Die Detektive vom Bhoot-Basar (eBook)

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2020 | 1. Auflage
400 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-00359-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die Detektive vom Bhoot-Basar -  Deepa Anappara
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Detektivarbeit ist kein Kinderspiel. Der neunjährige Jai schaut zu viele Polizei-Dokus, denkt, er sei klüger als seine Freundin Pari (obwohl sie immer die besten Noten bekommt) und hält sich für einen besseren Anführer als Faiz (obwohl Faiz derjenige mit zwei älteren Brüdern und einem echten Job ist). Als ein Junge aus ihrer Klasse verschwindet, beschließt Jai, sein Fernsehwissen zu nutzen, um ihn zu finden. Mit Pari und Faiz an seiner Seite wagt er sich in den verwinkelten Bhoot-Basar und dann weiter hinaus in die verbotenen Viertel der Stadt. Doch mehr und mehr Kinder verschwinden, und die Dinge in der Nachbarschaft werden kompliziert ... «Die Detektive vom Bhoot-Basar» erzählt von den Farben und Widersprüchen des heutigen Indien, von sozialen und religiösen Spannungen, Korruption und Ungerechtigkeit, vor allem aber von der unbesiegbaren Vitalität dreier Kinder, von deren Wagemut, Unschuld und überbordender Phantasie. Ein literarisches Debüt von besonderer emotionaler Tiefe, schon vor dem Erscheinen viele Male ausgezeichnet und bislang in 16 Sprachen übersetzt. Deepa Anappara bringt einen wahren Kriminalfall und eine mitreißende Coming-of-Age-Story zusammen mit der Magie einer großen Erzählung. Ein seltenes Glück.

Deepa Anappara wuchs im südindischen Kerala auf und arbeitete in Delhi und Mumbai als Journalistin, bevor sie an der University of East Anglia im englischen Norwich Creative Writing studierte. Für ihre Arbeiten zu den Auswirkungen von Armut und religiöser Gewalt auf die kindliche Entwicklung erhielt sie mehrere Preise und Auszeichnungen. 'Die Detektive vom Bhoot-Basar', ihr erster Roman, wurde bislang in 16 Sprachen übersetzt und unter anderem mit dem Bridport/Peggy Chapman-Andrews Award, dem Lucy Cavendish Fiction Prize und dem Deborah Rogers Foundation Writers Award ausgezeichnet. Deepa Anappara lebt in der englischen Grafschaft Essex.

Deepa Anappara wuchs im südindischen Kerala auf und arbeitete in Delhi und Mumbai als Journalistin, bevor sie an der University of East Anglia im englischen Norwich Creative Writing studierte. Für ihre Arbeiten zu den Auswirkungen von Armut und religiöser Gewalt auf die kindliche Entwicklung erhielt sie mehrere Preise und Auszeichnungen. "Die Detektive vom Bhoot-Basar", ihr erster Roman, wurde bislang in 16 Sprachen übersetzt und unter anderem mit dem Bridport/Peggy Chapman-Andrews Award, dem Lucy Cavendish Fiction Prize und dem Deborah Rogers Foundation Writers Award ausgezeichnet. Deepa Anappara lebt in der englischen Grafschaft Essex. pociao, geboren 1951, gründete Anfang der 70er Jahre einen Vertrieb für experimentelle Literatur aus der amerikanischen Small-Press-Szene, arbeitete beim Verlag Expanded Media Editions und leitet seit Mitte der 90er Jahre den eigenen Verlag, Sans Soleil (www.sanssoleil.de). Sie übersetzte u.a. Paul und Jane Bowles, Gore Vidal, Zelda Fitzgerald, Patti Smith und Evelyn Waugh. 2017 gewann sie den DeLillo-Übersetzungswettbewerb des Deutschen Übersetzerfonds und der FAZ.  Roberto de Hollanda, geboren 1953, studierte Soziologie und Politologie, dreht Dokumentarfilme, schreibt Features und übersetzt aus dem Portugiesischen, Spanischen und Englischen, u.a. Gonzalo Torrente Ballester, Almudena Grandes, José Luis Sampedro, Francisco Goldman, Tom Robbins.

EINS


Diese Geschichte wird euch das Leben retten


Als Mental noch lebte, war er der Chef einer Bande von achtzehn bis zwanzig Kindern, die für ihn arbeiteten, und nur selten erhob er gegen eins von ihnen die Hand. Jede Woche schenkte er ihnen Schokoriegel und Karamellbonbons, die sie unter sich verteilten, und außerdem machte er sie unsichtbar für die Polizei, die Evangelisten-Typen, die sie von der Straße holen wollten, und Männer, die sie mit gierigen Augen verfolgten, wenn sie über die Gleise flitzten und leere Plastikflaschen aufsammelten, bevor ein Zug sie überrollen konnte.

Mental machte kein Theater, wenn ihm seine kleinen Lumpensammler nur fünf statt fünfzig Bisleri-Flaschen brachten oder er sie während der Arbeitszeit in der Schlange vor dem Kino erwischte, wo sie in ihren Sonntagskleidern um Premierenkarten anstanden, die sie sich gar nicht leisten konnten. Aber wenn sie Bleichmittel geschnüffelt hatten und mit roten Nasen, mit vollmondgroß geschwollenen Augen ankamen und ihre Worte ineinanderflossen wie eine Mischung aus Blut und Wasser, knöpfte er sie sich vor. Dann drückte er seine Gold Flake Kings auf ihrem Handgelenk oder ihrer Schulter aus und nannte das die Verschwendung einer guten Zigarette.

Der penetrante Geruch nach verbranntem Fleisch folgte seinen Jungs auf Schritt und Tritt und vertrieb den süßen, kurzen Kick von Korrekturflüssigkeit oder Klebstoff. Mental hämmerte ihnen Vernunft in den Schädel, ja wirklich, das tat er.

Wir sind ihm nie begegnet, weil er lange vor unserer Zeit in diesem Viertel lebte. Aber die Leute, die ihn kannten, wie der Friseur, der seit Jahrzehnten stoppelige Bärte rasiert, oder der Spinner, der Asche auf seine Brust schmiert und sich für einen Heiligen hält, reden bis heute von ihm. Sie sagen, seine Jungs hätten nie darüber gestritten, wer als Erster auf einen fahrenden Zug aufspringen durfte oder wer ein in der Spalte hinter dem Sitz eingeklemmtes Stofftier oder Spielzeugauto behalten konnte. Mental brachte seinen Jungs bei, anders zu sein. Deshalb lebten sie länger als alle anderen, die in den Bahnhöfen des Landes arbeiteten.

Eines Tages aber starb Mental selbst. Seine Jungs wussten, dass er damit nicht gerechnet hatte. Er war jung und gesund gewesen und hatte ihnen versprochen, einen Lieferwagen zu mieten und sie zum Taj zu fahren, ehe der Monsun in die Stadt kam. Tagelang trauerten sie um ihn. Unkraut spross aus dem mit ihren Tränen getränkten kahlen Boden.

Danach mussten die Jungs für Männer arbeiten, die ganz anders waren als Mental. In ihrem neuen Leben gab es weder Schokoriegel noch Kinobesuche, nur versengte Hände von Gleisen, die im Sommer golden glänzten, wenn bereits morgens um elf fünfundvierzig Grad herrschten. Im Winter fielen die Temperaturen auf ein oder zwei Grad, und manchmal, wenn der Dunst weiß und körnig wie Staub war, schälte der messerscharfe Rand der vereisten Gleise den Jungs die Haut von den blasigen Fingern.

Jeden Tag nach ihren Beutezügen wuschen sich die Jungs das Gesicht mit dem Wasser, das aus einem leckenden Rohr am Bahnhof tröpfelte, und schickten ein kollektives Gebet zu Mental empor, damit er sie davor bewahrte, dass ihnen ein Zug die Arme und Beine zu Knochenmehl zermalmen oder ein Gürtel durch die Luft sausen würde, der ihnen das Rückgrat brach, sodass sie nie wieder laufen konnten.

Ein paar Monate nach Mentals Tod starben zwei Jungs beim Aufspringen auf Züge. Milane kreisten über ihren zerquetschten Körpern, und Fliegen küssten ihre blauschwarzen Lippen. Die Männer, für die sie schufteten, hielten es für rausgeworfenes Geld, ihre Leichen zu bergen und einäschern zu lassen. Die Züge hielten nicht an, und die Loks heulten weiter bis spät in die Nacht.

Eines Abends kurz nach ihrem Tod überquerten drei von Mentals Jungs die Straße, die den Bahnhof von dem Labyrinth kleiner Geschäfte und Hotels trennte, auf deren Flachdächern sich rot-weiße Handymasten und schwarze Wassertanks drängten. Leuchtreklamen blinkten REIN VEGANE SNACKS, BAHNHOFSBLICK, UNGLAUBLICHES !NDIEN und FAMILIENFREUNDLICH. Die Jungs waren auf dem Weg zu einer Stelle nicht weit von hier: einer Backsteinmauer mit Eisengeländer, wo Mental seine Wäsche getrocknet und auch geschlafen hatte, einen Sack mit seinem gesamten Hab und Gut im Arm, als wäre er seine Frau.

Im gelb-rosa Schein der Lettern, die HOTEL ROYAL PINK buchstabierten, sahen sie die kleinen Lehmgötter, die Mental in einer Mauernische aufgestellt hatte – Ganesha mit seinem auf der Brust eingerollten Rüssel, Lord Hanuman mit dem Kräuterberg in der Hand, Krishna, der die Flöte spielt –, und in der Sonne getrocknete und mit Steinen beschwerte Ringelblumen zu ihren Füßen.

Die Jungs stießen die Stirn gegen die Mauer und fragten Mental, warum er hatte sterben müssen. Einer von ihnen flüsterte Mentals richtigen Namen in den Wind, ein Geheimnis, das nur sie kannten, und ein Schatten huschte durch die Gasse. Die Jungs hielten ihn für eine Katze oder einen Flughund, obwohl sich die Luft auflud, sie den metallischen Geschmack von Elektrizität auf der Zunge hatten und ein regenbogenfarbener Lichtblitz aufflackerte, der so schnell verschwand, dass sie ihn sich nur eingebildet haben konnten. Sie waren erschöpft von der Flaschensammelei und schwindelig vor Hunger. Aber als sie am nächsten Tag den Abfall in den Gängen eines Zuges durchwühlten, fand jeder von ihnen einen Fünfzig-Rupien-Schein unter den Schlafwagenbetten.

Sie wussten, dass es ein Geschenk von Mentals Geist war, denn die Luft um sie herum war von seinem warmen Atem erfüllt und roch nach seinen Gold Flake Kings. Er war gekommen, weil sie ihn bei seinem richtigen Namen gerufen hatten.

Die Jungs fingen an, Zigaretten für Mental auf seiner Mauer zu hinterlassen oder kleine Schalen aus Stanniolpapier mit würzigen Kichererbsen, die mit scharfem Limonensaft verfeinert und mit Korianderblättern und roten Zwiebelringen garniert waren. Sie rissen derbe Witze über die Gerüche und Geräusche, die Mental fabriziert hatte, nachdem er eines Nachmittags ein viertel Kilo Kichererbsen auf einmal verdrückt hatte. Seinem Geist gefiel das gar nicht, und anschließend fanden sie in ihren Hemden Brandlöcher von Zigaretten.

Inzwischen sind Mentals Jungs überall in der Stadt verstreut, und wir wissen, dass einige von ihnen geheiratet und eigene Kinder bekommen haben. Doch bis heute wird ein Junge, der mit leerem Magen und Mentals richtigem Namen auf den rissigen Lippen einschläft, am nächsten Morgen auf einen weißen Touristen stoßen, der ihm ein Eis spendiert, oder eine ältere Dame, die ihm ein Paratha in die Hand drückt. Es ist nicht viel, aber Mental war kein reicher Mann, und deshalb ist er auch kein reicher Geist.

Das Komische ist, dass seine Jungs ihm diesen Namen gaben. Als sie ihm das erste Mal begegneten, erkannten sie, dass er in vielerlei Hinsicht streng war, sein Blick aber sanft wurde, wenn sie ihm einen fehlenden Zeh oder eine Narbe zeigten, die wie ein toter Fisch hinten auf dem Oberschenkel prangte, wo man sie mit einer rot glühenden Eisenkette ausgepeitscht hatte. Sie kamen zu dem Schluss, dass nur ein Verrückter in dieser korrupten Welt halbwegs gut sein konnte. Zuerst nannten sie ihn Bruder, die Jüngsten Onkel, und erst viel später sagten sie: Mental, guck mal, wie viele Flaschen ich heute gefunden habe. Er störte sich nicht daran, weil er wusste, wie sie auf den Namen gekommen waren.

Monate nachdem er Mental geworden war und an einem Frühlingsabend schon mehrere Gläser Bhang geleert hatte, kaufte er seinen Jungs cremigen Milchreis in Tonschalen und raunte ihnen den Namen zu, den seine Eltern ihm gegeben hatten. Er erzählte, wie er mit sieben von zu Hause ausgerissen war. Seine Mutter hatte ihn geohrfeigt, weil er die Schule geschwänzt und sich mit den Möchtegern-Casanovas auf der Straße herumgetrieben hatte, die jedes Mal laut johlten, wenn ein Mädchen an ihnen vorbeikam.

Die ersten Wochen in der Stadt hatte Mental im Bahnhof verbracht, hatte die Reste halb geleerter Proviantpakete verschlungen, die die Fahrgäste aus den Zugfenstern geworfen hatten, und sich in den Alkoven unter den Überführungen vor der Polizei versteckt. Jeder dumpfe Schritt über ihm fühlte sich an wie ein Schlag auf den Kopf. Eine Zeitlang glaubte er, seine Eltern würden mit einem der Züge kommen, um ihn zu suchen, ihn ausschimpfen, weil er ihnen so einen Schreck versetzt hatte, und ihn wieder mit nach Hause nehmen. Nachts schlief er unruhig; er hörte die Mutter seinen Namen rufen, doch es war nur der Wind, das Rattern eines Zuges oder die schrille Stimme einer Frau, die verkündete, der North-East-Express aus Shillong habe vier Stunden Verspätung. Hin und wieder dachte Mental daran, nach Hause zurückzukehren, tat es aber nicht, weil er sich schämte und weil die Stadt aus Jungs richtige Männer machte. Er hatte es satt, ein Kind zu sein, und wollte ein Mann werden.

Jetzt, da Mental ein Geist ist, wünscht er sich, er wäre noch mal sieben. Wir glauben, dass er deshalb seinen alten Namen hören möchte. Er erinnert ihn an seine Eltern und an den kleinen Jungen, der er war, bevor er auf den Zug aufsprang.

Mentals richtiger Name ist ein Geheimnis. Seine Jungs würden ihn niemandem verraten. Wahrscheinlich ist er so gut, dass ein Filmstar ihn geklaut hätte, wenn Mental nach Mumbai gegangen wäre, statt hierherzukommen.

In dieser Stadt gibt es...

Erscheint lt. Verlag 10.3.2020
Übersetzer Pociao, Roberto de Hollanda
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Coming-of-Age-Roman • Detektivgeschichte • Erwachsenwerden • Familiendrama • Freundschaft • Hinduismus • Indien • Indische Literatur • indischer Roman • Islam • Kindesentführung • Korruption • Kriminalfall • Neu-Delhi • religiöse Konflikte • Slum • Slumdog Millionaire • Suche • True Crime
ISBN-10 3-644-00359-9 / 3644003599
ISBN-13 978-3-644-00359-0 / 9783644003590
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