Die verlassenen Kinder (eBook)

Kriminalroman

(Autor)

eBook Download: EPUB
2020
464 Seiten
Goldmann Verlag
978-3-641-25832-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die verlassenen Kinder - Belinda Bauer
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Ein Spannungsroman der Extraklasse - nominiert für den Man Booker Prize
»Bleibt im Auto. Ich bin gleich wieder da.« Das sind die letzten Worte, die der elfjährige Jack von seiner Mutter hört. Bis sie zurückkommt, soll er auf seine beiden kleinen Schwestern aufpassen. Doch sie kommt nicht zurück, sondern wird bald darauf ermordet aufgefunden. Jahre später ist der Täter noch immer nicht gefasst, und Jack trägt noch immer die Verantwortung für Joy und Merry. Mit Einbrüchen hält er sich und seine Schwestern über Wasser. Als er endlich auf die entscheidende Spur stößt, ist er fest entschlossen, den Mord an seiner Mutter zu rächen ...

Belinda Bauer wuchs in England und Südafrika auf. Sie arbeitete als Journalistin und Drehbuchautorin und wurde mit dem renommierten Bafta Award for Young British Screenwriters ausgezeichnet. Ihr Romandebüt legte sie mit dem von Kritikern wie Lesern gefeierten Werk »Das Grab im Moor« vor, das als bester Spannungsroman des Jahres mit dem Gold Dagger ausgezeichnet wurde. Auch mit ihren weiteren Romanen wurde Belinda Bauer ihrem Ruf als Ausnahmetalent immer wieder aufs Neue gerecht. Die Autorin lebt in Wales.

1


20. August 1998

Es war so heiß im Auto, dass die Sitze rochen, als würden sie schmelzen. Jack trug Shorts, und jedes Mal, wenn er die Beine bewegte, hörte es sich an, als würden Klebestreifen von den Sitzen abgezogen.

Die Fenster waren heruntergekurbelt, aber kein Lüftchen regte sich. Nur kleine Insekten zirpten, ein Rascheln wie trockenes Papier. Über ihnen hing eine einsame ausgefranste Wolke, während ein unsichtbarer Jet einen Kreidestrich über den leuchtend blauen Himmel zog.

Schweiß rann Jack den Nacken hinunter, und er schob die Tür einen Spalt weit auf.

»Lass das!«, sagte Joy. »Mummy hat gesagt, wir sollen im Auto bleiben.«

»Bleib ich ja auch«, erwiderte er. »Will’s nur ein bisschen kühler haben.«

Es war ein ruhiger Nachmittag, und es herrschte nicht viel Verkehr, doch jedes Mal, wenn ein Auto vorbeikam, wackelte der alte Toyota ein bisschen.

Wenn es ein Lastwagen war, schaukelte er heftig.

»Mach die Tür zu!«, verlangte Joy.

Jack tat es und gab ein missbilligendes Schnalzen von sich. Joy war eine Drama Queen. Sie war neun Jahre alt und brach ständig in Tränen, Gesinge oder Gelächter aus. Für gewöhnlich setzte sie ihren Willen durch.

»Wie lange ist sie jetzt schon weg?«, fragte sie mit Jammerstimme.

Jack schaute auf die Uhr. Die hatte er zum letzten Geburtstag bekommen, als er elf geworden war.

Er hatte sich eine PlayStation gewünscht.

»Zwanzig Minuten«, sagte er.

Das war gelogen. Es war fast eine Stunde her, dass das Auto gehustet und geruckelt hatte und dann knirschend auf dem Standstreifen der M5 in Richtung Süden ausgerollt und zum Stehen gekommen war. Das hieß, dass ihre Mutter sie vor über einer halben Stunde hier zurückgelassen hatte, um sich zu Fuß auf den Weg zu einer Notrufsäule zu machen.

Bleibt im Auto. Ich bin gleich wieder da.

Tja, sie war nicht gleich wieder da gewesen – und Jack bekam allmählich dieses nervige, gereizte Gefühl, das er immer kriegte, wenn seine Mutter nicht wie sein Vater reagierte. Dad hätte gewusst, was mit dem Auto los war. Er hätte nicht dagesessen und immer wieder den Zündschlüssel umgedreht, bis die Batterie leer war. Er hätte ein Handy dabeigehabt und hätte nicht wie ein Höhlenmensch die Straße hinauflatschen und nach einer Notrufsäule suchen müssen.

Merry quengelte und zappelte in den Gurten ihres Kindersitzes. Die Sonne in ihrem Gesicht machte sie unruhig.

Joy beugte sich vor und steckte ihr den Schnuller wieder in den Mund.

»Scheiße, ist das heiß«, knurrte Jack.

»Du hast Scheiße gesagt«, stellte Joy fest. »Das sag ich Mum.« Doch sie verkündete es nicht mit der üblichen Überzeugung. Es war zu heiß für Überzeugungen.

Backofenheiß.

Eine Zeit lang spielten sie »Ich sehe was, was du nicht siehst«. H wie Himmel und W wie Wiese, bis sie den begrenzten Vorrat an realen Dingen aufgebraucht hatten und sich blödsinnige Sachen ausdachten wie DHG wie Dein Hässliches Gesicht.

»Halt die Klappe!«, blaffte Joy.

Jack wollte schon antworten: »Halt du doch die Klappe.« Aber dann entschied er sich dagegen, weil er der Älteste war und weil er die Verantwortung hatte. Das hatte Mum doch gesagt …

Jack hat das Sagen. Er hat die Verantwortung.

Also betrachtete er S wie Staub, blickte die Straße hinauf und überlegte, wie weit die Notrufsäule wohl weg war und wie schnell seine Mutter mit ihrem behäbigen schwangeren Watschelgang dorthin gelangt war und wie lange sie telefoniert hatte. Ihm fielen keine Antworten ein, aber er hatte instinktiv das Gefühl, dass sie schon zu lange weg war.

Sie hatte im Schatten einer kurzen Baumreihe angehalten. Der Schatten war allerdings immer kleiner geworden und schließlich zu nichts zusammengeschrumpft.

Mit zusammengekniffenen Augen blinzelte er in die gemein grelle Sonne.

Wenn er wegschaute und dann wieder hinsah, würde er seine Mutter um die Kurve kommen sehen. Er stellte es sich genau vor. Wollte mit aller Kraft, dass es so war.

Wenn er wegschaute.

Und dann wieder hinsah.

Ganz langsam.

Sie würde da sein.

Sie würde da sein …

Sie war nicht da.

»Wo bleibt sie denn bloß?« Joy trat gegen die Lehne des Vordersitzes. »Sie hat gesagt, zehn Minuten, und jetzt ist sie schon zehn Stunden weg!«

Auf dem Vordersitz fing Merry an zu heulen.

»Siehst du, was du gemacht hast!« Jack beugte sich über die Rückenlehne und machte eine Menge Getue um Merry. Er gab ihr die Wasserflasche. Sie saugte nur einmal daran, dann spuckte sie den Nuckel aus, damit sie weiterheulen konnte.

»Sie kann dich nicht ausstehen«, bemerkte Joy voll selbstgefälliger Schadenfreude.

Jack setzte sich wieder hin und ließ sie es versuchen, aber wie sich herausstellte, konnte Merry niemanden ausstehen. Sie heulte und heulte.

Und heulte.

Merry war schon zwei, doch sie weinte immer noch viel. Jack mochte sie nicht besonders.

»Vielleicht braucht sie eine neue Windel«, sagte Joy vorsichtig. »In der Tasche ist eine.«

»Sie hört bestimmt gleich auf«, erwiderte Jack. Wickeln würde er seine kleine Schwester nicht.

Joy auch nicht. Sie erwähnte die Windel nicht noch einmal, biss sich bloß auf die Unterlippe und starrte mit finsterem Gesicht in Richtung der Kurve.

»Wo bleibt sie denn bloß?«, wiederholte sie, diesmal aber mit einer Stimme, die so verzagt und verängstigt klang, dass Jack unbedingt etwas tun musste, sonst würde er auch Angst bekommen.

Noch mehr Angst.

»Komm, wir gehen ihr entgegen«, schlug er vor.

»Wie denn?«

»Na, zu Fuß. Ist nicht weit. Das hat Mum doch gesagt.«

»Wenn es nicht weit ist, warum ist sie dann noch nicht wieder da?«

Jack ignorierte die Frage und öffnete die Tür.

»Bestimmt ist sie böse, wenn wir nicht warten, so wie sie’s gesagt hat.«

»Nein. Sie wird sich freuen, dass wir sie suchen gegangen sind.«

Joys Augen wurden groß und rund. »Hat sie sich verirrt?«

»Nein!«

Ihre Unterlippe zitterte. »Haben wir uns verirrt?«

»Nein. Niemand hat sich verirrt! Mir ist nur heiß und langweilig, und ich will ein bisschen rumlaufen, das ist alles. Du kannst mitkommen oder hierbleiben.«

»Ich will nicht hierbleiben«, erwiderte Joy rasch.

»Dann komm mit.«

»Und was ist mit Merry?«

»Die kann doch laufen.«

»Tut sie aber nicht.«

»Dann tragen wir sie eben.«

»Sie ist zu schwer.«

»Ich trage sie.«

»Und was ist mit den Autos?«, fragte Joy und zeigte auf die funkelnden Blitze, die an ihnen vorbeirasten. Viele waren es nicht, aber sie fuhren schnell. »Das ist zu gefährlich«, fügte sie leise hinzu.

Das hatte ihre Mutter auch gesagt, als sie zum Telefon hatten mitkommen wollen.

Das ist zu gefährlich.

»Komm schon«, drängte Jack. »Es wird alles gut. Ich versprech’s dir.«

Joy trug die Babytasche, und Jack trug das Baby.

Natürlich weigerte Merry sich zu laufen.

Bei jedem Auto, das vorbeikam, zuckte die stickige Luft einmal kurz auf und sackte dann wieder leblos in den Staub.

Sie gingen ganz dicht an der Leitplanke entlang. Der Streifen aus gewelltem Stahl war viel höher, als er von einem fahrenden Auto aus wirkte – oben reichte er Jack bis zum Ellenbogen und unten fast bis zum Saum seiner blauen Fußballshorts. Auf der anderen Seite der Leitplanke war der Boden von hohem, sprödem Gras überwuchert. Das Gelände fiel steil zu Gestrüpp und kleinen Bäumen hin ab und wurde dann eben. Dahinter sahen sie Hecken, und hinter den Hecken waren Wiesen. Gras. Ein paar Schafe. Die meisten Weiden waren leer und die nächsten Ställe weit weg – kleine Spielzeugklötze aus Backstein mit Wellblechdächern.

Der Standstreifen war breit, aber leer war er nicht. Vom Auto aus sah es immer so aus, deshalb war Jack überrascht, was da alles herumlag. Coladosen und Arbeitshandschuhe und dünne Plastikschläuche und Stofftiere – eine bunt zusammengewürfelte Sammlung, dadurch vereint, dass alles platt gefahren und von demselben feinen grauen Staub bedeckt war.

»Was ist, wenn ein Auto anhält?«, wollte Joy wissen. »Steigen wir dann ein?«

»Natürlich nicht«, schnaubte Jack. Jeder wusste doch, dass man glatt ermordet werden konnte, wenn man zu einem Fremden ins Auto stieg.

Joy wusste das auch, und es tröstete sie offenbar, dass ihr Bruder kein Risiko einging.

Jack drehte sich nach ihrem Wagen um. Er glitzerte im blendenden Sonnenlicht, schien jedoch bereits weit weg zu sein – als wäre er ein Boot, das in einem tiefen Ozean versank, und wenn er erst verschwunden wäre, würden sie ihn nie wieder erreichen können.

Oder vielleicht versanken sie ja gerade …

Merry war schwer, umso schwerer, weil sie so zappelig und quengelig war. Ihr Gesicht war rot und verzerrt, und sie wand sich wie ein bleierner Wurm in Jacks Armen.

»Sie hat die Sonne im Gesicht«, sagte er. »Ist da ein Sonnenhut in der Tasche?«

Sie blieben stehen, und Joy stellte die Tasche auf den Boden, damit sie hineinschauen konnte.

»Nein. Nur ein Lätzchen.« Sie hielt es ihm hin und blinzelte im weißglühenden Sonnenschein. Das Lätzchen...

Erscheint lt. Verlag 15.6.2020
Übersetzer Marie-Luise Bezzenberger
Verlagsort München
Sprache deutsch
Original-Titel SNAP
Themenwelt Literatur Krimi / Thriller / Horror Krimi / Thriller
Schlagworte Beschäftigung Erwachsene • eBooks • England • Krimi • Krimi Neuerscheinungen 2020 • Man Booker Prize • Mord • Neuerscheinungen Bücher 2020 • Rache • Sohn • Somerset • Spannungsroman • Thriller
ISBN-10 3-641-25832-4 / 3641258324
ISBN-13 978-3-641-25832-0 / 9783641258320
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