Morbus (eBook)
448 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-491011-6 (ISBN)
Mark Roderick ist ein Pseudonym. Seine extrem spannenden Thriller entstehen in den frühen Morgenstunden, wenn nichts und niemand ihn vom Schreiben ablenken kann. Mark Roderick lebt mit seiner Familie in der Nähe von Stuttgart.
Mark Roderick ist ein Pseudonym. Seine extrem spannenden Thriller entstehen in den frühen Morgenstunden, wenn nichts und niemand ihn vom Schreiben ablenken kann. Mark Roderick lebt mit seiner Familie in der Nähe von Stuttgart.
Handfester Thriller voll Spannung und Nervenkitzel.
Prolog
Während sein Blick langsam über den Bahnsteig von Kaiserslautern wanderte, beschlich Ottfried Gollinger ein ungutes Gefühl. Besser gesagt, eine Vorahnung – das sichere Gespür dafür, dass etwas Schreckliches passieren würde.
Ottfried war kein Hellseher. Er hatte keine Visionen, keine metaphysische Begabung, keine unerklärliche, spirituelle Wahrnehmungskraft oder etwas in der Art. Simple Statistik nährte seine düsteren Gedanken.
Es war der 26. Dezember 1958. Der zweite Weihnachtsfeiertag. Wer unglücklich war oder zu Depressionen neigte, war über die Feiertage besonders anfällig, das galt doppelt für Alleinstehende. Bei geschiedenen, verwitweten oder anderweitig verlassenen Menschen schien sich die Einsamkeit durch die weihnachtliche Feststimmung nicht zu lindern, sondern nur noch weiter zu verstärken. Wer mit dem Gedanken spielte, seinem trostlosen Leben ein Ende zu bereiten, gab seiner Neigung in dieser Zeit am häufigsten nach. Das hatte Ottfried Gollinger in einer Illustrierten gelesen.
Außerdem war Vollmond – ein nicht zu unterschätzender Faktor. Er wirkte wie ein Gefühlsverstärker, auch wenn wissenschaftlich noch nicht genau erforscht war, wie er das tat. Manche Menschen wurden bei Vollmond innerlich unruhig, manche schliefen schlecht, manche bekamen bei Vollmond reale körperliche Beschwerden.
Und manche fassten dabei den unumstößlichen Vorsatz, Selbstmord zu begehen.
Noch dazu das trübe Wetter! Bereits seit Wochen war der Himmel von einer dichten, grauen Wolkenschicht bedeckt. Meistens regnete es, einmal hatte es auch schon geschneit. Nur die Sonne wollte nicht mehr scheinen. Wen die Einsamkeit und der Vollmond nicht schafften, dem gab das verfluchte deutsche Winterwetter den Rest.
Ottfried Gollinger stellte den Kragen seiner Schaffneruniform nach oben und rückte seinen Schal zurecht. Er hätte jetzt einen heißen Kaffee vertragen können, obwohl das Thermometer heute sogar Plusgrade anzeigte. Aber wenn man wie er die meiste Zeit des Tages an der frischen Luft war, kroch einem die Kälte irgendwann in alle Glieder.
Ottfried war auch alleinstehend. Und einsam, zumindest manchmal. Vielleicht konnte er sich deshalb viel besser in die Gefühlswelt anderer Menschen hineinversetzen als seine Kollegen. Die belächelten ihn oft wegen seiner Vorahnungen. Nie nahmen sie ihn ernst, wahrscheinlich weil bisher noch keine seiner düsteren Prophezeiungen eingetreten war.
Aber heute würde es geschehen, das spürte er in jeder Faser seines Körpers. Alle Anzeichen deuteten auf ein Unglück hin!
Deshalb war er an diesem Tag besonders aufmerksam.
Erneut schweifte sein Blick über den Bahnhof. Wie ein Radar. Überall standen Menschen herum, obwohl die morgendliche Stoßzeit schon längst vorbei war. Die meisten warteten wohl auf den Regionalexpress nach Homburg oder auf die Bahn von Saarbrücken nach Mannheim, die heute an Gleis 3 halten würde.
Paare und Familien mit Kindern interessierten Ottfried nicht. Die mochten zwar auch ihre Probleme haben, aber wenn einer von denen die Absicht gehabt hätte, sich etwas anzutun, wäre er bestimmt nicht in Begleitung gekommen.
Nein, Ottfried Gollinger achtete nur auf Personen, die allein am Bahnsteig standen.
Ein Mann, etwa sechzig Jahre alt, mit Lederjacke und Hut, fiel ihm ins Auge. Er hatte keinen Koffer dabei – verdächtig. Die meisten Fahrgäste reisten mit Gepäck. Aber vielleicht war er auch nur hier, um jemanden abzuholen.
Ottfrieds Blick blieb auf der großen Bahnhofsuhr haften. Noch zehn Minuten, bis der Regionalexpress einfahren würde. Zehn Minuten Schonfrist, die ihm blieben, um den Selbstmordkandidaten zu identifizieren – falls er vorhatte, sich vor diesen Zug zu werfen.
War es doch der Kerl ohne Koffer? Er wirkte so teilnahmslos, geradezu lethargisch. Wie jemand, der mit dem Leben abgeschlossen hatte. Je mehr Ottfried darüber nachdachte, desto sicherer wurde er, dass dieser Mann nur aus einem einzigen Grund hier war: Er bereitete sich auf sein Ende vor.
Ein paar Minuten lang beobachtete er ihn weiter, aus der Distanz, um ihn heimlich zu studieren. Etwas Besseres hatte er ohnehin nicht zu tun. Einmal fragte ihn ein älteres Ehepaar nach der Bahnhofstoilette, und Ottfried beschrieb ihnen den Weg. Danach widmete er sich wieder seinem potentiellen Selbstmörder.
Wie kann ich ihn von dem tödlichen Sprung abhalten?
Darüber hatte er sich schon oft seine Gedanken gemacht. Er würde sich eine Zigarette in den Mund stecken und ihn um Feuer bitten. Normalerweise rauchte Ottfried Gollinger nicht, wenn Züge einfuhren, weil er dann damit beschäftigt war, den Fahrgästen beim Ein- und Aussteigen zu helfen oder ihnen Auskünfte zu erteilen. Dabei störte eine Zigarette nur.
Jetzt war sie ein willkommenes Mittel, um ein unverfängliches Gespräch zu beginnen und eine große Dummheit zu verhindern.
Noch drei Minuten bis zum Eintreffen des Regionalexpresses.
Zeit, sich in Position zu begeben.
Ottfried Gollinger nahm seinen Mut zusammen und kam näher. Er hatte sich schon oft ausgemalt, wie es wäre, als Schutzengel aufzutreten, aber er hatte nicht damit gerechnet, dass er dabei so aufgeregt sein würde. Ängste und Bedenken schossen plötzlich wie lähmende Giftpfeile durch seinen Kopf. Würde er die richtigen Worte finden? Würde er es tatsächlich schaffen, diese verlorene Seele zu retten?
Oder würde er am Ende versagen?
Mehr denn je empfand er sein feines Gespür für die Selbstmordabsichten anderer als schwere Bürde, aber er wusste auch, dass er sich dieser Herausforderung stellen musste. Sonst würde er morgen nicht mehr in den Spiegel schauen können.
Er nahm die HB-Schachtel aus seiner Jackentasche, zog mit zwei Fingern eine Zigarette heraus und steckte sie sich in den Mund. Gerade als er seine Mission starten wollte, schrillte ein Pfiff über den Bahnsteig.
Der Mann neben ihm schreckte auf und sah sich um. Schließlich erkannte er einen jüngeren Mann, der gerade aus dem Bahnhofsgebäude trat und zu ihm herüberwinkte. Mit einem freudigen Lächeln eilten die beiden aufeinander zu und fielen sich in die Arme – offenbar Vater und Sohn.
Ottfried war erleichtert über diese unerwartete Wendung. Gleichwohl hielt das ungute Gefühl in der Magengegend unverändert an.
Die Gefahr ist noch nicht vorüber!
Oder bildete er sich doch nur wieder etwas ein? Heute hatte er seinen Kollegen wohlweislich nichts von seinem schrecklichen Verdacht erzählt, aus Angst, sich einmal mehr zum Gespött zu machen. Aber vielleicht hätte er sie doch lieber warnen sollen. Hier gab es viel zu viele Menschen, um sie alle allein im Auge behalten zu können.
Noch zwei Minuten bis zur Einfahrt des Zugs. Wieder wanderte Ottfrieds Blick über die Bahnsteige, diesmal hektischer, weil er spürte, wie ihm die Zeit davonlief. Er fühlte sich gehetzt. Was, wenn er sein Opfer nicht rechtzeitig identifizieren konnte? Dann würde er Zeuge eines grauenhaften Vorfalls werden!
Eine Frau stach ihm ins Auge, etwa vierzig Jahre alt. Sie trug ein zerschlissenes, blaues Kleid und darüber einen ebenso zerschlissenen, grauen Filzmantel. Beides wirkte viel zu groß für eine so zierliche Person und hing schlaff an ihr herab, als habe sie stark abgenommen. Oder als seien die Klamotten eigentlich gar nicht für sie bestimmt.
Wahrscheinlich eine Landstreicherin.
Trotz der Entfernung konnte Ottfried Gollinger deutlich ihr Gesicht erkennen. Sie wirkte scheu, beinahe ängstlich, ihre Augen zuckten unruhig hin und her, und ihre Miene schien den Sinn der Welt in Frage zu stellen.
Genau so stellte er sich den Gesichtsausdruck eines Selbstmörders vor!
Mit einem schrillen Pfiff rollte der einfahrende Zug heran. Der Blick der Landstreicherin wanderte unentwegt zwischen der Lokomotive und den Gleisen hin und her. Mit zaghaften Schritten näherte sie sich der Bahnsteigkante.
Zwischen ihr und dem Abgrund befanden sich jetzt nur noch zwei Personen: ein Geschäftsmann mit einer Aktentasche in der Hand und eine junge Frau mit einer schwarzen Kaschmirjacke und einer schwarzen Wollmütze auf dem Kopf. Unter dem Arm trug sie eine kleine Damenlederhandtasche, ebenfalls schwarz, genau wie ihr Rock. Sie sah aus, als trüge sie Trauer.
Die Landstreicherin rückte einen weiteren kleinen Schritt auf. Sie schien jetzt nur noch Augen für den einfahrenden Triebwagen zu haben. Ottfried Gollinger wusste: Wenn er jetzt nicht handelte, wäre es zu spät.
Zielsicher marschierte er auf die Landstreicherin zu. Die Zigarette befand sich noch in seinem Mundwinkel. Er fragte sich, ob die Frau überhaupt ein Feuerzeug besaß? Egal! Wenn nicht, musste er improvisieren. Hauptsache, er konnte sie von ihrem Vorhaben abhalten.
Pures Adrenalin jagte durch seine Adern, während er seinen Schritt beschleunigte. Der Zug war jetzt höchstens noch hundert Meter entfernt – ein zischender Vorbote aus dem Jenseits.
Beherzt eilte Ottfried weiter. Er lief nicht mehr, nein, er rannte. Nur noch wenige Schritte trennten ihn von seinem Ziel, als die Landstreicherin plötzlich stehen blieb, dicht hinter den beiden anderen Passanten.
Dem letzten Schutzwall vor dem Sturz in die Hölle.
Sie zögerte.
Wartete.
Ottfried Gollinger sprach sie an.
»Sie haben nicht zufällig Feuer für mich? Ich muss meine Streichhölzer verlegt haben.«
Die Landstreicherin sah ihn verwirrt an. Damit hatte sie offenbar nicht gerechnet.
Sehr gut! Zumindest habe ich sie...
Erscheint lt. Verlag | 1.3.2020 |
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Verlagsort | Frankfurt am Main |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Schlagworte | Arno Strobel • harte Spannung • Pfalz • Post mortem • Psychopath • Sebastian Fitzek • Thriller • Weingut |
ISBN-10 | 3-10-491011-1 / 3104910111 |
ISBN-13 | 978-3-10-491011-6 / 9783104910116 |
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