Haarmann (eBook)

Kriminalroman
eBook Download: EPUB
2020 | 1. Auflage
320 Seiten
Penguin Verlag
978-3-641-23801-8 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Haarmann -  Dirk Kurbjuweit
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Der spektakulärste Kriminalfall Deutschlands - psychologisch raffiniert und extrem fesselnd
Im Hannover der 1920er-Jahre verschwinden Jungs, einer nach dem anderen, spurlos. Steckt ein bestialischer Massenmörder dahinter? Für Robert Lahnstein, Ermittler im Fall Haarmann, wird aus den Gerüchten bald schreckliche Gewissheit: Das Deutschland der Zwischenkriegszeit, selbst von allen guten Geistern verlassen, hat es mit einem Psychopathen zu tun. Lahnstein, der alles dafür gäbe, dass der Albtraum aufhört, weiß bald nicht mehr, was ihm mehr zu schaffen macht: das Schicksal der Vermissten; das Katz-und-Maus-Spiel mit dem mutmaßlichen Täter; die dubiosen Machenschaften seiner Kollegen bei der Polizei; oder eine Gesellschaft, die nicht mehr daran glaubt, dass die junge Weimarer Republik sie vor dem Verbrechen schützen kann.

Dirk Kurbjuweit inszeniert den spektakulärsten Serienmord der deutschen Kriminalgeschichte psychologisch raffiniert und extrem fesselnd. Eindringlich ergründet er die dunkle Seite der wilden 1920er-Jahre, zeigt ein Zeitalter der traumatisierten Seelen, der politischen Verrohung, der massenhaften Prostitution. So wird aus dem pathologischen Einzelfall ein historisches Lehrstück über menschliche Abgründe.

Dirk Kurbjuweit, geboren 1962 in Wiesbaden, zählt zu den vielseitigsten und renommiertesten Autoren unserer Gegenwart. Als Zeit- und Spiegel-Reporter einer breiten Leserschaft bekannt, überzeugte er schon früh als Erzähler. Nach dem Debüt »Die Einsamkeit der Krokodile« (1995) wurden besonders die Novelle »Zweier ohne« (2001) und der Roman »Angst« (2013) von der Kritik gefeiert. Zuletzt sorgten der Roman »Haarmann« (2020) und die Erzählung »Der Ausflug« (2022) für breites Presse-Echo. Etliche seiner literarischen Erfolge dienten als Vorlage für Verfilmungen, Theaterstücke und Hörspiele.

Kapitel 1

Seit einer Stunde lief er die Landstraße entlang, und noch immer wurde es nicht hell. Er sehnte sich nach Licht, hatte aber Angst davor, gesehen zu werden. Noch war er niemandem begegnet, nur einmal war ihm ein Automobil entgegengekommen, er hatte sich hinter einem Baum versteckt. Der Fahrer starrte geradeaus, der Beifahrer schlief, den Kopf gegen die Fensterscheibe gelehnt. Der Junge wartete, bis er das Auto nicht mehr hörte, dann trat er hinter dem Baum hervor und lief weiter. Er schaute auf seine Uhr, es war halb sechs, um fünf nach sechs fuhr der Zug, er würde ihn erreichen, da war er sich sicher. Wenn man ihn nicht vorher abfing. Er sah sich um. Sei ruhig, sagte er sich, warum sollte dir jemand folgen, warum sollte dich jemand suchen? Mutter und Vater schliefen noch, um sechs Uhr würden sie aufstehen, ihn um Viertel nach sechs wecken wollen. Das waren ihre Zeiten.

Es war nicht seine Uhr, es war die Uhr des Vaters, er hatte sie mitgehen lassen, sonst nichts. Das Geld war seins, er hatte es zurückgelegt, nicht viel, es blieb ja nicht viel übrig, aber bis Bremerhaven würde er damit kommen. Die Uhr würde er dem Vater zuschicken, wenn er angekommen war, das hatte er sich fest vorgenommen, er hatte es dem Vater auch geschrieben. Die Uhr kriegst Du zurück, hatte er in einem Abschiedsbrief geschrieben, sie ist nur geliehen. Wir sehen uns wieder, das ist versprochen. Mehr nicht. Sein Ziel konnte er nicht nennen, das andere würden sie bald herausfinden. Vielleicht würde es ein Trost für sie sein.

Plötzlich ein Krachen, ein Trommeln, ein Schnauben. Er zuckte, ließ seinen Koffer fallen, erstarrte, wusste nicht, was passierte. Ein Schatten huschte vorüber, ein Reh querte die Straße. Dann noch eins. Meine Güte, hatte er sich erschreckt. Die Rehe rannten in das Feld hinein, dann gingen sie, blieben stehen, drehten sich um und sahen ihn an. Dumme Viecher. Sein Herzschlag beruhigte sich, er nahm den Koffer auf, lief weiter.

Ein bisschen Licht dort hinten am Himmel, ein gelber Schimmer, und da waren schon die ersten Häuser der kleinen Stadt. Zwei Reiter näherten sich von hinten, langsam, Schritt, offenkundig nicht auf der Suche. Sie grüßten, zogen vorbei.

Er hatte Hunger, war ohne Frühstück aufgebrochen, ohne Kaffee. Es war Viertel vor sechs, als er die Stadt erreichte. Er ging in eine Bäckerei, kaufte sich drei Brötchen, eins aß er sofort, noch im Gehen, die beiden anderen mussten bis Hannover reichen. Dort hatte er beim Umsteigen Zeit und würde sich ein warmes Mittagessen leisten, ein kleines, eine Wurst, Kartoffelsalat. Die Menschen, die er sah, beachteten ihn nicht, sie eilten zur Arbeit, zum Markt. Trotzdem hatte er Angst, dass ihn jemand erkennen, ansprechen würde. Aber das geschah nicht. Um fünf vor sechs war er am Bahnhof, kaufte sich eine Fahrkarte und stieg in den Zug nach Hannover.

Am späten Abend, als Müller längst gegangen war und Stille in den Gängen des Präsidiums herrschte, ging er runter ins Archiv. Er hatte sich die Schlüssel besorgt, mit Erlaubnis des Polizeipräsidenten, da er oft bis spät in die Nacht arbeitete. Er schaltete das Licht an, klack, Lahnstein sah Regalreihen mit Akten, schmalen, breiten. Luft, die sich fett anfühlte, getränkt mit den Ausdünstungen dieser Ordner, der Geruch vergilbten Papiers, vergangener Tage.

Was er suchte, waren neue Ordner, nicht vergilbt, nicht abgegriffen. Er ging die Reihen durch, begann unten, kniete, richtete sich langsam auf, bis er sich strecken musste, um etwas erkennen zu können. So bewegte er sich nach links, auf der Rückseite genauso. Bald schmerzten seine Knie, Steifheit im Nacken. Er hustete, der Staub.

Eine erste Akte, die neu aussah. Er zog sie raus, öffnete sie. Ein Mörder, die Gattin und die eigenen Kinder. Er stellte den Ordner zurück, machte weiter. Am Ende, nach zwei Stunden, hatte er gefunden, was er suchte, einen leeren Ordner, glänzende Pappe, unbenutzt, unter dem Buchstaben J, aber das hieß nichts. Wahrscheinlich hatten sie die Ordner verschoben, damit niemand erkennen konnte, welche Akte fehlte. Irgendwas in der Nähe von J, ein Buchstabe zwischen G und M, schätzte er.

Er schloss das Archiv ab, holte seinen Hut und seinen Mantel und lief nach Hause, wie immer mit einem Schlenker zum Theater, wo die Prostituierten warteten, vor allem die Knaben, Puppenjungs genannt. Sie traten aus den Schatten der Bäume, hakten sich bei ihm ein, manchmal griff einer in seinen Schritt. Er wischte die dreiste Hand weg, zischte »sei vorsichtig«, und das meinte er in einem doppelten Sinne. Die Knaben lachten. Lahnstein ging weiter, beobachtete aus den Augenwinkeln die anderen Männer, ob sich jemand auffällig verhielt. Aber was war hier schon auffällig, außer dass alle unauffällig wirken wollten? Er hoffte auf einen Zufallstreffer, eine Eingebung.

Kurz nach Mitternacht traf er in seiner Pension ein, eine große Wohnung, in der drei Räume vermietet wurden. Im Moment war er der einzige Gast. Schuhe aus, das war Vorschrift, über welliges Parkett in sein Zimmer. Warten auf den Schlaf, Angst vor dem gewohnten Traum. Nach einer Stunde schlief er ein.

Die Sonne musste er im Blick behalten, denn von dort würden sie kommen, ihn überraschen, weil er sie gegen das Licht erst spät erkennen konnte. Er schaute zur Sonne, schaute voraus, schaute nach unten, wo Bauern ihre Felder bestellten, Vieh auf den Weiden, ein Automobil auf einer Landstraße, Dörfer, Höfe, Menschen an einem Fluss.

Die Sonne, achte auf die Sonne. Nichts. Er lauschte. Der Motor brummte gleichmäßig, der Wind rauschte, die üblichen Geräusche. Alles in Ordnung.

Er sah sich um, zum hinteren Sitz, wo Lissy und August saßen, August auf Lissys Schoß. Lissy schrie ihm etwas zu, aber er verstand sie nicht. Sie winkte, gestikulierte. Er sah zur Sonne, nichts, sah nach unten, durch den kleinen Bombenschacht, ein Kirchturm, ein Weiher, Häuser, Frieden, aber jetzt stotterte der Motor, der Propeller kreiste langsamer und langsamer.

Sie segelten, glitten dahin, sanken, aber nur langsam. Manchmal drehte er sich um. August war eingeschlafen, Lissy hielt ihn fest in ihren Armen. Er sah wieder nach vorne, suchte nach einer Stelle, wo sie landen konnten, nach einer ebenen Wiese, einer Straße, die nicht von Bäumen gesäumt war. Aber da waren nur noch Felsen, Berge und Flüsse, die sich durch Schluchten wanden, schroffes, karges Land.

Eine Bruchlandung, etwas anderes war nicht möglich. Aber es kam nie dazu, er wachte auf, bevor sie den Boden berührten oder an einem Berg zerschellten. Er wachte auf mit einem Gefühl, als würde er immer noch fliegen, aber er sah schon das Zimmer, in dem er schlief, das Fußende des Bettes, das kleine Fenster, den schiefen Schrank, die Haken an der Wand, an denen seine Sachen hingen. Er war wach, aber er stürzte der Erde entgegen. Das war der schlimmste Moment.

Dann war es vorbei. Er lag reglos in seinem Bett, hatte es überstanden. Er schaute nach der Uhr auf dem Nachttisch. Halb sieben morgens. Lahnstein war lieber, wenn ihn dieser Traum mitten in der Nacht ereilte, dann konnte er noch einmal einschlafen und sich davon erholen. So aber musste er das Gefühl des Sinkens und Stürzens mit in den neuen Tag nehmen. Ein Tag mit Junge?

Der Letzte war am 27. Oktober 1923 vermisst gemeldet worden, davor einer am 25. Oktober und einer am 12. Oktober. Im September wurde ein Junge vermisst gemeldet, im August einer, Pause im Juli, im Juni einer, im Mai zwei, Pause im April, im März einer. Der Erste verschwand am 12. Februar 1923, Fritz Franke. Die Namen steckten tief in Lahnsteins Kopf, in seinem Gemüt, er kannte sie alle.

Es gab keinen Rhythmus, er hatte sich die Abstände angeschaut, hatte gerechnet, gemittelt, Gruppen gebildet, Linien gezeichnet, Pfeile, nichts, kein Muster. Der größte Abstand zwischen den Taten, wenn es denn welche waren, lag bei gut zwei Monaten, vom 20. März bis zum 23. Mai, der kürzeste bei zwei Tagen, Ende Oktober. Zehn Jungs, zwischen 13 und 18 Jahre alt, vier davon 16 Jahre, die größte Gruppe. Heinz Brinkmann war bislang der Letzte, 13 Jahre alt. Auch die Altersangaben hatte er stundenlang betrachtet, mit den Daten des Verschwindens verknüpft, kein Muster.

Keine Leichen, nicht eine. Auch sonst: keine Spur.

Er stand auf, schwankte leicht, noch nicht wirklich gelandet. Und wenn es zu Ende war? Kein weiterer Junge mehr vermisst werden würde. Dann hatte er trotzdem zehn Fälle, die er aufklären musste. Seine Hoffnung war der nächste Fall, dass dieser eine Spur offenbarte, ihm eine Leiche lieferte, irgendwas, an das er anknüpfen konnte. Abscheulicher Gedanke, aber wahr. Er brauchte einen weiteren Fall. Er brauchte einen Toten, er brauchte einen Mord. Er wartete darauf, das wusste er, obwohl er sich sagte, dass dies nicht stimmen würde, nicht stimmen konnte. So war er doch nicht. Hoffentlich nicht.

Er lauschte an der Tür, hörte nichts und trat hinaus, schwankte zum Klo, im Schlafanzug. Da er nicht den kleinsten Hinweis hatte, wie die Taten abgelaufen waren, wer der Täter sein könnte, waren seiner Fantasie keine Grenzen gesetzt, er konnte, musste sich alles vorstellen, Gemetzel, Bluträusche. Wenn er so aufwachte wie heute, wenn sein Gemüt so angegriffen, so durchlässig war, verwandelte er sich in Heinz Brinkmann in den letzten Minuten seines Lebens. Er wurde bei lebendigem Leib gehäutet, schrie und schrie in seinen Gedanken. Es gab auch Tage, da war er der Täter, einer von ihnen. Ein Messer in der Hand. Aber warum ein Messer? Sie wussten nichts, gar...

Erscheint lt. Verlag 17.2.2020
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Babylon Berlin • Demokratiegefährdung • eBooks • Hackebeilchen • Heimatkrimi • Historische Kriminalromane • Historischer Kriminalroman • Krimi • Kriminalromane • Krimis • Profiler • Serienmörder • Totmacher • True Crime • Vampir von Hannover • Weimarer Republik • Werwolf von Hannover • Zwischenkriegszeit
ISBN-10 3-641-23801-3 / 3641238013
ISBN-13 978-3-641-23801-8 / 9783641238018
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