*** Platz 1 der Krimibestenliste! Deutscher Krimipreis 2021! ***
Torsten Wolf steht unter Druck. Nach dem überraschenden Tod des Bauunternehmers Christof Nolden soll der Berliner Anwalt nun dessen Geschäfte lenken. Aber Wolf stößt im deutschlandweit agierenden Nolden-Konzern bald auf Ungereimtheiten - und auf massiven Widerstand im Unternehmen. Als Wolfs Assistentin spurlos verschwindet, deutet alles auf einen Zusammenhang mit den Geschäften des Immobilienkonzerns hin. Gemeinsam mit Isa Kurzeck, die bereits seit Jahren zu den kriminellen Machenschaften von Nolden-Bau recherchiert, versucht Wolf Licht ins Dunkel zu bringen. Aber je tiefer die beiden in die Konzernstrukturen eintauchen, desto deutlicher wird, dass es längst nicht mehr um die Geschicke eines Unternehmens geht, sondern um den Zusammenhalt unserer ganzen Gesellschaft.
»Glänzend geschrieben. Kühn konstruiert. Und hoffentlich nur Fantasie.« Wolfgang Schorlau
Susanne Saygin, geboren 1967, aufgewachsen im Rheinland, Geschichtsstudium in Köln und Cambridge, Promotion in Oxford. Danach Tätigkeit im akademischen Projektmanagement und in der freien Wirtschaft. Die Autorin mit deutsch-türkischen Wurzeln hatte ihren Lebensmittelpunkt knapp zwanzig Jahre lang in Köln. Seit 2010 lebt und arbeitet sie in Berlin. Für ihren von der Presse hochgelobten Debütroman »Feinde« hat die Autorin über fünf Jahre lang recherchiert. »Crash« ist ihr zweiter Roman.
Zwei
Donnerstag
14. Februar 2019
Hannover – Berlin
Torsten Wolf hastete die Treppen zum Bahnsteig hoch. Das Schließsignal fiepte schon, aber die Türen des ICE waren noch offen. Wolf sprang auf die Waggontreppe. Hinter ihm schnappte die Zugtür zu. Wolf holte tief Atem und orientierte sich. Er war in der Holzklasse gelandet und würde sich bis zu seinem Platz in der Ersten durchkämpfen müssen. Als er sich in Bewegung setzte, touchierte er mit seiner Notebooktasche einen jungen Mann, der im Gang vor den Toiletten auf dem Boden saß.
»Ey, pass doch auf, Alter!«, blökte ihn der Junge an. Wollmütze hoch auf dem Kopf getragen, voluminöse Daunenjacke, MacBook Air. Kalte Wut stieg in Wolf auf. ›Nicht provozieren lassen‹, dachte er. Er wandte sich um und arbeitete sich weiter in den überfüllten Waggon hinein. Wahrscheinlich war der vorhergehende ICE wieder mal ausgefallen, und jetzt drängte sich das ganze Kroppzeug in der Pendlerverbindung nach Berlin.
Als Wolf endlich in der ersten Klasse angelangt war, saß eine zarte, dunkelhaarige Frau in buntem Minirock und Leggings auf seinem Platz und stillte ihr Kind. Wolf registrierte den vertrauten Milchdunst. ›Ben‹, dachte er, ›Ada‹. Für einen Moment wollte er nichts anderes, als sich neben die Frau setzen, den Kopf an ihre Schulter lehnen und mit geschlossenen Augen auf ihren Atem und den des Kindes hören. Die Frau hob den Kopf und sah ihn an. Ihre Augen waren wasserblau. Der Bann war gebrochen.
Wolf drehte ab, er griff sich im Gehen eine FAZ und suchte sich einen Platz im Bordrestaurant.
Während er auf sein Pils wartete, checkte er seine Mails. Zur Abwechslung nichts Dringendes. Wolf legte das Handy weg, lehnte sich zurück und dachte an die Verhandlungen. Nach zähem Beginn war das Gespräch dann doch noch in die richtigen Bahnen gekommen. Der Baurat hatte sich überzeugen lassen, dass HSW genau die Expertise mitbrachte, auf die die Stadt bei der Rekommunalisierung ihres sanierungsbedürftigen Sozialbaubestands angewiesen war. Man hatte sich mit Handschlag verabschiedet, der Vertragsabschluss war für Mittwoch geplant. 900k Minimum würde das Mandat allein in diesem Jahr generieren, überschlug Wolf, mit ein bisschen Glück auch mehr. Herbert Stetten würde zufrieden sein.
Wolf sah aus dem Fenster, draußen war es dunkel, die Scheibe reflektierte sein Gesicht. Dunkles, etwas zu langes Haar, Seitenscheitel, kräftige Nase, jungenhafte Urbanität suggerierender Dreitagebart. Die Ringe unter seinen Augen waren allerdings nicht ganz so jungenhaft, genauso wenig wie der Bauch, der sich seit ein paar Wochen immer deutlicher unter Wolfs Hemden abzeichnete.
Die Kellnerin kam mit seinem Pils. Wolf nahm einen langen Zug, dann widmete er sich der Zeitung. Das Feuilleton machte mit einem großen Artikel zum Bauhausjubiläum auf. »Walter Gropius«, las Wolf, »Hannes Meyer«, »Ludwig Mies van der Rohe«, »Weimar«, »Dessau«. Wolf kannte diese Namen, aber es gelang ihm nicht, sich auf den Artikel zu konzentrieren. Er ließ die Zeitung sinken, lehnte sich im Sitz zurück und schloss die Augen.
Mit einem Mal erinnerte er sich an den ersten Tag in Dessau. Er sah Elise auf der Terrasse des Kornhauses sitzen, im Profil, mit Blick auf die Elbe, ein Bein untergeschlagen, zierlich und schmal wie eine Tänzerin, das dunkelbraune Haar hoch auf dem Kopf zu einem Knoten gebunden, kurzer Pony, der die feingeschwungenen Brauen und die hohen Wangenknochen betonte. Mit Federn im Haar hätte sie ausgesehen wie ein Manga-Indianermädchen.
Elise hörte ihn kommen und wandte den Kopf zu ihm. Das goldene Piercing in ihrem Nasenflügel glitzerte in der Sonne.
»Coppa Cioccolata oder Schwedenbecher?«, fragte Wolf.
»Beides!« Im Gegenlicht waren Elises braune Augen annähernd bernsteinfarben.
Wolf hatte auf das Schokoeis spekuliert, stellte jetzt aber beide Becher vor Elise ab.
»Zu Befehl, Madame Nimmersatt.« Er küsste sie auf die Nasenspitze. Elise machte sich über die Eisbecher her. Gelegentlich gab sie Wolf einen Löffel ab.
Sie blieben auf der Terrasse, bis die Sonne elbeabwärts untergegangen war. Dann gingen sie zurück in ihr Gästezimmer im Bauhausgebäude. Wolf holte den Champagner aus dem Kühlschrank in der Teeküche. Als er ins Zimmer zurückkam, stand Elise mit dem Rücken zu ihm und sah durch das perfekt proportionierte Atelierfenster nach draußen in die Dunkelheit.
Wolf stellte die Flasche ab und umarmte sie von hinten.
»Das ist der schönste Ort, an dem ich je war«, flüsterte Elise.
»Für dich nur das Beste.« Wolf berührte Elises Brüste unter dem dünnen Seidenblouson mit den aufgestickten chinesischen Drachen. Elise stand einen Moment still gegen ihn gelehnt, dann wandte sie sich zu ihm um und küsste ihn auf den Mund. Wolf nahm sie in die Arme und trug sie aufs Bett.
Den Champagner tranken sie erst viel später.
Als Wolf am nächsten Morgen aufwachte, stand Elise in ein Bettlaken gewickelt auf dem Balkon.
»Schau dir das an«, sie zeigte auf ein vereinzeltes Kranichpaar, das schrill rufend nach Osten flog.
»Wohin ihr? – Nirgend hin. Von wem davon? – Von allen. Ihr fragt, wie lange sind sie schon beisammen? – Seit Kurzem. – Und wann werden sie sich trennen? – Bald«, rezitierte Elise. »Kennst du das?« Sie drehte sich zu Wolf. »Mein Lieblingsgedicht. Von Brecht.«
»Aber ich will mich doch gar nicht von dir trennen«, sagte Wolf. Er küsste Elise in den Nacken und zog sie sanft aber bestimmt zurück in Richtung Bett.
Kennengelernt hatten sie sich zwei Wochen vorher. Henning, sein bester Freund, hatte Wolf gefragt, ob er am Samstag mit ins Kraftwerk an der Köpenicker kommen wolle.
»Neue E-Musik.« Henning hatte gegrinst. »Julia will da hin. Geht die ganze Nacht. Nimm dir ein Kissen und eine Isomatte mit. Da kann man wohl auch pennen.«
Wolf stand nicht auf Stockhausen und Konsorten, aber er hatte an dem Abend nichts Besseres zu tun. Außerdem spekulierte er darauf, dass Hennings Freundin Julia, eine ausnehmend hübsche Kunsthistorikerin, eine Kommilitonin mitbringen würde.
Tatsächlich war Julia in Begleitung ihrer Freundin Elise gekommen. Die beiden Mädels rollten ihre Isomatten neben denen von Wolf und Henning auf einem großen Podest aus und vertieften sich dann in ein intensives Gespräch. Wolf und Henning tranken währenddessen an das Podest gelehnt Bier und zogen über die Musik ab – seltsam aggressives metallisches Gedengel, das von unablässigem Stroboskopflackern begleitet wurde.
Henning zeigte auf die Leute um sie herum, die mehr oder weniger leicht bekleidet auf Feldbetten und Isomatten lagerten.
»Pyjamaparty, oder?«
»Aus der Hölle.« Wolf sah verstohlen zu Elise hinüber, die im Schneidersitz zu Julia geneigt saß und ihr offenbar konzentriert zuhörte.
Um halb zwölf bauten die Musiker ihre Instrumente ab. Nach einer endlos langen Umbauphase trat ein einzelner schmaler Mann ans Mischpult. Kurz darauf erfüllte ein sanft grollender Bass die jetzt fast komplett dunkle Halle. Henning und Wolf kletterten zu den Mädels auf das Podest. Dort war es inzwischen voll geworden. Elise hatte ihre Isomatte dicht neben die von Wolf gerückt. Henning reichte irgendwelche Pillen herum. Wolf wunderte sich, mit welcher Selbstverständlichkeit Elise und Julia die Dinger einwarfen, aber als die Reihe an ihm war, schluckte er die herzförmige Tablette, als würde er das jedes Wochenende tun.
Er streckte sich auf seiner Isomatte aus und starrte zur Hallendecke hoch, die im diffusen Halblicht aussah, wie ein Filmset aus Blade Runner. Das hölzerne Podest unter ihm übertrug die Bässe der Musik direkt in seinen Körper. Flaumige Klangwolken schienen Wolf einzuhüllen. Er hörte Grillenzirpen und das Murmeln von Wasser. Über ihm projizierte die Lichtanlage Sternenkonstellationen an die Decke.
Plötzlich schienen sich die Mauern des Kraftwerks zu öffnen, und Wolf meinte, durch die Stadt hindurch auf endlos wogendes Gras zu sehen. Gleichzeitig fühlte er sich mit allem um ihn herum verbunden, mit der Musik, mit dem Holz des Podests unter ihm, mit den Menschen in der Halle, mit Henning und Julia, vor allem aber mit Elise, die keine dreißig Zentimeter von ihm entfernt lag. Wolf schien es, als ob von ihr ein unbestimmter Duft ausging, kein Parfum, sondern ein betörender animalischer Botenstoff, der ihn unweigerlich zu ihr hinzog.
Er drehte sich zu ihr. Elise lag zu ihm gewandt und lächelte ihn mit weit geöffneten Augen an. Wolf streckte die Hand aus und zog behutsam die Linie ihrer Augenbrauen nach. Elise strich ihm mit dem Rücken ihrer Hand über die Wange. Wolf dachte, dass er noch nie so sanft berührt worden war. Er spürte mit den Fingerspitzen die Konturen von Elises Gesicht nach und hatte das Gefühl, dass die Zartheit ihrer Haut, die Struktur der darunterliegenden Muskeln und Knochen, das Pulsieren von Elises Blut, der Rhythmus ihres Atems in diesem Moment und für immer ein Teil von ihm wurden. Neben ihm stöhnte Henning unterdrückt auf. ›Aber darum geht es doch gar nicht‹, dachte Wolf. Danach verlor sich sein Zeitgefühl.
Gegen sechs Uhr morgens wurde die Musik immer leiser und verstummte schließlich ganz. Elise richtete sich mit einer katzenartigen Bewegung auf, sie rollte ihre Isomatte und ihr Kissen zusammen und wandte sich zu Wolf.
»Kommst du mit?«, fragte sie.
Sie frühstückten bei einem türkischen Bäcker auf der Adalbertstraße. Nach der...
Erscheint lt. Verlag | 9.8.2021 |
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Reihe/Serie | Isa-und-Can-Reihe |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Literatur ► Romane / Erzählungen | |
Schlagworte | aktuell • Anwaltskanzlei • Ausgebrannt • Berlin • deutsche Politik • Deutscher Krimi Preis 2021 • eBooks • Gesellschaft Deutschland • Kunstbetrieb • Sekte • spannend • Thriller |
ISBN-10 | 3-641-24682-2 / 3641246822 |
ISBN-13 | 978-3-641-24682-2 / 9783641246822 |
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