es immer. So wie den Handel. Überall in Europa kommt jetzt Industrie auf, fabrikförmige Wirtschaft mit hoher Arbeitsteilung, sowie das wissenschaftliche Denken und Forschen. Es stützt sich auf immer mehr Teilnehmer, die untereinander zunehmend vernetzt sind und ständig neue Einsichten hervorbringen. Die chemischen Elemente werden entdeckt: 1766 der Wasserstoff, 1772 der Sauerstoff, 1775 der Kohlenstoff und 1777 der Schwefel. Die Zusammensetzung des Natürlichen wird also experimentell neu betrachtet, höher aufgelöst. Auch sonst wird viel publiziert, und zwar zu «weltlichen» Fragen, nicht mehr überwiegend zu solchen der Religion. 1775 findet in Deutschland ein Hexenprozess statt. Immer noch, mag man sich heute entsetzen, aber es ist der letzte, und sein Urteil wird nicht vollstreckt. Manche neigen deshalb dazu, vom Vordringen des Rationalismus zu sprechen. Doch wissenschaftlicher Verstand und die Versuche, Vorurteile zurückzudrängen, bilden keinen Gegensatz zur Entfaltung von Phantasie. Just um 1770 schießt die europäische Romanproduktion in die Höhe und wird nicht mehr abnehmen. Allein in England werden damals durchschnittlich dreihundert bis fünfhundert Romane pro Jahrzehnt veröffentlicht, nicht mehr nur fünfzig wie in den hundert Jahren zuvor.
Die Welt befindet sich also nicht im Umsturz, sie ist aber äußerst geschäftig. Es ist tatsächlich die Epoche der Aufklärung, von der Hegel sagen wird, ihre Devise sei: «Alles ist nützlich.» Auf allen Gebieten werden die Grenzen des Erfahrbaren stark erweitert. Fast möchte man meinen, dass sich erstmals in der Geschichte überhaupt «Welt» als sinnvoller Begriff für eine Wirklichkeit abzeichnet, die nicht nur von einem überirdischen Beobachter überblickt werden kann, sondern auch für den Menschen erreichbar ist. Erreichbar und nicht nur imaginierbar, weil alles expandiert, die Einbildungskraft wie das Wissen, die politischen Ambitionen wie das technische Vermögen. Zunehmend scheint auf dem Erdball alles mit allem zusammenzuhängen.
Der britische Kapitän James Cook etwa, der sich als Sohn eines Landarbeiters aus kärglichsten Verhältnissen in der Royal Navy nach oben gearbeitet hatte, nicht zuletzt aufgrund seiner außerordenlichen kartographischen Begabung, befindet sich 1770 auf seiner ersten Südseeexpedition. Als Georg Wilhelm Friedrich Hegel im August desselben Jahres in Stuttgart geboren wird, hat Cook, nachdem er kurz zuvor fast Schiffbruch erlitten hatte, gerade die Endeavour-Enge oberhalb Australiens, damals «Neuholland» genannt, durchquert und ist auf dem Weg nach Neuguinea. Cook war im Dienst der Wissenschaft unterwegs. Zusammen mit zwei Astronomen sollte er Daten liefern, um anhand des Venusdurchgangs vor der Sonne, der Anfang 1769 auf Tahiti gut zu beobachten war, die Entfernungen zwischen allen Planeten des Sonnensystems und der Sonne selbst exakt berechenbar zu machen. Andere astronomische Stationen dieser weltweiten Messaktion lagen an der mexikanischen Westküste, auf Haiti, in Pennsylvania, in Russland und in Norwegen. Ans Ende der Welt zu reisen, um den Abstand der Erde zu anderen Planeten zu messen, wodurch die Bewohner bislang vor sich hin lebender Gesellschaften erfahren, dass es andere Gesellschaften gibt – das ist Globalisierung, lange bevor das Wort in Umlauf kommt. «Welt», wird es sehr viel später heißen, ist ein Begriff, der nichts außer sich hat und zu nichts in Gegensatz gebracht werden kann. Auch die Venus ist «in der Welt», auch die Sonne, selbst Gott. Die Zeit, in die Hegel hineingeboren wird, ist also eine Zeit, in der das Weltganze immer mehr erschlossen und immer mehr in die Immanenz eines Wissens hineingezogen wird, das dem bloßen Meinen wie dem bloßen Glauben entgegensteht. So jedenfalls stellen es sich diejenigen vor, die sich auf der Seite des Wissens sehen.
Alles ist nützlich. James Cook hatte man damals über seine himmelskundliche Aufgabe hinaus mit dem Auftrag betraut, Schiffspassagen und damit Handelswege zu erkunden. Vor allem aber sollte er die Existenz des «Südlandes» überprüfen, also die auf antike Spekulationen zurückgehende Vorstellung, dass aus Gleichgewichtsgründen im Pazifik eine riesige Erdmasse liegen müsse, von ähnlichem Ausmaß wie Eurasien. In den Instruktionen der britischen Admiralität hieß es, jene fernen Teile des Erdenrunds seien zwar entdeckt, aber unzureichend erforscht.
«Das Bekannte überhaupt», wird Hegel 1807 in seiner «Phänomenologie des Geistes» schreiben, «ist darum, weil es bekannt ist, nicht erkannt.» Das soll zum einen heißen: Es ist nur darum, weil es bekannt ist, noch lange nicht erkannt, denn Erkennen geht über Vertrautsein hinaus. Es heißt aber auch, und wir werden uns an solche Mehrdeutigkeiten in Hegels Schreibart gewöhnen müssen: Eben weil es bekannt ist, ist es nicht erkannt, denn Vertrautheit kann als Gefühl des «so ist es eben» geradezu ein Erkenntnishindernis sein. Weil man nicht zu dicht dran sein darf an dem, was man erkennen will, und weil man leicht Vertrautsein mit Erkannthaben verwechselt. Wir treten in eine Zeit ein, die eine Präferenz für Unvertrautes und das Unvertrautmachen von Bekanntem hat. Hegel wird beides als Merkmal von wissenschaftlichem Vorgehen festhalten.
Der Begriff der Welt erhielt jedoch nicht nur durch die Entdeckungsreisen eine neue Bedeutung. Cooks Fahrten konnten auch deshalb als Symbol eines entstehenden Weltreichs («Empire») gedeutet werden, weil Großbritannien und Preußen erfolgreich aus einem von 1756 bis 1763 währenden Krieg mit der Habsburger Monarchie, dem Heiligen Römischen Reich, Frankreich und Russland hervorgegangen waren, den manche als den ersten Weltkrieg bezeichnet haben. Denn es war auch ein Krieg um Kolonien, in Kolonien und um eine Dominanz, die nicht länger auf Europa beschränkt war, sondern dem galt, was später «der Weltmarkt» heißen sollte. Angefangen hatte dieser Krieg mit britisch-französischen Konflikten in Nordamerika, geendet hatte er mit der Verschuldung aller beteiligten Mächte. 1775 beginnt der Amerikanische Unabhängigkeitskrieg, ausgelöst durch den Versuch Großbritanniens, seine militärischen Ausgaben über Steuererhöhungen in den Kolonien zu refinanzieren. Und die Lage in Frankreich, das durch seine Kriege und seine Haushaltsführung finanziell völlig erschöpft ist, dokumentiert ebenfalls, wie sehr damals schon alle Staaten nicht nur politisch, sondern auch ökonomisch miteinander verflochten sind. Es zeichnet sich ein Weltmarkt ab: für Güter, für Kapital, für Schulden.
Die Welt, in die Hegel hineingeboren wird, lebt außerdem im Gefühl der ständigen Verbesserung von allem. Zwischen 1769 und 1788 beispielsweise entwickelt James Watt die Dampfmaschine weiter, indem er sie mit einem Kondensator versieht, der die Temperatur des dampfbewegten Zylinders stabilisiert; indem er die Hebebewegung des Kolbens in eine Kreisbewegung transformiert; indem er ein eigenes Gestänge entwickelt; indem er zur Umgehung bestehender Patente ein anderes Getriebe einsetzt; indem er einen Fliehkraftregler konstruiert und so weiter. Watt erfindet also nicht die Dampfmaschine, er verbessert sie. Diese Einsicht ist für die moderne Welt zentral: Es gibt keine «Creatio ex nihilo», keine Schöpfung aus dem Nichts, alles hat Voraussetzungen, jede Erfindung ist eine Verbesserung.
Watt war schon vorher von Beruf ein Verbesserer mechanischer Geräte gewesen, und immer wieder sollte er sich als eine Art öffentlicher Bauingenieur damit beschäftigen, Kanäle zu vermessen und Flüsse umzulenken. Im Winter 1763 wird er gebeten, eine Dampfmaschine zu reparieren, die an der Universität Glasgow in Seminaren zur Naturphilosophie eingesetzt wird. Dabei fällt ihm der hohe Verbrauch an Dampf und Kondenswasser des Apparats auf, und sein Interesse ist geweckt. Sowohl die wirtschaftlichen Erträge wie die konstruktiven Probleme ziehen ihn in den Maschinenbau hinein. Schließlich kann die nach und nach verbesserte Maschine dann auch zu Zwecken eingesetzt werden, die nichts mit der ursprünglichen Aufgabe, Wasser aus Bergwerken abzupumpen, zu tun haben. Zur wichtigsten Energiequelle in der Textilindustrie wird die Dampfmaschine aber erst nach Hegels Tod.
Ob man sich die Erfindungen Watts anschaut, die Innovationen in der Textiltechnologie oder die Fortschritte in der Herstellung von Chemikalien – ganz gleich, wohin man blickt: Das Ende des 18. Jahrhunderts erscheint als eine Zeit der sich wechselseitig stimulierenden Neuerungen. Und als Zeit der sich ausbreitenden Nebenfolgen solcher Verbesserungen. Um nur ein Beispiel zu geben: Das fliegende mechanische Webschiffchen steigert die Produktivität der Weber, die zu erhöhtem Bedarf an Garn als Vorprodukt von Tüchern führt, also steigen seine Preise. Der erhöhte Bedarf wird durch den Einsatz von automatisierten Spinnrädern gedeckt. Diese wiederum führen zu Protesten von Arbeitern, die im Zuge der Ablösung der vormaligen Heimindustrie durch Fabriken ihre Arbeit verloren haben.
Und nun das Rätsel. Wenn die Gesellschaft um 1770 und bis weit ins erste Drittel des 19. Jahrhunderts hinein die geschilderten Züge annimmt, wie kommt es dann, dass die Philosophie, die diese Zeit in Gedanken zu erfassen sucht, eine idealistische Philosophie ist? Hegel weist dem Philosophieren genau diese Aufgabe zu: seine eigene Zeit zu erfassen. Nicht ewige Wahrheiten, nicht...
Erscheint lt. Verlag | 18.8.2020 |
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Zusatzinfo | 3 x 8 S. 4-farb. Tafeln |
Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Biografien / Erfahrungsberichte |
Schlagworte | Berlin • Biografie • Biographien • Deutsche Klassik • Deutscher Idealismus • Deutscher Sachbuchpreis 2021 • Französische Revolution • Georg Wilhelm Friedrich Hegel • Geschichtsphilosophie • Immanuel Kant • Karl Marx • Naturphilosophie • Phänomenologie des Geistes • Philosophie • Preußen • Rechtsphilosophie • Sachbuch Preis |
ISBN-10 | 3-644-11981-3 / 3644119813 |
ISBN-13 | 978-3-644-11981-9 / 9783644119819 |
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Größe: 9,8 MB
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