»Wir haben uns wirklich an allerhand gewöhnt« (eBook)

Der Briefwechsel

, (Autoren)

Sabine Wolf (Herausgeber)

eBook Download: EPUB
2019 | 1. Auflage
456 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-75591-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

»Wir haben uns wirklich an allerhand gewöhnt« -  Sarah Kirsch,  Christa Wolf
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»Liebe liebe Christa schön daß Du noch hier geblieben bist auf dem beknackten Planeten!«, schreibt Sarah Kirsch im Herbst 1988 an ihre Freundin, die eben eine lebensgefährliche Krankheit überwunden hat. Ein Jahrzehnt zuvor konstatiert Christa Wolf nach einem Treffen in West-Berlin, kurz nach Kirschs Ausreise aus der DDR: »Ich bin froh, daß ich bei Dir war und jetzt ganz ruhig an Dich denken kann.«
Zwei Autorinnen von internationalem Rang sind hier fast drei Jahrzehnte lang, von 1962 bis 1990, miteinander im Austausch: über das Schreiben, den Literaturbetrieb im Osten wie im Westen, über die Männer, die Kinder, die Arbeit im Garten und die politischen Systeme, in denen sie leben. Letztere sind es wohl, die diese Freundschaft an ein Ende bringen, nach vielen Jahren des vertrauensvollen Miteinanders.
Streng und verspielt, heiter und verzweifelt, schnoddrig und ehrlich - Sarah Kirsch und Christa Wolf beim Schreiben und Leben über die Schulter zu schauen ist ein Geschenk.

<p>Sarah Kirsch, geboren 1935 in Limlingerode/Thüringen, wohnte bis zu ihrer Ausreise 1977 im Osten Berlins. Von 1983 bis zu ihrem Tod 2013 lebte sie als freie Schriftstellerin und Malerin in Tielenhemme/Schleswig-Holstein. Für ihr dichterisches Werk erhielt sie u. a. den Georg-Büchner-Preis, den Jean-Paul-Preis sowie den Johann-Heinrich-Voß-Preis.</p>

 

121 Christa Wolf an Sarah Kirsch

//27. ‌2. ‌84

Sarah –

kennst Du das noch? Das Bettina-Schlößchen ist für viel Geld renoviert, ganz museal, trotzdem noch bewohnbar, man wohnt, z. ‌B., in einem Biedermeier-Zimmer.1 Mit Farbfernseher. Spiegelndes Parkett. Wenig Möglichkeit, zusammen zu sitzen. Wir gingen dorthin, weil unser Haus in der Friedrichstraße »generalrekonstruiert« wird, d. ‌h. für Monate eigentlich unbewohnbar ist, und wir ja sonst zur Zeit keinen Unterschlupf haben. – Geht es Dir gut? Aber mit »gut« und »nicht gut« ist ja nichts mehr gesagt. Auch müßte man nicht mehr an den König schreiben.2 – Wir fahren im April zum 1. Mal nach Italien.3

Auch alle die Figuren sind frisch aufgeputzt und stehen stumm und weiß in der Parklandschaft. Wir sahen es vom Zimmerfenster aus. Es war manchmal ein bißchen irre, bei gewissem Licht.

Im Sommer wohnen wir vielleicht in Carolas Haus, wenn sie wieder nach Griechenland fahren. Noch ziemlich ferne ist ein Pfarrhaus in Sicht, an dem dann auch wieder einiges zu arbeiten wäre. Tinka kriegt ein 2. Kind – wieder im Herbst. Sie wollen dann auch die nächsten Jahre viel auf dem Lande sein. – So geht es. Theater reizt sie zur Zeit nicht.

Was machst Du?

Sei gegrüßt.

Deine Christa//

1Vom 6. bis 24. ‌2. ‌1984 sind Christa und Gerhard Wolf in der »Arbeits- und Erholungsstätte für Schriftsteller und Künstler ›Bettina von Arnim‹« in Wiepersdorf, Kreis Jüterbog, dem ehemaligen Wohnsitz von Achim und Bettina von Arnim. Christa Wolf schreibt Sarah Kirsch auf der Rückseite zweier Postkarten mit fotografischen Ansichten des Schlösschens.

2Christa Wolf spielt auf Bettina von Arnims berühmtes Werk Dies Buch gehört dem König (1843) an, mit dem sich die Autorin an Friedrich Wilhelm IV., den neuen König von Preußen, wendet, um ihn über die sozialen Zustände in seinem Land aufzuklären und ihn zu gerechterem Handeln zu bewegen. Sarah Kirsch hat im Gedicht 9 aus dem Wiepersdorf-Zyklus der Sammlung Rückenwind (1976) ebenfalls darauf verwiesen: »Dieser Abend, Bettina, es ist / Alles beim alten. Immer / Sind wir allein, wenn wir den Königen schreiben / Denen des Herzens und jenen / Des Staats. Und noch / Erschrickt unser Herz / Wenn auf der anderen Seite des Hauses / Ein Wagen zu hören ist.« (S. 31) Auch in Nr. 2 der Wiepersdorf-Gedichte bezieht sich Kirsch auf Bettina von Arnim: »[…] Vor Stunden noch enge im Hochhaus / In der verletzenden viereckigen Gegend, nun / Das – ich dachte bloß noch: Bettina! Hier / Hast du mit sieben Kindern gesessen, und wenn / Landregen abging / Muß es genauso geklappert haben Ende Mai / Auf die frischaufgespannten Blätter – ich sollte / Mal an den König schreiben« (S. 21f.).

3Vom 4. ‌4. bis 2. ‌5. ‌1984 ist Christa Wolf mit Gerhard Wolf auf Lesereise in Italien.

122 Sarah Kirsch an Christa Wolf

//Tielenhemme, 29. Febr. 84

Liebe Christa,

die Karten von Wiepersdorf aber haben mir einen kleinen Stich ins Herz versetzt weil nun alles so geleckt ist und gar nicht mehr meins, was aber auch gut ist, für mich und das Haus dann wohl auch. Die Callotschen Zwerge würde ich aber selbst in Weiß gerne sehen,1 aber dort sein mit Kulturschaffenden könnte ich nicht. Schönen Dank für die Karten, da hab ich allerlei zu bedenken gehabt.

Und Ihr armen abgebrannten Menschen, nun werdet Ihr auch noch generalrekonstruiert in der Friedrichstraße – das ist ja wirklich schon Streß. Aber in Italium wird es Euch sicher gefallen wenn Ihr hoffentlich auch mal in so einem Bergdorf wie vor 300 Jahren mehrere Tage sein könnt wie ich seinerzeit in Olevano.2 Das war eigentlich bedeutender als Roma, obwohl Roma natürlich wunderbar ist, den ganzen Tag Schauspielerei auf den Plätzen wenn nicht zu viele fremde Touristen unterwegs sind und fortwährend stören und immer falsch durch den Film laufen. In Carolas Haus seid Ihr dann auch gut aufgehoben. Wann wird das was mit dem Pfarrhaus? Sicher was Schönes wenns fertig ist, und Ihr wacht da eines Tages drin auf und heizt den Ofen aber nur noch im Winter. Ich habe mir das auch hinter die Ohren geschrieben. Im Herbst kriegt Tinka ein Kind, jeden Herbst, das ist doch erstaunlich. Viele viele Grüße an sie, Theater kann sie ja immer noch machen, durch Kinder wird man ja nicht dümmer. Uns geht es ganz schön gut hier, bis auf Äußerlichkeiten natürlich. Schade, daß wir nicht auf dem Weg nach Italien liegen, aber vielleicht fahrt Ihr mal nach Grönland, dann treffen wir uns. Vorerst hab ich Euch vor ein paar Tagen meinen Gedichtband geschickt und hoffe doch stark, daß der ankömmt. Sind ja alles nur Kuh-Gedichte, kann niemand was gegen haben.3 Und am Frauentag falls Ihr den zu Hause verbringt, ist was im Bücherjournal, das ist wohl im III. gleich nach dem Spülfülm, also 21ºº nochwas alles nur so ungefähr von mir zu orten aber wenn Gott will werdet Ihr es finden und könnt die Gegend hier sehen wahrscheinlich auch Kind, Kegel und Schafe.4

1000 Grüße an die Deinen und die gleiche Menge noch mal.

Deine liebe Sarah//

1Im Schlosspark Wiepersdorf gibt es fünf (ursprünglich waren es sechs) im Halbrund stehende Figuren verwachsener, zwergenhafter Gestalt, deren Herkunft ungeklärt ist. Die Bezeichnung geht auf den französischen Künstler Jacques Callot zurück. Kirsch erwähnt die Skulpturen in Nr. 10 der Wiepersdorf-Gedichte (in: Rückenwind, a. ‌a. ‌O., S. 32): »[…] Ich verberge mich zwischen den Zwergen / Der mit dem Clowns-Mund, die Puderperücke […]«.

2In Olevano Romano, das ca. 55 Kilometer östlich von Rom liegt, betreibt die Deutsche Akademie Rom mit der Casa Baldi eine – neben der Villa Massimo in Rom – weitere Arbeitsunterkunft für Künstlerinnen und Künstler. Im Rahmen ihres Villa-Massimo-Stipendiums war Sarah Kirsch auch ein paar Tage in Olevano Romano.

3Vgl. Anm. 3 zu Brief 116.

4Der Sender N III bringt am 8. ‌3. ‌1984 einen zehnminütigen Beitrag über Sarah Kirsch und ihren neuen Gedichtband Katzenleben.

123 Christa Wolf mit Gerhard Wolf an Sarah Kirsch

[Firenze,]1 //19. ‌4. ‌84

Liebe Sarah,

nun sind wir in Florenz. In Rom fuhren wir an der Mauer der Villa Massimo vorbei. In Bologna waren wir auch, nach Ostern geht's für 3 Tage nach Venedig. Die Aufzählung ist unergiebig, aber was gibt's sonst zu schreiben. Hab Dank für das »Katzenleben«. Gut, daß die Gedichte aus jedem Boden wachsen. Wir suchen nach einem neuen Domizil, in Italien kann man ja auch nicht bleiben.

Sei gegrüßt, die Deinen auch,

Deine Christa// ‌//& Gerhard

Wir waren gerade in einem Bauernhaus in Umbrien, das war gut!//

1Ort des Poststempels. Auf ihrer Italienreise (vgl. Anm. 3 zu Brief 121) absolviert Christa Wolf ein umfangreiches Lese- und Besichtigungsprogramm. Sie und Gerhard Wolf treffen sich u. ‌a. mit Anita Raja, Sandro Ferri, Christine Koschel, Lea Ritter-Santini, Luise Rinser, Franca Magnani und Domenico Mugnolo.

124 Sarah Kirsch an Christa Wolf

//Tielenhemme, 27. Sept. 1984

Liebe Christa,

wie ist es Euch diesen Sommer ergangen? Habt Ihr das Haus in Drispeth gehütet? Wie geht es aber dem Pfarrhaus, ist es Euch schon zu eigen, muß da gebaut werden? Und woran wird nun mit dem Kopfe gearbeitet? Nix weiß ich, und das ist nicht gut so. Es war ja kein Sommer zum Häuserabbrennen, die Moore quillen hier über und die Äpfel sind sauer. Nur die Ernte von denen Schafen war gut, 2 Säcke Wolle noch auf dem Boden, und ich habe zu spinnen gelernt, es geht ja ganz einfach....

Erscheint lt. Verlag 11.11.2019
Co-Autor Heiner Wolf
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Briefe / Tagebücher
Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Akademie der Künste • Alltag • Ästhetik • Autorinnen • Berlin • Biermann • Braun • BRD • Briefedition • Briefsammlung • DDR • deutsch-deutsch • Ehe • Familie • Freundschaft • Gedichte • Geschichte • ja • Ja unsere Kreise berühren sich • Kinder • Klatsch • Kunst • Leben • Lebensansichten • Liebe • Literatur • Literaturbetrieb • Literaturgeschichte • Männer • Man steht sehr bequem zwischen allen Fronten • Nachlass • Ostdeutschland DDR • Osten • Politik • Schreiben • Schriftstellerinnen • SED • Sinsheimer-Literaturpreis 2005 • Streit • Thomas-Mann-Preis 2010 • Thüringen • Tratsch • unsere Kreise berühren sich • Uwe-Johnson-Preis 2010 • Verhältnis • Volker Braun • Wertvorstellungen • Westdeutschland BRD bis 1990 • Westen • Wolf Biermann
ISBN-10 3-518-75591-9 / 3518755919
ISBN-13 978-3-518-75591-4 / 9783518755914
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