Fragen zu 'Corpus Delicti' (eBook)

Wann wird der Begriff der »Gesundheitsdiktatur« von der Polemik zur Zustandsbeschreibung?

(Autor)

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2020 | 1. Auflage
240 Seiten
btb (Verlag)
978-3-641-25915-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Fragen zu 'Corpus Delicti' -  Juli Zeh
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Große Fragen, große Themen - Juli Zeh spricht über ihr Schreiben, ihr Denken und unsere Gesellschaft: persönlich, politisch, von höchster Relevanz. »Fragen zu ?Corpus Delicti?« sucht nach Antworten auf existentielle und hochaktuelle Fragen: In welchem Maße ist jede und jeder von uns bereit, Freiheit aufzugeben? Und was macht das mit unserer Demokratie?

Seit ihr Roman »Corpus Delicti« 2009 erschienen ist, erreichen Juli Zeh immer wieder E-Mails von Leserinnen und Lesern mit Fragen zum Text. Zur Entstehungsgeschichte, zur Handlung, zu Figuren und Interpretation. In diesem Buch geht Juli Zeh in Form eines fiktiven Interviews diesen Fragen nach, nicht selten geht sie auch darüber hinaus. Im Zentrum steht die Beschäftigung mit Themen des Romans, die zum Verständnis unserer heutigen Gesellschaft beitragen. Was für ein Menschenbild pflegen wir, wohin bewegt sich unsere Gesellschaft, wie wollen wir zusammenleben und welche Werte sind bedeutsam für uns? »Fragen zu Corpus Delicti« ist nicht nur eine profunde Auseinandersetzung der Autorin mit ihrem bislang politischsten Roman, sondern auch eine Betrachtung der Bedingungen und Mentalitäten, die unser Leben heute bestimmen.

Juli Zeh, 1974 in Bonn geboren, Jurastudium in Passau und Leipzig, Promotion im Europa- und Völkerrecht. Längere Aufenthalte in New York und Krakau. Schon ihr Debütroman »Adler und Engel« (2001) wurde zu einem Welterfolg, inzwischen sind ihre Romane in 35 Sprachen übersetzt. Juli Zeh wurde für ihr Werk vielfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Thomas-Mann-Preis (2013) und dem Heinrich-Böll-Preis (2019). Im Jahr 2018 erhielt sie das Bundesverdienstkreuz und wurde zur Richterin am Verfassungsgericht des Landes Brandenburg gewählt. Ihr Roman »Über Menschen« war das meistverkaufte belletristische Hardcover des Jahres 2021. Zuletzt erschien bei Luchterhand der zusammen mit Simon Urban verfasste Bestseller »Zwischen Welten«.

Dann lass uns mal anfangen, über den Inhalt zu sprechen. Du hast erwähnt, dass die Ruhrtriennale ein Motto hatte, nämlich »Mittelalter«, und dass dein Text dieses Motto irgendwie bedienen sollte. War das Inspiration oder Hemmschuh? Welche Rolle spielt das Mittelalter für den Text?

Anfangs ging es mir vor allem darum, die Vorgaben meiner Auftraggeber zu erfüllen. Ich wollte keinen historischen Text schreiben und fühlte mich beim Thema Mittelalter auch nicht besonders kompetent. Meine Geschichte spielt deshalb nicht in der Vergangenheit, sondern vielmehr in der Zukunft, nämlich irgendwann »in der Mitte des 21. Jahrhunderts«, wie es am Anfang heißt. Einmal sagt Mia zu Kramer: »Das Mittelalter ist keine Epoche. Mittelalter ist der Name der menschlichen Natur.« Mit diesem Satz wollte ich klarstellen, dass Corpus Delicti sich weder mit der Vergangenheit noch mit der Zukunft beschäftigt, sondern auf Veränderungen in unserer heutigen Gesellschaft hinweisen will.

Als ich dann anfing, mich mit Motiven aus dem Mittelalter zu beschäftigen, vor allem mit der Figur der Hexe und dem Phänomen der Inquisition, war ich plötzlich regelrecht elektrisiert. Das Motto meiner Auftraggeber entpuppte sich als geniale Inspiration. Auf einmal fand ich es wunderbar, eine Art moderner Hexenjagd zu schreiben. Es passte perfekt.

Erklär mal, was du an Hexen so faszinierend findest. Und was du mit moderner Hexenjagd meinst.

Die Hexe ist im Grunde eine Ausgestoßene. Sie wird aufgrund ihres Aussehens oder ihrer Lebensform oder einfach nur, weil sie Feinde hat, aus der Gemeinschaft ausgesondert. Man spricht ihr sogar die menschlichen Eigenschaften ab, was sie in gewissem Sinne vogelfrei macht. Man darf die Hexe verleumden, man darf sie anstarren, verfolgen, am Ende vielleicht sogar foltern oder töten. Sie ist wunderschön oder sehr hässlich, sie übt Faszination aus, und man hat Angst vor ihr. In Märchen und Geschichten leben Hexen oft außerhalb der menschlichen Gemeinschaft, zum Beispiel in einem kleinen Haus im Wald, wo sie ihre Tränke brauen und ihre Zauberkraft schulen. Natürlich waren die historischen Hexen in Wahrheit ganz normale Frauen. Im Rahmen der Hexenverfolgung mussten viele dieser Frauen völlig grundlos grausame Schicksale erleiden, weil die Inquisition sie zu Feinden der Gesellschaft erklärte.

Heutzutage ist die Figur der Hexe durch den »Staatsfeind«, den »Gefährder« oder »Terroristen« ersetzt. Es gibt viele Filme und Geschichten über Menschen – inzwischen meistens Männer –, die unschuldig ins Visier der Geheimdienste geraten. Ihnen werden die Bürgerrechte abgesprochen, man jagt sie als Staatsfeinde, sie müssen sich mit archaischen Methoden wehren. Im Grunde greifen die Regisseure und Autoren solcher Plots immer wieder das Motiv der Hexenverfolgung auf.

Auch Mia Holl wird in Corpus Delicti zur Staatsfeindin stilisiert. Nicht nur, weil sie sich einige Regelverstöße zuschulden kommen lässt, sondern vor allem, weil sie sich der Trauer um ihren toten Bruder hingibt. In einer Gesellschaft, die beschlossen hat, Glück zur Bürgerpflicht zu machen, werden negative Emotionen zur Bedrohung. Sie sind »gesundheitsschädlich«, und weil Gesundheit in der Corpus-Delicti-Welt nicht nur ein individueller, sondern auch ein gesellschaftlicher und politischer Wert ist, greift alles Gesundheitsschädliche den Staat in seinem innersten Wesen an.

Mia gerät ins Visier von Heinrich Kramer, der sie als Vertreter des Systems verfolgt, gleichzeitig auch benutzt, indem er eine Staatsfeindin aus ihr macht. Jedes System braucht Feindbilder, gegen die es sich abgrenzen und gemeinschaftlich verteidigen kann. Das schafft Identität. Insofern sind jede Hexe und jeder Staatsfeind immer auch eine Selbstbestätigung der Mehrheitsgesellschaft und der herrschenden Klasse. Man beweist die eigene Machtvollkommenheit, indem man sich das Recht nimmt, einzelne Individuen aus der Gemeinschaft zu verstoßen und für vogelfrei zu erklären. Gleichzeitig festigt man auf diese Weise die Bedeutung der gemeinsamen Werte. Erst durch echte oder vermeintliche Angriffe, durch die Notwendigkeit, sich zu verteidigen, spürt eine Gemeinschaft ihr Fundament.

Insofern ist die Hexenverfolgung tatsächlich keine »Epoche«, also nicht nur ein schrecklicher Vorgang aus alten Zeiten, um den sich viele Geschichten ranken. Sondern ein allgemeingültiges, zeitenübergreifendes Prinzip von Gesellschaftsbildung und Machterhalt. So spannend, dass es immer wieder neu erzählt wird.

Gibt es für die beiden Hauptfiguren Mia Holl und Heinrich Kramer direkte Vorbilder?

Ja, die gibt es tatsächlich, wobei ich vielleicht nicht von Vorbildern sprechen würde, sondern eher von Paten. Ich habe nicht versucht, den Charakter oder die Lebensgeschichte von bestimmten Personen aufzugreifen, aber ich verweise durch die Namen der Hauptfiguren auf zwei historische Personen, die etwas mit Corpus Delicti zu tun haben.

Maria Holl wurde in der Mitte des 16. Jahrhunderts bei Ulm geboren. Gemeinsam mit ihrem Mann eröffnete sie eine Gastwirtschaft in Nördlingen. Weil die Wirtschaft gut lief, hatte Frau Holl als Zugezogene in der neuen Stadt vermutlich einige Neider. Sie wurde wegen Hexerei angezeigt und am 2. November 1593 inhaftiert. Sie überstand 62 Folterungen, ließ sich zu keinem falschen Geständnis nötigen und kam am 11. Oktober 1594 durch das energische Eingreifen der Reichsstadt Ulm wieder auf freien Fuß. Am ehemaligen Gasthof »Goldene Krone« des Ehepaars Holl verweist heute ein Gedenkschild darauf, dass die Standhaftigkeit von Maria Holl unter der Folter zum Abklingen des Hexenwahns in Nördlingen beigetragen hat.

Der historische Heinrich Kramer wurde mehr als hundert Jahre vor Maria Holl, nämlich circa 1430, im Elsass geboren. Kramer stammte aus ärmlichen Verhältnissen, trat in den Orden der Dominikaner ein, studierte Latein und Philosophie und wurde schließlich Doktor der Theologie. Er ließ sich zum Inquisitor ernennen und veranlasste erste Hexenprozesse, bei denen er allerdings auf Widerstand des örtlichen Bischofs stieß, der von der Rechtmäßigkeit solcher Verfahren nicht überzeugt war. Daraufhin verfasste Kramer im Jahr 1486 den 700-seitigen »Hexenhammer«, eine Art Leitfaden für die Hexenverfolgung, der durch die aufkommende Buchdruckkunst große Verbreitung fand und verheerende Wirkung entfaltete. Das ziemlich konfuse und frauenfeindliche Machwerk definiert im ersten Teil die Verbrechen von Hexen, sammelt im zweiten Teil viele Beispiele von Hexentaten, die allerdings zu großen Teilen unter schrecklicher Folter »gestanden« wurden, und erklärt im dritten Teil, wie Hexenverfolgungen rechtspraktisch umzusetzen sind. Anhand von Beispielen werden detaillierte Regeln für die Durchführung der Prozesse aufgestellt. In der Hochphase der Hexenverfolgung rühmte sich Kramer, mindestens 200 Hexen zur Strecke gebracht zu haben. Er galt als besessener Hexenhasser und war durch sein Standardwerk eine Zentralfigur der Inquisition.

Es gibt ein Kapitel mit dem Titel »Zaunreiterin«. Was muss man sich darunter vorstellen?

In diesem Kapitel wird Mia von der idealen Geliebten – zu der wir später noch kommen werden – gefragt, ob sie wisse, was eine Hexe sei. Mia zitiert die kindliche Vorstellung von einer alten Frau mit Buckel, die auf einem Besen reitet. Da erklärt ihr die ideale Geliebte, dass das Wort »Hexe« vom Begriff »Hagazussa« stammt. Ein Heckengeist. Ein Wesen, das auf Zäunen lebt. Der Besen sei ursprünglich eine gegabelte Zaunstange gewesen. Mia fragt, was das mit ihr zu tun habe. Daraufhin fasst die ideale Geliebte einen der wichtigsten Charakterzüge von Mia Holl zusammen: Sie sitzt zwischen den Stühlen. Sie kann sich nicht entscheiden. Ein Zaun oder eine Hecke sind Grenzen. Die Hexe lebt zwischen Zivilisation und Wildnis, zwischen Diesseits und Jenseits – sie gehört nirgendwo richtig dazu. Aus Sicht der idealen Geliebten ist auch Mia eine solche Grenzgängerin. Sie wandelt zwischen Körper und Geist, zwischen Ja und Nein, zwischen Glaube und Atheismus. Sie weiß nicht, zu welcher Seite sie gehört. Ihr Reich ist das Dazwischen. Damit wird sie zu einer Außenseiterin und zu einer gefährdeten Figur.

Hier wird ein wichtiges Hintergrundthema von Corpus Delicti angerissen. Es geht um eine Frage, die in allen meinen Texten eine Rolle spielt: Wie soll sich der moderne Mensch, der sich weitestgehend von Religion und anderen Wahrheitssystemen verabschiedet hat, überhaupt noch für etwas entscheiden? Kann man aus sich selbst heraus, aus der Individualität, überhaupt Gültigkeiten entwickeln? Oder sind wir als säkularisierte Einzelwesen dazu verurteilt, als Zaunreiter zu leben? Nicht zu wissen, wohin wir gehören, Unsicherheit zu empfinden und auf diese Weise den gesellschaftlichen Frieden immer weiter zu gefährden?

Diese Fragen kann ich zwar nicht beantworten, aber ich stelle sie immer wieder. Deshalb ist die Hexe in der Funktion als Zaunreiterin eine wichtige Figur für mich. Sie steht nicht nur für Mia Holl als potenzielle Staatsfeindin und Opfer einer Hexenjagd. Sie steht auch für die geistige Situation des postreligiösen Menschen im 21. Jahrhundert.

Das heißt, die Hexe ist für dich eine hochaktuelle Figur. Gilt das auch für den Inquisitor beziehungsweise für die Inquisition?

Ich habe ja schon erwähnt, dass die Figur der Hexe und das Prinzip ihrer Verfolgung eine Entsprechung im modernen Staatsfeind finden. Die mittelalterliche Inquisition ist nicht nur Ausdruck eines...

Erscheint lt. Verlag 11.5.2020
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Corpus Delicti • dystopie fantasy • eBooks • fitkives Interview • Fragen LeserInnen • Fragen SchülerInnen • Gesellschaftsfragen • politischer Roman • Politthriller • Thriller • Zusammenleben
ISBN-10 3-641-25915-0 / 3641259150
ISBN-13 978-3-641-25915-0 / 9783641259150
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