Dänische Dämmerung (eBook)
256 Seiten
Emons Verlag
978-3-96041-590-9 (ISBN)
Lynn Andersen ist Journalistin, Werbetexterin und Autorin. Sie arbeitete einige Jahre als Reporterin und leitende Redakteurin bei einer Berliner Boulevardzeitung und ging dann der Liebe wegen in ihre Heimat bei Münster zurück, wo sie heute mit ihrer Familie lebt. Seit ihrer Kindheit verbrachte sie unzählige Urlaube in Dänemark.
Lynn Andersen ist Journalistin, Werbetexterin und Autorin. Sie arbeitete einige Jahre als Reporterin und leitende Redakteurin bei einer Berliner Boulevardzeitung und ging dann der Liebe wegen in ihre Heimat bei Münster zurück, wo sie heute mit ihrer Familie lebt. Seit ihrer Kindheit verbrachte sie unzählige Urlaube in Dänemark.
2
Was für ein Schlag in die Magengrube. Sibylle legte ihre rechte Hand auf die schmerzende Stelle. Dann kreischte es in ihrem Kopf. Schrill, laut, unerträglich. Das Herz begann zu rasen. Sie blieb sitzen, leicht vornübergebeugt, und starrte auf die Zeitung, ohne etwas zu sehen. Vor ihren Augen nur Schwarz und ab und zu helle Blitze. Das Licht drehte sich, ihr wurde schwindelig. Sie versuchte es mit der Atemtechnik, die ihr sonst half. Ein und aus, langsam und immer wieder. Ein und aus. Es dauerte lange. Der Magen entkrampfte sich. Mit der frei werdenden Hand rieb sie sich die Schläfen. Die Blitze verschwanden. Das Dunkel verschwand. Sie stand auf, wankte und setzte sich wieder. Sie schwitzte.
Ein Blick auf die Uhr. Kurz nach eins. Oscar würde noch eine Stunde schlafen, zwei Stunden am Mittag, das war im Moment sein Pensum und für sie die einzige Gelegenheit, am Tag für sich zu sein. Zu baden, Zeitung zu lesen. Daniel würde frühestens in fünf Stunden nach Hause kommen. Und sie würde spätestens in vier Stunden darauf warten, dass er nach Hause kam. Sie wollte es nicht, doch sie konnte es nicht abstellen. Mit Oscar war alles anders geworden.
Ihr Innerstes brodelte, sie starrte auf das Foto. Das Einzige, das ihr Verstand ihr noch sagte, war, dass sie ihn gerade verlor. Denn obwohl sie wusste, dass es nicht stimmen konnte, war sie absolut sicher: Dieser Doppelmord hatte etwas mit ihr zu tun.
Sie las den Artikel noch einmal und rieb sich die Stirn. Die Worte machten sie nicht klüger. Im Gegenteil. Dumm kam sie sich vor. Dumm und hilflos. Sie zwang sich, die Zeitung beiseitezuschieben. Sie schloss die Augen und stützte ihre Stirn in ihre Hände. Sie sah trotzdem ein kleines Ferienhaus, davor Menschen in den lächerlich aussehenden weißen Anzügen der Spurensicherung, wie unbeholfene Gespenster wirkten sie. Gespenster. Doch sie konnte nicht darüber lachen. Sibylle öffnete die Augen und blickte in eine Nebelwand. Die Toten von Dänemark, sie weinte um sie. Warum?
***
Er blieb sitzen. Er wollte das Lied noch zu Ende hören. »Under the Bridge« von den Red Hot Chili Peppers. Er schloss die Augen. Der grau gestrichene Carport, das Laufrad seines Sohnes, das er beinahe umgefahren hätte, das Fahrrad seiner Frau mit dem Kindersitz darauf, der Rasenmäher, all das passte gerade irgendwie nicht. Nicht zum Song und nicht zu ihm.
Er atmete tief ein. Gut war er gewesen. Vorhin. Er hatte ein Machtwort gesprochen, und seine Mitarbeiter hatten es akzeptiert. »Schluss mit den dummen Sprüchen untereinander, vertragt euch.« Er hatte mit den beiden Streithähnen geredet wie mit seinem zweijährigen Sohn. Ruhig und bestimmt, aber mit Nachdruck. Es hatte funktioniert. Offenbar zweifelten seine Mitarbeiter nicht an seiner natürlichen Autorität. Er selbst war der Einzige, der sich immer wieder die Frage stellte, was er da eigentlich machte. Er war zum Bürobullen geworden, er hatte mehr als zwei Anzüge im Schrank, er hatte Nackenschmerzen vom Sitzen am Schreibtisch. Kriminaldirektor Daniel Konermann, Leiter des zentralen Kriminaldienstes in Osnabrück – alles hörte auf sein Kommando! Er grinste, während er die Lautstärke aufdrehte und die letzten Takte in sich aufsog.
Der Song war zu Ende, und im nächsten Moment machte es pling. Auf seinem Smartphone war eine Nachricht eingegangen. Im Fotoanhang die beiden Kollegen, deren Streit er vorhin geschlichtet hatte, lachend mit einem Bier in der Hand.
»Prost! Wir haben uns wieder lieb«, stand darunter.
»Ich euch auch«, murmelte er und öffnete die Autotür. Er schaute auf seine Uhr. Er war recht spät dran. Sibylle würde sicher oben sein und Oscar ins Bett bringen. Oder sie saß schon unten vor den Fernsehnachrichten.
Früher wäre er jetzt erst losgefahren, zu einer Observation, zu einem Einsatz, zu seinen Jungs, zu irgendwas Wichtigem.
Jetzt gab es noch Wichtigeres. Meine Frau, mein Haus, mein Sohn, dachte er. Er hatte alles gekriegt. Es war perfekt. Sibylle war schöner als jede Frau, die er vor ihr gekannt hatte. Sein Sohn war wie Söhne mit zwei sind – tapsig, unbeholfen, niedlich. Das Haus war toll gelegen, nah genug an der Innenstadt, ruhig genug, und einen kleinen Garten und nette Nachbarn gab es inklusive. Warum nur fiel es ihm so schwer, einfach nur glücklich darüber zu sein? Oder lautete die Frage eigentlich: Warum fiel es ihr so schwer?
***
Sie hatte sich viel ausgemalt damals, als sie noch nicht am Abend auf Daniel wartete, sondern als er einfach da war, wenn er da war. Manchmal kam er erst nachts nach einem Einsatz zu ihr in die Dachgeschosswohnung in der Innenstadt. Leicht verschwitzt, noch voller Adrenalin. Dann legte er sich zu ihr. Dann drehte sie sich zu ihm. Dann liebten sie sich, schwitzend, mit ungeputzten Zähnen, lachend, schwer atmend.
Dann zog er ein. Sie redeten oder schwiegen, sie aßen, schliefen, sahen fern, gingen ins Kino. Sie schaute nie auf die Uhr und zählte die Minuten, bis er zu ihr kam. Sie lebte, arbeitete, war glücklich, wenn er da war, blieb es aber auch, wenn er nicht da war. Sie war sich seiner sicher. Sie war sich ihrer selbst sicher.
Irgendwann kam die Frage ganz von selbst. Ein Kind?
»Klar«, sagte er und schob ihr Nachthemd nach oben.
Doch so klar war es dann doch nicht gewesen. Als ein halbes Jahr vergangen und nichts passiert war, wurde sie nervös. Sie schaute immer noch nicht auf die Uhr, doch sie schaute auf den Kalender. Heute wäre ein guter Tag. Doch Daniel kam nicht heim, weil der Dienstplan umgeschmissen wurde. Noch sechs Monate später sagte er, dass es vielleicht ganz gut sei, quasi »ein Zeichen des Schicksals«, dass sie noch kein Baby bekommen hätten. Er würde sich gerne um einen Job bewerben. Beim SEK. Sie sagte nichts, weil sie nicht wusste, was sie hätte sagen sollen. Sie hatte ja nur so eine Ahnung in diesem Moment. Am nächsten Morgen bestätigten zwei Streifen auf dem Schnelltest: Sie war schwanger.
Sie war glücklich. Daniel sprach nicht mehr von diesem Job. Stattdessen nahm er das Angebot seines Dienstherrn an, sich so langsam auf der Karriereleiter nach oben zu arbeiten. Er übernahm Sonderaufgaben in seiner Tatort-Gruppe und empfahl sich so für eine höhere Laufbahn. Er kaufte sich seinen ersten Anzug.
Sibylle kaufte Bodys für das Baby und neue BHs für ihre wachsenden Brüste. Als Oscar ein Jahr alt war, zogen sie in das Haus. Niemals hätte sie gedacht, dass die Uhr in der Küche so viel langsamer laufen würde als in ihrem Leben davor. Sie war zornig auf ihren Mann, weil er tat, was sie von ihm verlangt hatte. Sie vermisste sein unrasiertes Gesicht, das sich in ihren Nacken grub. Sie vermisste seine löchrigen Shirts, seine Wut, wenn er von der Arbeit erzählte, sein Poltern, wenn er von einem seiner Kumpelabende nach Hause kam und ihr mit leichter Alkoholfahne ein zärtliches »Tschuldigung« ins Ohr flüsterte.
Stattdessen kam er müde und still heim, er fragte höflich nach ihrem Tag und spielte geduldig mit Oscar. Ein Ehemann und Vater wie aus dem Bilderbuch.
Und was war aus ihr geworden? Sie ließ Oscar nicht aus den Augen und war am Abend erschöpft von ihrer eigenen Dauerüberwachung. Ihre Laune war meistens schlecht, doch da sie wusste, dass Daniel nichts dafür konnte, verschonte sie ihn damit. Und während sie immer wieder auf die Uhr starrte, um auszurechnen, wann er endlich heimkommen würde, wurde ihre Laune immer schlechter. Kam er dann, spielte sie ihm vor, alles wäre gut.
***
Wie jeden Abend blieb Daniel erst einen Moment lang auf der kleinen Rasenfläche vor dem Haus stehen und schaute durch die großen Fenster. Er mochte es, wenn drinnen das Licht angeschaltet war und es draußen gerade dunkel wurde. Manchmal sah er seine Frau im Schneidersitz auf dem Teppich sitzen, entspannt sah sie dann aus. Sie reichte Oscar irgendwelches Plastikspielzeug, und allein daran, wie sie es tat, wie sie sich bewegte, wie sie ihn dabei anschaute, sah man diese große Liebe zwischen ihr und ihrem Sohn. Manchmal stand sie in der Küche und bereitete dem Jungen gerade sein Abendbrot zu. Konzentriert sah sie dann aus, aber auch verträumt. Als wäre sie gerade auf einem anderen Stern, einem schönen Stern, auf dem Daniel allerdings nicht lebte. Wenn er sie so sah, von außen, durch das Isolierglas der großen Fenster, dann sehnte er sich nach ihr.
Seine Vermutung war richtig gewesen. Oscar schlief bereits, doch statt vor dem Fernseher saß seine Frau am Küchentisch, als er eintrat. Sie hatte offensichtlich schon gegessen, es stand nur noch ein Teller ihr gegenüber. Als er ihr seinen Begrüßungskuss auf den Nacken hauchte, fuhr sie herum. Er hatte sie erschreckt.
»Hey, ich bin’s nur«, lachte er.
Sie schüttelte ihren Kopf. »Ich … Ach, ich war in Gedanken.«
»Alles gut? Was ist mit Oscar? Ist er dieses Mal schneller eingeschlafen?«
Sie nickte nur. Müde.
Daniel ging zum Herd und hielt seine Hand über die Pfanne, die Nudeln gaben noch etwas Wärme ab – es würde ohne Mikrowelle gehen. Er bugsierte sich eine Portion auf den Teller und setzte sich. Gabel und Löffel fehlten, er stand auf und holte das Besteck, setzte sich wieder und aß. Er konnte ihren Blick nicht deuten. Oder besser ihren Nicht-Blick. War sie sauer, dass er seinen Sohn verpasst hatte? War sie einfach nur müde? Vom Tag, von der Last des Alltags? Oder war da an der Wand hinter ihm irgendetwas so interessant, dass sie dorthin starrte, statt ihn anzuschauen?
Er sollte sie fragen, was los war. Doch stattdessen sagte er: »Schmeckt super.« Sie schaute ihn kurz an und fixierte wieder irgendeinen anderen Punkt an der Wand.
Er mochte ihn nicht, diesen Blick, der oft so arrogant und unnahbar wirkte. Nicht mehr...
Erscheint lt. Verlag | 12.3.2020 |
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Verlagsort | Köln |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Schlagworte | Dänemark • düster • Kriminalroman • Liebesroman • Mord in Ferienhaussiedlung • page-turner • Psychothriller • pychologisch • Roman • Skagen • Skandinavien-Krimi • spannend • Thriller • vielschichtig • Westjütland |
ISBN-10 | 3-96041-590-7 / 3960415907 |
ISBN-13 | 978-3-96041-590-9 / 9783960415909 |
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