Der Choreograph (eBook)

Roman - Sonderausgabe zum 70. Geburtstag - Håkan Nessers erster Roman erstmals auf Deutsch

(Autor)

eBook Download: EPUB
2020
256 Seiten
btb Verlag
978-3-641-26208-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Der Choreograph - Håkan Nesser
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Ein Mann und eine Frau. Er sieht sie eines Tages, als der Winter vorbei ist; etwas zögerlich sucht sie ein Kleid in einem Laden aus. Sie gefällt ihm. Sie erwidert seinen Blick. So werden sie - gelenkt von einer unüberwindlichen Choreographie - zu einem Liebespaar. Fahren schließlich gemeinsam zu einem abgelegenen Ferienhaus. Aber warum verschwindet sie immer wieder? Und warum hält er auf einmal ein Messer in der Hand?

Håkan Nesser, geboren 1950, ist einer der beliebtesten Schriftsteller Schwedens. Für seine Kriminalromane erhielt er zahlreiche Auszeichnungen, sie sind in über zwanzig Sprachen übersetzt und mehrmals erfolgreich verfilmt worden. Håkan Nesser lebt in Stockholm und auf Gotland.

I


Der Regen setzte kurz nach sechs Uhr ein.

Anfangs nur ein paar Tropfen, bleischwer in Erwartung des richtigen Augenblicks, als der Zug den Bahnhof verließ. Anschließend ein kurzer, erlösender Schauer, und dann, als die Geschwindigkeit gestiegen und die Bebauung spärlicher geworden war, ein anhaltender, wenn auch nicht besonders kräftiger Regen.

Es war ein heißer Tag gewesen, die Frau mir gegenüber schloss die Augen und holte tief Luft. Als versuchte sie, die erfrischende Wirkung des Regens aufzunehmen, obwohl die Luft im Abteil nicht eine Spur davon aufwies.

Ich schaute aus dem Fenster. Es war so ein Regen, der stundenlang andauern konnte. Es schien keinen Grund für ihn zu geben; entstanden aus dem Nichts heraus, und von meinem Standpunkt aus konnte es sich genauso gut um ein geographisches wie ein meteorologisches Phänomen handeln. Etwas, in das man einfach hineinfuhr und das man später hinter sich ließ, wie einen Wald oder einen Tunnel. Natürlich war es schwer, durch die Fensterscheibe hindurch eine Beurteilung abzugeben, sie war zwar sauber, verwandelte aber dennoch die vorbeigleitende Dämmerungslandschaft in eine Anzahl facettenreicher Wasserspiegelungen von nur kurzer Dauer.

Ein paar Zeilen einer östlichen Weisheit tauchten in meinen Gedanken auf:

Ich hatte einen Krug, und ich hatte ihn nicht.

Was vor allem von einem erzählt: der Unbeständigkeit der Dinge.

So sind sie, die Bedingungen, unter denen der Mensch lebt.

Plötzlich lächelte die Frau.

Es dauerte nur den Bruchteil einer Sekunde, dieses Lächeln, aber sicher hätte sie etwas über das Wetter oder die Reise gesagt, wenn sie nur gewusst hätte, in welcher Sprache sie mich ansprechen sollte. Dass ich zumindest Deutsch verstand, das konnte sie vermutlich erraten, aber das Buch, das ich gerade beiseite gelegt hatte, zeugte von einer vollkommen fremden Sprache, vielleicht nicht einmal einer europäischen.

Stattdessen schloss sie erneut die Augen und atmete durch leicht geblähte Nasenflügel. Ich betrachtete sie halb unbewusst. Sicher, sie war eine schöne Frau, deren Busen sich jetzt unter dem blassblauen Baumwollkleid hob. Ihre Gesichtszüge waren markant, geradezu kraftvoll; ihr Haar stramm in einem Knoten zusammengebunden in der Art, wie es Frauen in meinem Land nie tun würden. Ihre Haut verriet eine levantinische Herkunft, und ich nahm an, dass sie unverheiratet war, da sie allein und unverhüllt reiste. Doch das war eine Überlegung, die mein Gehirn tätigte, ohne dass ich darum gebeten hatte, etwas, das sich einfach so ergab, da es nun einmal arbeitete. Ehrlich gesagt weiß ich sehr wenig über die Situation der Frauen in diesem Teil der Welt.

Dagegen war ich ziemlich überzeugt davon, dass sie um die fünfundzwanzig Jahre alt sein musste.

Sie öffnete die Augen. Wieder trafen sich unsere Blicke, und allzu schnell versuchte ich meine Aufmerksamkeit auf einen fliehenden Punkt draußen im Regen zu richten. Sie errötete.

»Haben Sie etwas dagegen, dass ich für eine Weile das Fenster öffne?«

Ich fragte auf Deutsch und machte gleichzeitig eine erklärende Geste in Richtung der Zeitschrift, die sie gelesen hatte und die jetzt auf ihren Knien lag.

»Nein, nur zu.«

In dem Moment geht die Beleuchtung im Abteil an.

Die Beleuchtung geht an, und der Zug legt sich in eine Kurve. Ein Pappbecher fällt zu Boden. Der Soldat, der die letzte Stunde unter seinem Soldatenmantel geschlafen hat, wacht auf und kratzt sich am Hals.

All diese Dinge treffen mehr oder weniger gleichzeitig ein, und bevor ich das festgeklemmte Fenster auch nur einen Zentimeter habe öffnen können, ist alles in einen anderen Zustand übergegangen.

Ich weiß auf jeden Fall, wo ich anfangen soll.

Ja, sollte es mir jemals gelingen, über alles einen Bericht zu schreiben, was heute nicht besonders wahrscheinlich erscheint, dann weiß ich zumindest das.

Der Zug und der Regen und die Frau.

Nein, nicht Maria, sondern diese unbekannte Frau.

Und der kurze Moment, in dem sich unsere Blicke begegnen, unmittelbar bevor sie errötet. Diese späten Nachmittagsstunden in dem fremden Land. Der Eisenbahnwaggon, der sich so sehr zur Seite legt, dass ich mich am Gepäcknetz festhalten muss, um nicht umzufallen; aber da ist es ja bereits deutlich später. Ich bin aufgestanden, um das Fenster zu öffnen, das Licht geht plötzlich an, und der Soldat in der Ecke erwacht.

Ja, das ist also der Ausgangspunkt, den ich unter Hunderten von möglichen aussuchen würde. Ich weiß eigentlich nicht, warum, aber in den schlaflosen Stunden der letzten Nächte hat dieses Bild alle anderen Bilder verdrängt.

Also ein Eisenbahnabteil, eine unbekannte Landschaft im Regen und eine unbekannte Frau. Das ist natürlich eine Art Sinnbild, aber für was genau, das weiß ich nicht. Wenn nun die Lebenszeit tatsächlich linear verliefe, wenn ein Geschehnis nur auf das andere folgte, morgen auf heute auf gestern, dann wäre es ja eine einfache Sache, alles zusammenzufassen, was ich mir einmal vorgenommen habe, aber jetzt habe ich nun einmal das Gefühl, der Ablauf des Geschehens wäre gewissermaßen kollabiert und in sich unstrukturiert, nicht nur in meiner Erinnerung, sondern auch in der Wirklichkeit. An und für sich. Als würden Bewusstsein und Welt zwar miteinander korrespondieren, aber auf eine andere Art als erwartet. Ja, wie zwei Formen des Chaos, die sich ineinander spiegeln. Auf jeden Fall habe ich so langsam die Erwartung begraben, ich könnte Ordnung in die Angelegenheit bringen, und die alte Frage nach Ursache und Wirkung erscheint mir an bestimmten Tagen geradezu lächerlich.

Obwohl ich mich natürlich erinnere. Natürlich erinnere ich mich. Einiges ist deutlich wie Steine im Glas. Es tritt in der Flut des Vergangenen an die Oberfläche.

Aber anderes ist trüb.

Muss mit einem Haken angelockt werden. Herausgezogen werden. Um es ans Licht zu ziehen.

Ja, die Zeitpunkte blitzen nur kurz im Strom meiner Erinnerung auf, aber zumindest kann ich noch zurückschauen. Vielleicht ist es die Arbeit an sich, die ich fürchte, die Anstrengung. Oder möglicherweise ist es so, dass ich trotz allem keinerlei Bedeutung im Ganzen zu sehen vermag, nicht einmal im bestmöglichen denkbaren Fall. Ich bin kein Schriftsteller, kein Mensch, der schreibt. Ich kann es nicht prinzipiell leugnen, dass mir der Prozess an sich gefällt, Buchstaben, Worte, einen Sinn zu formen, auf weißem Papier; aber nach vielen Stunden mit Stift und Notizbuch bin ich meistens nicht besonders interessiert an dem Ergebnis. Ich lese es selten, meist überfliege ich nur, was ich geschrieben habe, aber es löst nichts in mir aus. Die Worte huschen an mir vorbei. Es scheint, als wäre etwas dadurch, dass ich es niedergeschrieben habe, zu Ende gegangen. Als hätte die Sprache nur dazu gedient, einen Kreis zu schließen, einen Kreislauf zu vollenden.

Übrigens bin ich kaum mehr die Person, die ich früher gewesen bin. Ich habe mich durch und durch verändert, und viele würden mich sicher als einen kranken Mann ansehen. Wenn ich nun wirklich etwas zu berichten habe, dann sollte man mir gegenüber zumindest unendliche Geduld erweisen.

Aber klar fällt es mir wieder ein. Sicher kann ich mich daran erinnern, was gewesen ist. Ich erinnere mich zum Beispiel deutlich an diesen Soldaten (der mir übrigens sehr jung zu sein schien; viel zu jung, wie ich fand, um bereits in die Lumpen des Wahnsinns gekleidet zu sein), sobald er aufgewacht war und sich den Schlaf aus den Augen gerieben hatte, war sein Interesse an dieser Frau geweckt, die ich vorher verstohlen betrachtet und schließlich auf Deutsch angesprochen hatte.

Er versuchte sich ihr zu nähern, ganz einfach.

Anfangs war er zwar einigermaßen zurückhaltend, aber schnell wurde er dreister, und es gab keinen Zweifel, wonach er trachtete. Zu meiner Verwunderung erkannte ich bald, dass der junge Mann Erfolg mit seinen Bemühungen hatte. Als er aus der Brusttasche seiner Uniformjacke ein Etui herausholte und der Frau eine Zigarette anbot, nahm sie sie nicht nur entgegen, sondern machte sich auch noch die Mühe, den Platz zu wechseln, sodass sie ihm direkt gegenüber sitzen konnte.

Die beiden rauchten, und währenddessen umschloss sie mit ihren Schenkeln die Knie des Jungen, die er eifrig unter ihr weißes Kleid geschoben hatte. Ich registrierte all das ohne Erregung, aber trotz allem war natürlich meine Neugier geweckt worden. Um die Ereignisse durch meine Anwesenheit so wenig wie möglich zu stören, tat ich, als wäre ich in meiner Ecke in Schlaf gefallen. Es bereitete mir dabei keine Schwierigkeiten, dennoch aus den Augenwinkeln den Soldaten und die Frau zu beobachten. Tatsächlich sah es so aus, als hätten sie mich vollkommen vergessen.

Die Frau umklammerte nahezu die Knie des Jungen mit ihrem Schoß und begann mit kleinen, fast unmerklichen Hüftbewegungen. Die freie Hand, jene, die nicht damit beschäftigt war, die Zigarette zu halten, ließ sie langsam über Nacken und Schultern streifen, und gleichzeitig betrieben sie eine Konversation, der zu folgen ich nicht in der Lage war. Doch sie schien äußerst alltäglich zu sein, einzelne Ausdrücke schnappte ich auf wie: Freitag, Fahrplan und hohe Temperatur.

Auch wenn ich für die beiden Agierenden nicht zu existieren schien, so konnte ich mir doch vorstellen, dass ich ein notwendiges Teilchen ihres erotischen Spiels darstellte. Dass ich vielleicht eine Grenze markierte, wie weit die Dinge ihren Lauf nehmen durften, oder dass ich eine Art Garant dafür war, dass die Dinge, die hier vor sich gingen, eigentlich gar nicht stattfanden, da ja ein...

Erscheint lt. Verlag 17.2.2020
Übersetzer Christel Hildebrandt
Verlagsort München
Sprache deutsch
Original-Titel Koreografen
Themenwelt Literatur Krimi / Thriller / Horror
Schlagworte Der Fall Kallmann • Der Verein der Linkshänder • eBooks • Jubiläumsausgabe • Krimi • Kriminalromane • Krimis • Krimi Skandinavien • Skandinavien • Thriller
ISBN-10 3-641-26208-9 / 3641262089
ISBN-13 978-3-641-26208-2 / 9783641262082
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