Lost Sister (eBook)

Nichts ist schlimmer als die Wahrheit - Roman

(Autor)

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2020
Goldmann Verlag
978-3-641-25584-8 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Lost Sister - Jenny Quintana
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Anna kann den Tag nicht vergessen, an dem ihre Schwester spurlos verschwand. Auch nach dreißig Jahren nicht. Die Lücke, die Gabriella hinterließ, ist einfach zu groß. Die Familie brach über dem Verlust auseinander, und Anna floh so weit fort, wie es nur ging. Nun ist sie zurück, um nach dem Tod ihrer Mutter deren Angelegenheiten zu regeln. Doch je länger Anna sich in ihrer Heimatstadt aufhält, desto größer wird ihre Obsession herauszufinden, was damals wirklich geschah. Dabei ahnt sie nicht, dass die Wahrheit schlimmer und gefährlicher ist als jede Ungewissheit ...

Aufgewachsen in Essex und Berkshire ging Jenny Quintana für ihr Studium der englischen Literaturwissenschaft nach London. Dort und später auch in Athen und Sevilla arbeitete sie als Englischlehrerin, bevor sie mit ihrer Familie zurück nach Berkshire zog. »Lost Sister« ist ihr erster Roman.

1


Der Zug hielt hundert Meter vor dem Bahnhof. Eine Stimme kündigte eine kurze Verzögerung an. Die Leute um mich herum murrten, reckten an den Fenstern die Hälse und fragten sich, wie lange wir wohl hier festsitzen würden. Ich schloss die Augen, atmete tief ein und wieder aus, bog und streckte die Finger und pustete mir auf die Handteller. Sie taten weh, und mir ging auf, dass ich die ganze Strecke von Paddington bis hierher die Fäuste geballt hatte, sodass die Fingernägel meine Haut gekerbt hatten.

Draußen die vertrauten Wahrzeichen: viktorianische Häuser mit chaotischen Anbauten; ein schmales Stück Ödland, das sich neben den Gleisen entlangzog. Früher hatten Jungs es für ihre Mutproben genutzt; Vandalen hatten auf der Böschung Feuer gelegt. Jetzt war die Strecke abgezäunt. An Hecken hingen Plastiktüten, das Gras war mit leeren Flaschen übersät. Es war Herbst, doch von den üblichen Anzeichen war nichts zu sehen: keine Bäume, kein kupferrotes Laub, keine blassen Goldtöne. Der Ort war schmucklos. Deprimierend und still.

Vor ein paar Tagen war ich noch in Athen gewesen und hatte in der Oktobersonne Kaffee getrunken. Mein Handy hatte geklingelt, eine Stimme hatte sich gemeldet, und ich hatte Rita erkannt – die beste Freundin meiner Mutter. Es war die Art, wie sie meinen Namen, Anna Flores, gesagt hatte; wie sie das »r« gerollt hatte; wie sie die Stimme gesenkt und erklärt hatte, woran meine Mutter gestorben war. Ein Schlaganfall. Wann ich nach Hause kommen könne?

Rita hatte über die Beerdigung gesprochen und mich um meine Meinung gebeten: Eier mit Kresse oder Lachs mit Gurke; »Herr aller Hoffnung« oder »Bleib bei mir, Herr«. Ihre Worte hatten überhaupt nicht zu dem Souvlaki-Duft gepasst, der aus einem Restaurant herüberwehte, und zum Klang der einsamen Stimme, die in einer Bar sang. Hinterher hatte ich eine Ewigkeit weinend dagesessen und das Gefühl gehabt, der traurigsten Musik der Welt zu lauschen.

Der Zug ruckte an und kroch vorwärts. Die Fahrgäste rührten sich unter erleichtertem Gemurmel. Ich zog meine Jeansjacke an, hantierte mit meiner Tasche, überprüfte, ob alles da war, wo es hingehörte: Portemonnaie, Handy, Lippenstift, Givenchy-Fläschchen, Foto von meiner Mutter, Foto von Gabriella. Ein Mann im Regenmantel griff nach seinem Koffer. Ich folgte seinem Beispiel und hob meinen herunter.

Ein paar Leute stiegen mit mir aus. Ich sah ihnen nach, wie sie die Treppe hinauf- und über die Fußgängerbrücke eilten, sich mit ihren Fahrkarten und ihrem Gepäck abmühten. Ich stellte meinen Koffer ab, zog den Griff heraus und hielt inne, um mich umzusehen. Es hatte sich nicht viel geändert. Der leere Warteraum. Die kaputte Sitzbank. Die Überwachungskameras. Wann waren sie angebracht worden? Zu spät, um Gabriellas Abfahrt festzuhalten oder klarzustellen, was wirklich beobachtet worden war.

Drei Jahre. So lange war das her. Ein Boxenstopp, bevor ich nach Griechenland gegangen war, obwohl ich meine Mutter seither noch einmal gesehen hatte, als sie am Tag vor meinem endgültigen Abflug nach London gefahren war. Wenn ich jetzt an diese letzte Begegnung in einem Café im Harrods dachte, wo meine Mutter an ihrem Scone herumgestochert hatte, drehte sich mir vor Schuldgefühlen der Magen um. Drei Jahre. Und dazwischen nur Telefonate. Warum war ich davon ausgegangen, dass sie nicht totzukriegen war? Ich hätte besser als jeder andere wissen müssen, wie abrupt sich alles ändern kann.

Auf der anderen Seite der Gleise trat ein Schaffner aus einer Tür. Er schaute zu mir herüber, taxierte mich mit seinem Blick. Ich deutete ein Lächeln an, bog und streckte die Finger, als wäre mein Koffer schwer und ich nur kurz stehen geblieben, um zu verschnaufen. Dann straffte ich mich und steuerte, den glänzenden violetten Koffer hinter mir herziehend, die Treppe an. Ich hatte den Mann erkannt, allerdings so getan, als wäre das nicht der Fall. Er arbeitete schon seit Jahren am Bahnhof. Damals hatte er enge Hosen getragen, die so kurz waren, dass man seine bunten Socken sah; inzwischen reichten seine Hosen mit bescheidener Präzision bis ganz nach unten auf die Oberseite seiner Schuhe. Das war das Charakteristische an diesem Dorf: Die Leute blieben – außer mir. Ich fragte mich, ob er noch wusste, wer ich war.

Draußen auf der Straße wirkte der Himmel wie beschädigt, mit dunklen Wolken bandagiert. Die Bäume trugen kahle Äste wie Waffen, und auf dem Pflaster häufte sich Laub. Bald würde es von Männern in gelben Jacken zusammengefegt werden. Männern wie Tom. Einen Moment lang hielt ich den Atem an und lauschte, rechnete halb damit, das Rollen seines Karrens zu hören. An einem solchen Tag war er bestimmt unterwegs, den Blick gesenkt, auf seine Aufgabe konzentriert. Für alles andere blind.

Ich blinzelte und schüttelte den Kopf. Es hatte keinen Sinn, an die Vergangenheit zu denken. Stattdessen konzentrierte ich mich auf meinen Gang durch die Nebenstraßen mit ihren Reihenhäusern und den davor geparkten Autos, bemerkte ein neues Take-away, einen Pub mit geändertem Namen, ein Gebäude, das gerade renoviert wurde.

Die Straßen wurden breiter, und da stand das Haus meiner Mutter, eine ausladende viktorianische Doppelhaushälfte. Ich widerstand dem Drang, stillzustehen und den Anblick in mich aufzunehmen, so zu tun, als wäre dieser Besuch ganz normal. Ich zwang mich weiterzugehen und bog auf den Fußweg ein, und beim Quietschen der Pforte wurde mir flau im Magen. Die Haustür war schwarz, mit abblätternder Farbe und einem haarfeinen Sprung in der Glasscheibe. An der Wand wucherte eine Pfingstrose, und einen Moment lang erinnerte ich mich an blutrote, aus ihren Knospen hervorbrechende Blüten; an Gabriella, wie sie mir eine Blume ins Haar steckte. Ich hielt den Schnappschuss vor meinem geistigen Auge fest, bis er von den Rändern her verschwamm und verblasste, als würde der Entwicklungsvorgang eines Fotos rückwärts ablaufen.

Die Tür ging auf, ehe ich meinen Schlüssel finden konnte, und Rita stand in der Öffnung. »Anna«, sagte sie herzlich. Aus irgendeinem Grund hatte ich gedacht, ihre Schönheit wäre verblasst und sie hätte sich meiner Mutter angeähnelt: spatzenhaft, mit flaumigem Haar, die Augen vom Star getrübt. Stattdessen war sie drall in ihrem blauen Wollkleid, mit hellem, zu einem Bubikopf geschnittenem Haar. Ihr Gesicht hatte Falten, aber sie sah immer noch gut aus, mit hohen Wangenknochen und einer grünen Cateye-Brille.

Sie nahm meine Hand – ihr Griff war kräftig, und ich war im Nu über die Schwelle und stellte meinen Koffer ab. Und dann führte sie mich unter Entschuldigungs- und Begrüßungsformeln durch den Flur und bot mir Tee an, als wäre ich die Fremde im Haus. Vor dem Wohnzimmer blieben wir stehen. »Mach dir keine Gedanken wegen der alten Ladys«, flüsterte sie, zu mir herangebeugt. »Sie sind extra deinetwegen heute Morgen aufgetaucht.«

»Danke«, sagte ich. »Für alles, was du getan hast. Ohne dich hätte ich es nicht geschafft.«

»Natürlich hättest du das«, sagte Rita und drückte meinen Arm. »Kopf hoch, und rein mit dir.«

Das Zimmer, bemerkte ich mit einem beklemmenden Gefühl in der Brust, hatte sich kaum verändert. Der Nähkasten meiner Mutter mit dem Strickzeug obendrauf; das Kaminbesteck, mit dem mein Vater immer das Feuer geschürt hatte; der Stuhl mit der geraden Rückenlehne, auf dem Großmutter Grace immer gern gesessen hatte.

Die alten Ladys, gepudert und gebügelt, wandten sich mir in einer einzigen steifen Bewegung zu. Ich lächelte zurück, wusste, ich durfte nicht weinen. Ich wollte diese guten Menschen, die meiner Mutter wegen hierhergekommen waren, nicht in Verlegenheit bringen. Im Gefühl meiner Verantwortung straffte ich mich und ging durchs Zimmer. Mir war unwohl in dem schwarzen Kleid, dass ich aus meiner Garderobe herausgekramt hatte, und ich bedauerte meine Doc Martens. Zum Ausgleich zog ich, während ich mich auf die vordere Kante eines Lehnstuhls setzte, meine Jacke aus und versuchte sie zu verstecken, indem ich sie zusammengeknüllt hinter meine Füße legte.

Rita nahm den Stuhl mit der geraden Lehne; ihr Rücken ging in die Breite wie ein aufgegangener Kuchen und quoll über die Ränder. Sie verschränkte die Arme und machte Bemerkungen zum Wetter und zur Regenwahrscheinlichkeit. Die Ladys reagierten mit Nicken und Lächeln, genau wie ich. Als wir wieder in Schweigen verfielen, richtete ich den Blick auf die reglose Pendeluhr, den leeren Kaminrost, auf alles, nur nicht auf die mitfühlenden Gesichter der Menschen im Haus.

Es klingelte an der Tür, und Rita sprang auf, ehe ich eine Chance hatte, mich zu bewegen. Sie kam mit dem Vikar zurück. Nicholas – ein dünner junger Mann mit einem Rucksack und einem unter den Arm geklemmten Motorradhelm. »Sie müssen Anna sein«, sagte er, beugte sich vor und ergriff meine Hand. »Es tut mir so leid. Was für eine schwierige Zeit.« Ich bedankte mich, und mir war bewusst, dass meine Stimme erstickt klang. Er ließ sich am Ende des Sofas nieder, als wäre das sein angestammter Platz. Und dann fuhr er fort, mit aufrichtigen, offenen Worten: Er sei noch nicht lange in der Gemeinde, aber meine Mutter habe er noch kennengelernt. »Sie war freundlich, gesellig, ein sehr beliebtes Gemeindemitglied«, sagte er.

Stimmte das? Meine Mutter war still. In sich gekehrt. Vereinsamte im Lauf der Jahre immer mehr. Jedenfalls hatte ich es so gesehen. Ich dachte, sie habe schon vor Jahren aufgehört, in die Kirche zu gehen.

»Esther hatte einen starken Glauben«, schaltete sich Rita ein.

Bis sie zu dem Schluss kam, dass Gott sie im Stich gelassen hatte.

Nicholas sah mich ernst an. Hatte ich die Worte etwa laut gesagt? Wenn ja,...

Erscheint lt. Verlag 18.5.2020
Übersetzer Nikolaus Stingl
Verlagsort München
Sprache deutsch
Original-Titel The Missing Girl
Themenwelt Literatur Krimi / Thriller / Horror Krimi / Thriller
Schlagworte eBooks • Krimi • Krimi England • Kriminalromane • Krimi Neuerscheinungen 2020 • Krimis • Krimis und Thriller • missing girl • Neuerscheinungen Bücher 2020 • Taschenbuch • Thriller • ungleiche Schwestern • verschwundeses Mädchen
ISBN-10 3-641-25584-8 / 3641255848
ISBN-13 978-3-641-25584-8 / 9783641255848
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