Das Haus der finsteren Träume (eBook)

Roman

(Autor)

eBook Download: EPUB
2020
464 Seiten
Heyne Verlag
978-3-641-23644-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Das Haus der finsteren Träume - Shaun Hamill
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Die USA in den 1960er-Jahren: Harry Turner, ein geradezu fanatischer Verehrer von H. P. Lovecraft, macht sich an die Verwirklichung eines gewaltigen Vorhabens. Auf seinem Grundstück soll ein Geisterhaus entstehen, und zwar das größte und unheimlichste, das Amerika je gesehen hat. Harrys komplette Familie arbeitet an dem Projekt mit, obwohl seine pragmatisch veranlagte Frau und seine beiden Töchter die Augen vor der gruseligen Wahrheit verschließen: Die Monster, die im Geisterhaus der Turners ihr Unwesen treiben, sind echt. Der einzige, der diese Tatsache akzeptiert, ist der jüngste Turner-Spross Noah. Doch als er eines Tages beschließt, den Ungeheuern die Tür zu öffnen, wird das Leben der Turners zum Albtraum ...

Shaun Hamill wurde in Arlington, Texas, geboren und verbrachte seine Kindheit mit jeder Menge Horrorromane und -filme. Er machte 2008 seinen Abschluss in Englischer Literatur an der University of Texas und absolvierte 2016 erfolgreich den renommierten Iowa Writers' Workshop. »Das Haus der finsteren Träume« ist sein Debütroman. Shaun Hamill ist verheiratet und lebt mit seiner Familie in den dunklen Wäldern Alabamas.

2


Wie ich selbst war auch meine Mutter in der Ehe ihrer Eltern eine Nachzüglerin. Im Gegensatz zu mir konnte sie jedoch die Vorzüge eines wohlhabenden Elternhauses genießen. Ihr Vater Christopher Byrne arbeitete bei Dillard’s als Einkäufer für Damenmode und unterhielt eine enge persönliche Beziehung zum Inhaber William T. Dillard.

Margaret kannte ihren Vater nicht sehr gut; sie hielt ihn für einen adretten Fremden, der nach Zigaretten roch und von seinen Reisen nach New York immer Geschenke mitbrachte – meist Originalaufnahmen der Broadway-Musicals, die er dort gesehen hatte –, mit denen sie nicht viel anfangen konnte. Sie wuchs in einem Vorort von Memphis, Tennessee in einem geräumigen Haus auf, verfügte dauerhaft über ein großzügig bemessenes Taschengeld und bekam schöne Kleider, Autos sowie zu gegebener Zeit einen Studienplatz an der Alma Mater ihrer Eltern: an der Tilden University, einem kleinen, christlich-konservativen Institut in Searcy, Arkansas.

Über Geld musst du dir niemals Sorgen machen, sagte Margarets Mutter ihr, und im Jahre 1965 schien das der Wahrheit zu entsprechen. Mein Großvater war bei Dillard’s so erfolgreich, dass er, als meine Mutter sich 1966 am College immatrikulierte, seine Anstellung im Kaufhaus aufgeben und einen eigenen Laden eröffnen konnte. Im Winter 1967 gingen die Geschäfte jedoch schlecht, und im Sommer 1968, als Margaret die Ferien daheim verbrachte, musste die Mutter ihr mitteilen, dass das Geschäft Bankrott gemacht hatte. Die Byrnes konnten ihr noch ein Jahr lang die Ausbildung bezahlen, mussten ihr aber das Auto, das Taschengeld und das Geld für die Unterkunft streichen.

Als Margaret ihre Eltern darauf aufmerksam machte, dass sie mindestens noch zwei Jahre brauchte, um den Bachelor in Anglistik zu erhalten, ganz zu schweigen vom angestrebten Master in Bibliothekswissenschaft, sagte ihre Mutter: »Ich würde vorschlagen, dass du die Arbeit an deinem MRS-Status beschleunigst, ehe du dir über den BA den Kopf zerbrichst.«

Einigermaßen eingeschüchtert bemühte Margaret sich, aus der unmöglichen Situation das Beste zu machen. Als sie im Herbst nach Searcy zurückkehrte, nahm sie einen Job bei Bartleby’s an, dem einzigen Buchladen des Ortes, und mietete ein Zimmer bei dessen Inhaberin Rita Johnson, deren einzige Religion das geschriebene Wort war und die sich politisch eher an Betty Friedan als an Richard Nixon orientierte. Mrs. Johnson lebte in einem gemütlichen zweistöckigen Haus in Campus-Nähe, verlangte an Miete kaum mehr als ein Almosen und stellte so gut wie keine Regeln auf. Es war ihr egal, wie lange Margaret aufblieb, solange sie keine Jungs in den ersten Stock mitnahm. Außerdem durfte Margaret nach Belieben den Fernseher und den Plattenspieler benutzen, solange sie den Ton nicht zu laut aufdrehte.

Diese neuen Freiheiten waren eine abrupte, fast erschreckende Veränderung gegenüber den strengen Regeln des Studentenwohnheims. Eigentlich hatte Margaret gar nicht auf die Tilden gehen wollen, wo man moralische Verpflichtungserklärungen unterschreiben und zwangsweise am Sonntagmorgen den Gottesdienst besuchen musste. Sie hatte sich nur dort eingeschrieben, weil es die einzige Universität war, für die ihr Vater zahlen wollte. In der Hoffnung auf den Collegeabschluss, einen Beruf und ein eigenständiges Leben hatte sie die frommen Rituale über sich ergehen lassen. Jetzt, bei Mrs. Johnson, bekam sie einen Vorgeschmack, wie dieses Leben aussehen könnte.

Margaret liebte ihr neues Quartier, die neue Freiheit und vor allem das schwache Licht und die schmalen Gänge im Bartleby’s. Es gefiel ihr, die Neuerscheinungen einzusortieren, Bücher nach Themen geordnet auszustellen und den Kunden, den verwandten Geistern, dabei zu helfen, die passenden Geschichten zu finden. Den einzigen Makel ihres Arbeitslebens bildete ein junger Mann namens Harry, der zweimal in der Woche vorbeikam und Fragen stellte, deren Antworten er ihrer Ansicht nach sowieso schon kannte: Wer schrieb Große Erwartungen? Wo stehen hier die Biografien? Stets bedankte er sich bei Margaret für die Informationen, doch unabhängig von dem, was ihn angeblich interessierte, trieb er sich in der Science-Fiction-Abteilung herum und las die Bücher, ohne jemals auch nur ein einziges zu kaufen.

Er war jung, etwa in Margarets Alter, und sie nahm an, dass er wie sie an der Tilden studierte. Sie fragte sich, wie er die Zeit fand, so viel zu lesen und trotzdem noch zum College zu gehen. Und wenn er schon die Tilden besuchte, konnte er es sich vermutlich auch leisten, die Bücher zu kaufen. Warum also hing er hier herum? Es ging ihr auf die Nerven, doch wann immer sie ihn darauf ansprach, stellte er das Buch einfach zurück ins Regal, entschuldigte sich und ging.

Eine Zeit lang arbeitete sie zweiunddreißig Stunden die Woche im Laden, besuchte den Unterricht und lernte in der Freizeit. Diese Einteilung erwies sich jedoch als unerwartet schwierig. Die Arbeit, selbst die relativ leichte Tätigkeit in der Beschaulichkeit bei Bartleby’s, war anstrengend. Nach einer vollen Schicht taten ihr die Füße weh, und ihr Kopf fühlte sich an wie ein ausgewrungener Schwamm. Danach wollte sie sich nur noch auf Mrs. Johnsons Sofa legen und fernsehen. Wenn sie sich abends doch einmal überwand und lernte, wurde es ein langsamer, mühsamer und von Wiederholungen geprägter Prozess. Sie hatte Mühe, sich zu konzentrieren, und musste viele Abschnitte (oder gar einzelne Sätze) mehrmals lesen, um wenigstens andeutungsweise deren Sinn zu erfassen. Die ganze Zeit über war sie müde und verschlafen, sie versäumte den Unterricht und reichte Hausarbeiten zu spät oder gar nicht ein. Ende September waren ihre Noten schlechter denn je.

Ihr Sicherheitsnetz, das ihre Mutter ihr so spöttisch eingeflüstert hatte, der Status als »Mrs.«, erschien in Gestalt von Pierce Lombard, der wie sie das Seminar über Europäische Kulturgeschichte belegt hatte. Der große dürre Bursche mit einem Kurzhaarschnitt, der seit zehn Jahren aus der Mode war, den dicken Lidern und den dunklen Ringen unter den Augen wirkte ewig schläfrig und sah ein Jahrzehnt älter aus, als er tatsächlich war (zwanzig), doch er lud Margaret mindestens einmal in der Woche ein, und er stammte aus einer Hähnchendynastie. Wenn man Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts irgendwo im Süden der USA im Supermarkt einkaufte, war die Wahrscheinlichkeit hoch, dass man ein Hähnchen von Lombard erwarb. Manchmal versuchte Pierce, Margaret die Branche zu erklären, doch jedes Mal, wenn er damit anfing, schweiften ihre Gedanken ab.

Sie gingen nicht oft ins Kino, weil Pierce die meisten Filme nicht mochte (er war selbst nach den Maßstäben der Tilden sehr konservativ und gläubig), und wenn sie doch einmal hingingen, saß er wie in Habachtstellung da und lächelte, aber lachte nie. Manchmal beobachtete Margaret im Dunkeln lieber ihn, als den Film anzuschauen. Jetzt sah er aus wie dreißig. Wie mochte er in zehn oder zwanzig Jahren aussehen, wenn der Druck auf den Erben des Hähnchenimperiums allmählich seine Spuren hinterließ?

Er war höflich, hielt ihr immer die Tür auf und sagte »bitte« und »danke«. Wenn sie mit seinem Mercedes irgendwohin zum Knutschen fuhren, wirkten seine Küsse mathematisch berechnet, um genau auf der Grenze zwischen Leidenschaft und guten Manieren zu bleiben, während er sie an der Hüfte, am Bauch und im Gesicht berührte. Margaret war ein »braves Mädchen«, immer noch Jungfrau und stellte sich vor, die wahre Liebe müsse wie ein heftiger und gefährlicher Kampfsport sein. Etwas, das man auf Eisenbahngleisen oder auf dem Waldboden tat. Zwei Körper, die miteinander rangen, um der Reinheit des Geistes Ausdruck zu verleihen. Sie fragte sich, ob Pierce, der ebenfalls ein »braver Junge« war, darauf wartete, dass sie spirituelle Verbundenheit zeigte, ehe er diese Art Leidenschaft an den Tag legte. Eines Abends Anfang Oktober griff sie ihm in den Schritt und drückte kräftig. Er fuhr auf, stieß sie weg und zog sich zur anderen Seite des Fahrersitzes zurück.

»Warum hast du das gemacht?«, fragte er.

»Weil ich es wollte«, antwortete sie.

»Darum geht es nicht«, erwiderte er. »Wir sollten das nicht tun.«

Danach fuhr er sie heim und küsste sie nicht zum Abschied.

Sie hatte immer angenommen, Religion sei etwas, das man in höflicher Gesellschaft tat, aber nicht im Privatleben. Den Unsinn, dem man sich sonntags unterwarf, konnte doch niemand tatsächlich glauben. Pierce war ein Junge. Sollte er sie nicht ein wenig bedrängen und herausfinden, was sie ihm gerade noch durchgehen ließ? Glaubte wirklich irgendjemand, Jesus Christus interessierte sich auch nur einen Dreck dafür, was sie mit ihren Geschlechtsteilen anstellten? Pierce sollte doch überglücklich sein, dass sie ein wenig Interesse an seinem Penis gezeigt hatte, oder nicht?

Nachdem Margaret ihn begrabscht hatte, rief er nicht mehr an und suchte sich im Kursraum und im Gottesdienst immer einen Platz, der möglichst weit von ihrem entfernt war. Die neu gefundene Freizeit trug allerdings nicht dazu bei, dass ihre Noten besser wurden. Sie fiel nacheinander bei drei Prüfungen durch. Als der Mathematiklehrer ihr die Halbjahresprüfung mit einer fetten Sechs auf dem Titelblatt zurückgab, murmelte er: »Miss Byrne, reißen Sie sich zusammen.«

Sie empfand eine vage Wut, weil alles so unfair war. Warum bekam sie Probleme, wenn ihr Vater ein schlechter Geschäftsmann war? Warum war sie dafür zuständig, eine vertrottelte Schnarchnase zu überreden, ihren Körper zu genießen? Wie sollte man denn unter diesen Umständen Erfolg haben?

An dem Tag, als sie die...

Erscheint lt. Verlag 11.5.2020
Übersetzer Jürgen Langowski
Verlagsort München
Sprache deutsch
Original-Titel A Cosmology of Monsters
Themenwelt Literatur Fantasy / Science Fiction Fantasy
Literatur Krimi / Thriller / Horror Horror
Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte eBooks • Geisterhaus • Horror • Monster • Übernatürliches • Ungeheuer
ISBN-10 3-641-23644-4 / 3641236444
ISBN-13 978-3-641-23644-1 / 9783641236441
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