Echo (eBook)

Roman
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2021 | 1. Auflage
720 Seiten
Heyne (Verlag)
978-3-641-26043-9 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Echo -  Thomas Olde Heuvelt
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Eigentlich sollte es eine ganz gewöhnliche Bergtour werden, als Nick mit seinem Kumpel Augustin zu einer Kletterpartie in den Schweizer Alpen aufbricht. Doch dann kommt es unterwegs zu einem tragischen Unfall: Augustin stürzt in eine Gletscherspalte, Nick wird schwer verletzt ins Krankenhaus eingeliefert - er wird für immer entstellt sein. Sam, Nicks Lebensgefährte, ist zunächst nur froh, dass sein Freund überlebt hat, aber dann passieren immer mysteriösere Dinge in Nicks Umfeld. Auch Nick selbst verhält sich immer seltsamer, und schon bald wird Sam klar, dass Nick etwas aus den Bergen mitgebracht hat. Etwas Böses ...

Thomas Olde Heuvelt wurde 1983 in Nijmegen, Niederlande, geboren. Er studierte Englisch und Amerikanistik an der Radboud Universität Nijmegen und an der University of Ottawa in Kanada, wo er ein halbes Jahr lang lebte. Seine Kurzgeschichte »The Day the World turned upside down« wurde mit dem Hugo Award ausgezeichnet, andere Kurzgeschichten wurden für den Hugo Award und den World Fantasy Award nominiert. Seit ihm mit »Hex« der internationale Durchbruch gelang, ist Thomas Olde Heuvelt in den Niederlanden ein gefeierter Starautor, der mit seinen Romanen regelmäßig die Bestsellerlisten erobert.

Was mit Julia Avery geschah


1

Julia sieht die Menschen unten an der Stiege, als sie nachts pinkeln muss. Sie stehen reglos dort im Dunkeln und starren zu ihr hoch, als ob sie auf sie gewartet hätten. Julias linker Fuß befindet sich auf der obersten Stufe, und sie will gerade ihren rechten auf die nächsttiefere setzen, als sie zögert und sich ihre Finger krampfhaft an das Geländer klammern. Natürlich zögert sie, denn plötzlich dringt es zu ihrem halb wachen Gehirn durch: Da unten stehen Menschen, und sie starren zu mir hoch.

Kurz zuvor ist sie aus dem Schlaf geschreckt. Ihre Nachttischlampe vertreibt die Schatten aus dem Chalet, aber draußen heult der Wind um das Dach, sodass die Luken klappern und die Balken krachen. Das Geräusch ruft bei Julia instinktiv ein Gefühl von Unheil hervor. Dieses Gefühl versetzt sie zurück ins vertraute Huckleberry Wall, das bei genau so einem Sturm abbrannte. Das war vor fünfzehn Jahren in den Catskills, und die liegen Tausende von Kilometern von diesem Haus in den Schweizer Alpen entfernt, aber wenn nachts der Schnee an den Fenstern klebt und der Wind immer stärker und stärker tost, dann sind alle abgelegenen Berghütten gleich. Creepy as fuck.

Julia greift nach dem iPhone unter ihrem Kissen. Ein Uhr fünfzehn, und keine Nachricht von Sam. Dammit. Ihr tut alles weh.

Sie schlägt die Decke zurück, und ihre Körperwärme, festgehalten von den Daunen, wird vom Luftzug weggetragen. Die Kälte der Nacht füllt den Dachboden aus. Es ist der wie ein Echo des Sturms durch das Chalet wirbelnde Luftzug, der Julia am Abend zuvor davon abgehalten hat, ein Feuer zu machen. Sie bildet sich ein, dass, während sie schläft, die Nacht Leben in die Kohlenreste hauchen, glühende Ascheteilchen auf die Tapete werfen und die Vorhänge in Brand stecken wird. Vor fünfzehn Jahren hat ihr großer Bruder sie geweckt, ehe sie im Rauch ersticken konnte – sie war sechs, er neun –, aber heute Nacht hat er zum letzten Mal um kurz vor halb elf angerufen, als er auf der Schnellstraße bei Bern feststeckte. Der Winterdienst tut sein Bestes, sagt Sam durch die schlechte Verbindung, aber schneller als im Schritttempo kommt er nicht voran, und der schlimmste Teil der Strecke, der durch die Berge, steht ihm noch bevor. Das heißt, falls der Weg durch das Tal noch offen ist. Vielleicht hat er aufgegeben und ist in ein Hotel gegangen. Das hofft Julia eigentlich, denn Sam steht unter zu großer Anspannung, und sie hat schreckliche Angst, dass er von der Straße abkommen und einen Unfall verursachen könnte. Sie hört mehr als nur Unruhe in seiner Stimme, wenn er sie anfleht, weiter Ausschau nach Nick zu halten … und sich vor Nick in Acht zu nehmen.

Aber seitdem sind drei Stunden vergangen, und Sam hat nichts mehr von sich hören lassen. Auch von Nick kein Lebenszeichen. Julia ist inzwischen mehr als nur beunruhigt. Sie ist verängstigt.

Barfuß läuft sie über den unter ihrem Gewicht knackenden Dielenboden zur Holztreppe, die ins Erdgeschoss führt.

Diese Stufen.

Die führen ins Dunkle.

Es gibt einen Lichtschalter, aber ehe sie danach suchen kann, steht sie auf dem obersten Absatz und sieht die Menschen von unten die steile Treppe heraufstarren.

Sie sind kaum mehr als Silhouetten, Schwarz gegen Schwarz, aber Julia spürt ihre Blicke, fühlt das Zielgerichtete in der Anwesenheit dieser Menschen. Sechs, sieben Gestalten, zusammengedrängt unten an der Stiege, reglos.

Sie begreift, dass es keine Einbrecher sind, dazu ist das Chalet zu abgelegen, die Nacht zu erbarmungslos. Sie begreift auch, aufgrund eines primitiven Überlebensinstinkts, dass sie das Licht nicht einschalten darf. Im Licht würde sie die Menschen dort unten nicht mehr erkennen – und sie nicht zu sehen, in dem Wissen, dass sie da sind, wäre schlimmer, als sie zu sehen.

Viel schlimmer.

Die Kälte, die Julia umfängt, als sie zum Bett zurückläuft, ist nicht nur physisch. Es ist eine Kälte in ihrer Seele, so elementar, dass sie sich energisch gegen die Kraft wehren muss, mit der diese Kälte von ihr Besitz ergreift. Eine Diele kracht wie ein Gewehrschuss, als sie darauf tritt, und Julia krümmt sich zusammen, springt ins Bett und zieht sich die Decke bis zum Kinn. Mit weit aufgerissenen Augen starrt sie das Bild der Schatten auf ihrer Netzhaut an, zu gelähmt, um zu überlegen, was sie jetzt tun soll.

Von hier aus kann sie die Stiege nicht mehr sehen.

In der Sicherheit ihres Bettes dringt langsam die naheliegende Erklärung zu Julia durch: Sie hat geträumt. Natürlich. Sie umarmt diese Möglichkeit mit gieriger Überzeugung, die Logik ist unwiderlegbar. Sie ist zwar aus dem Bett aufgestanden, aber im Halbschlaf hat ihre Fantasie sie Dinge sehen lassen, die nicht vorhanden sind. Schatten, verformt zu menschlichen Gestalten, eine schlaftrunkene Projektion ihrer Angst.

Du warst wach genug, um dich ganz vernünftig zu fragen, wo Sam steckt. Wach genug, um dich ernsthaft zu fürchten.

Sie verdrängt diesen Gedanken. Dort unten stehen keine Menschen. Sie ist alleine im Chalet. Sie weiß ganz genau, dass sie die Tür verriegelt hat, ehe sie nach oben gegangen ist. Denn sie hat getan, worum Sam sie gebeten hatte, und nach Nick Ausschau gehalten. Zwar nicht am Kaminfeuer, aber vor dem elektrischen Ofen und mit einer Decke um die Schultern, während sie versucht hat, sich mit den Geräuschen des fremden Hauses vertraut zu machen. Es scheint zu leben. Die Kuckucksuhr tickt im Rhythmus ihres Herzschlags. Das schräge Dach stöhnt unter dem Gewicht des Schnees, und ab und zu rutscht eine ganze Ladung nach unten.

Das Schlimmste ist das Heulen des Sturms. Davon geht eine unwiderstehliche Anziehungskraft aus. Immer wieder muss Julia ihr warmes Fleckchen auf dem Sofa verlassen, um an der kalten Haustür durch das kleine Fenster zu lugen. Draußen sind die Fichten im Schneegestöber kaum zu erkennen, ganz zu schweigen von den Bergrücken oder dem Pfad, der am Bach entlang ins Dorf führt. Das Chalet liegt einsam am Ende eines abgeschlossenen Tals. Über ihr gibt es nur den Stausee und dahinter den tückischen Gletscher. Ihre Hand liegt auf der Türklinke, als ob sie mit dem Gedanken spielte, in die Nacht hinauszugehen. Um Viertel vor elf beschließt sie, dass Nick unmöglich dort im Freien umherirren kann, nicht bei diesem Wetter. Sie überprüft die Türschlösser, lauscht auf das Knacken der Heizkörper und löscht das Licht. Sam wird sie sicher mit einem Anruf wecken, hoffentlich kommt er doch noch nach Hause. Julia hätte überhaupt nichts dagegen.

Es kann also niemand im Haus sein. Sie ist alleine mit dem Wind. Das untere Stockwerk ist leer.

Nur … das Haus fühlt sich nicht leer an.

Das ist natürlich Unsinn.

Sie muss nur kurz nachsehen und sich davon überzeugen.

Natürlich braucht sie sich von gar nichts zu überzeugen, und sie braucht sich auch niemandem gegenüber zu beweisen. Aber sie muss immer noch pinkeln.

Mit dem iPhone bewaffnet, steht Julia aus dem Bett auf und geht lautlos auf die Stützmauer der Mansarde zu.

Da ist die Stiege. Wie ein Brunnenschacht im Holzboden.

Sie muss bis an den Rand treten, um hinunterschauen zu können, aber das will sie nicht. Sie will nicht, dass der einzige Weg ins Badezimmer durch dieses dunkle Loch führt. Also bleibt sie stehen. Lauscht auf das Ticken der Kuckucksuhr im Erdgeschoss.

Sie reckt den Hals, aber ihr Blick reicht nicht weiter als bis zur obersten Stufe.

Mach dich nicht lächerlich.

Julia holt tief Luft und macht einen schnellen Schritt nach vorn – das ist die einzige Möglichkeit. Sie sieht es erst, als sie genau an der Kante steht. Als ihr Blick an dem hängen bleibt, was dort unten zu sehen ist, wird die kalte Luft mit Gewalt in ihren Körper gezogen, und die Welt gefriert in einem Schockzustand. Julias Lunge schwillt an wie ein Ballon, durch den Schrei, der in ihr heranwächst, aber die Luft kann nicht mehr entweichen, denn als sie die Hände vor den Mund schlägt, ist nur noch ein unterdrücktes Wimmern zu hören.

Die Menschen stehen noch immer an der Stiege.

Sie sind dichter herangekommen.

Sie haben ihre Köpfe gehoben und starren Julia an. Das Schreckliche ist, dass sie direkt in Julia hineinzustarren scheinen. Die Erste, eine große, magere Frau in schwarzer Kleidung mit fast durchscheinend bleicher Haut, verharrt reglos auf der dritten Stufe. In ihrer Miene spiegelt sich die gefrorene Stille des Wahnsinns. Gleich hinter ihr steht ein dicker Mann in einem schmutzigen weißen Hemd. Die übrigen hinter den beiden sind Schatten.

Wie gelähmt starrt Julia zurück. Es dauert lange, bis sie mit Sicherheit sagen kann, dass die Menschen da unten mehr sind als ein bewegungsloses Dia oder ein lebloses Nachbild, aber dann sieht sie den Zeigefinger an der rechten Hand der Frau zittern und die dunkle, schwarzlila Haut unter ihren großen Augen zucken. Ihr Blick ist scharf und voller Hass. Sie hat das Gesicht einer Psychopathin, die jeden Moment losschreien kann. Wenn das passiert, wird ihr Gesicht zerbrechen und in Scherben zu Boden fallen.

Endlich kann Julia Atem schöpfen. Luft presst sich als eine Reihe kurzer, keuchender Schreie aus ihrer Lunge. Tränen treten ihr in die Augen. Sie spürt die Hitze hinter ihren Wangenknochen und einen knisternden Stich im Gehirn, wie Elektrizität. Mir brennen die Sicherungen durch, denkt sie ganz rational.

Auf Beinen, die sich nicht mehr anfühlen wie Beine, rennt sie zurück zu ihrem Bett. Die Federn ächzen, als sie hineinspringt. Dann sitzt sie da, kerzengerade, die Decke mit verkrampfter...

Erscheint lt. Verlag 1.10.2021
Übersetzer Gabriele Haefs
Verlagsort München
Sprache deutsch
Original-Titel Echo
Themenwelt Literatur Fantasy / Science Fiction Fantasy
Schlagworte alte Sagen und Mythen • Amsterdam • Berge • Bestsellerautor • eBooks • Hex • Horror • Klettern • Niederlande • Schlucht • Schweiz • Schweizer Alpen • Spuk • Tal
ISBN-10 3-641-26043-4 / 3641260434
ISBN-13 978-3-641-26043-9 / 9783641260439
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