Schöne Ferien! Geschichten für die glücklichste Zeit des Jahres (eBook)
240 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-390007-1 (ISBN)
Juli Zeh
Dann fahr doch!
Theo geht in die große Stadt. Einsam streift er durchs Häusergebirge von Lódz, er fühlt den kalten Atem der Geschichte im Nacken und wärmt sich am glühenden Kern der Nacht
Anhand der Beschreibung würde Theo seine Stadt schwerlich erkennen. Alter: kaum zweihundert Jahre. Größe: achthunderttausend Einwohner. Besondere Kennzeichen: unbekannt. Neben ihrem bürgerlichen Namen, gesprochen »Wuuhdsch«, auf Deutsch: das Boot, trägt sie mehr Decknamen als New York City. Wie eine dunkle Zauberin bringt sie jeden Besucher dazu, ob Verehrer oder Feind, ihr einen weiteren zu erfinden, Manchester des Ostens, Wald der dreihundert Schlote, Regenstadt oder Russlands Webstuhl. Für den Nobelpreisträger Wladislaw Reymont war sie das Gelobte Land, für die Nazis Litzmannstadt. Holly-Lódz!, sagen jene, die Filme von Polanski und Kieslowski lieben. Stadt ohne Grenzen, Stadt des Bösen, Stadt ohne Geschichte. Theo ist gerade erst in den Zug gestiegen und glaubt schon zu wissen, wie er sie nennen wird: die Oftgetaufte.
Was sich hinter den ungezählten Namen verbirgt, weiß in Deutschland kaum noch einer. Als hätte sich die Zauberin aus den Gedächtnissen gelöscht – niemand kann sich erinnern.
Außer daran, dass Theo nach Lodsch fährt. Seit dreißig Jahren beantwortet er die lustige Frage: Heute schon in Lodsch gewesen? Wen interessiert schon, dass das Lied eigentlich Itzek, komm mit nach Lódz heißt und dumme Bauern besingt, die Dorf und Torf verlassen, um in einer explodierenden Industriestadt ihr Glück zu suchen. Trotz aller Gegendarstellungen findet Theo seinen Namen an unerfreulichen Stellen, auf den Covers von Schlagersammlungen und in deutschen Grammatikbüchern:
»Theo steht mit einem Fernglas am Fenster. Die Temperatur ist um drei Grad gesunken.
Er fühlt sein Herz schlagen. Er hört sich selber schreien.
Theo fährt nicht nach Lodsch. Er fährt nicht dorthin. Fahr doch, Theo!«
Fahr doch, fahr doch. Theo schaut durch die Scheiben des Warschau-Express über eine flache Landschaft, in der das letzte Hochwasser mächtige Holzbrocken zurückgelassen hat. Wie dickhäutige Tiere hocken sie zwischen Eiskrusten auf den Feldern und wissen nicht weiter. Die grünstichige Zugbeleuchtung schaltet sich ein und aus, als könnte der Express nicht entscheiden, ob es dunkel ist oder hell. Es ist beides, ein richtiger Polarwintertag. Es war die Idee seiner genervten Freundin: Dann fahr doch hin. Mitkommen wollte sie nicht. Theo hört sein Herz schlagen. Die Temperatur ist um drei Grad gesunken.
»Wer ist dieser Theo?«, fragt mein Freund F., der mir beim Schreiben dauernd über die Schulter schaut. »Eine fiktive Figur«, sage ich genervt, »damit müsstest gerade du dich auskennen.« – »Und warum fährt er nach Lódz und nicht ich?« Ich bin schlecht gelaunt, weil es nicht einfach ist, auf mehreren Textebenen gleichzeitig zu operieren. Um F. loszuwerden, schicke ich ihn auf Recherche ins Internet. Historische Daten sammeln, Polnischvokabeln übersetzen.
Der Express verlangsamt das Tempo, spuckt Theo auf einen Bahnsteig und ist fast im gleichen Augenblick wieder verschwunden. Vier Schienenstränge unter freiem Himmel. Keine Menschenseele. Kutno heißt das gottverlassene Nest.
F. ist blitzschnell zurück: In den zwanziger Jahren des 19. Jahrhunderts, als Lódz seine knapp achthundert Einwohner noch in Holzhütten aufbewahrt, fällen die russischen Behörden im geteilten Wiener-Kongress-Polen die Entscheidung, eine Industriemetropole zu gründen. Linien werden mit Stöcken in den Sand gezogen, große Landstücke an in- und ausländische Einwanderer verschenkt. Unter einer Bedingung: Jeder baut eine Fabrik. Fünfzig Jahre später leben dreihunderttausend Menschen in der Stadt, zu je einem Drittel Polen, Juden und Deutsche. Vor meinem geistigen Auge entfalten sich Fabriken und Wohnhäuser wie Umzugskartons. Seitdem ist Lódz die zweitgrößte Stadt Polens. Aber, lacht F., deshalb noch lang nicht ans überregionale Verkehrsnetz angeschlossen. »Theo, pack dein Glück beim Schopf / Und hau alles auf den Kopf / So lang hast du auf Lódz gespart: / Für eine Stunde Taxifahrt!« F. klatscht und stampft, ich scheuche ihn zurück an die Arbeit.
»Waren Sie schon mal in Freitag?«, fragt der Taxifahrer dumpf. »Da liegt das Zentrum von Polen.« Schwer lastet Dunkelheit auf leeren Feldern. Auf Theo lastet das Gefühl, in den Wagen eines Wahnsinnigen gestiegen zu sein. Er sucht schon nach dem Türgriff, als ein Ortsschild vorbeiflitzt: Piatek-Freitag. »Nur in geografischer Hinsicht«, sagt der Fahrer und beginnt, vom Untergang der Metropole Lódz zu erzählen. Nach der Wende ist der Russlandhandel zusammengebrochen. Wenigstens gibt es ein neues Kino, »echt 21. Jahrhundert«, und Theos Hotel: »Nagelneu.«
Der Fahrer will das Zimmer besichtigen und befühlt die türkisfarbenen Duschvorhänge an den Fenstern. Draußen: »Lódz-Manhattan!« Neue und alte Plattenbauten und eine zehnspurige Hauptverkehrsstraße. Am Hochhaus gegenüber hängt ein tennisplatzgroßes Werbeplakat, das eine grüne Wiese zeigt. »Schöne Aussicht«, sagt der Fahrer und drückt Theo die Hand.
F. steckt den Kopf durch den Türspalt und sagt: »Das Gute an Städten mit nur zwei Jahrhunderten Geschichte ist, dass sie keine historischen Marktplätze haben, keine gotischen Kathedralen und mittelalterlichen Gassen. Davon gibt’s in Polen mehr als genug.« Lódz hat kein Herz, dafür aber eine Wirbelsäule. Schnurgerade fräst sich die Prachtallee Piotrkowska über fünf Kilometer durch die Stadt, auf dem Reißbrett gezogen, als Zeitstrahl einer selbst erfundenen Geschichte. Die Gebäude bewahren eine nicht vorhandene Vergangenheit: außen Neogotik, Neoromantik, Neobarock, innen Rokoko, Chinoiserien, mauretanische Schnörkel und Louis-seize. »In welchem Stil?«, brüllt der große Poznanski seine Palastarchitekten an. »Ich kann mir alle Stile leisten!« Wenn unter den Fenstern eine Straßenbahn vorbeirattert, klirren im 500 Quadratmeter großen Saal leise die Glastropfen der Kronleuchter, als ob sie noch immer unter dem Widerhall dieser Stimme erzitterten.
F. steht still und lauscht. Er spürt den Echos nach, dem dreisprachigen Geplauder, den ächzenden Schritten stattlicher Männer, die keine Webmeister mehr sind, sondern Baumwollfürsten und Barchentbarone. Niemand von ihnen ist von Adel, aber sie haben lang genug untereinander geheiratet, um wie am Königshof miteinander verwandt zu sein, und man nennt sie, halb im Spaß, halb schon im Ernst, die Fabrikantenaristokratie.
F. riecht Zigarren und hört das Klatschen von Spielkarten auf poliertem Holz, er sieht in teure Stoffe gehüllte Damen rund ums Klavier beim Tee und lässt barfüßige Jugendstiltöchter in transparenten Gewändern und mit langem, offenem Haar durch die Zimmerfluchten wehen. In den dunklen Ecken, hinter offen stehenden Flügeltüren, nistet und brütet jedoch der Untergang, die böse Fratze noch zur Wand gekehrt. Bald wird er sich umwenden, hervorkriechen und hässlich in die edlen Zimmer grinsen. Der erste Stoß wird das vielköpfige, polnisch-jüdisch-deutsche Wesen schwer verwunden, ihm gerade genug Leben lassen für zwanzigjährige Agonie. Der zweite Stoß wird es zerreißen und töten.F. hat glasige Augen.
»Sehr beeindruckend«, sage ich. »Trotzdem fährt Theo nach Lódz. Und nicht du.«
Weil die Straßenbeleuchtung ausgefallen ist, gerät Theo jedes Mal ins Taumeln wie eine lichtsüchtige Motte, wenn er einen der beleuchteten Torbögen passiert. Hinter der Bergkette dunkler Gebäude, deren Kämme er nur mit zurückgelegtem Kopf betrachten kann, reihen sich Hinterhöfe wie die Mägen einer Kuh. Theo traut sich nicht hinein. So hoch Menschenarme reichen, sind die Mauern mit Graffiti bedeckt, erst schwarze und rote Sprühfarbe in erster Schicht, dann Namen, Daten, Gedichtanfänge mit dickem Edding gemalt, und wenn Theo sich mit dem Gesicht zur Wand stellt wie vor einem Erschießungskommando, kann er die Feinstruktur aus Kugelschreiber- und Bleistiftschrift lesen. Er lernt, wen oder was er alles ficken soll und was Angehörigen verfeindeter Fußballclubs passiert, wenn sie aufeinandertreffen. Laut ruft Theo in einen Eingang hinein und ist sicher, das Echo zwischen den eng sitzenden Wänden in ein paar Stunden noch hören zu können.
Gerade erst angekommen, glaubt er, der letzte Mensch in der Stadt zu sein. Der Lichtschein laufender Fernseher, übriggebliebener Weihnachtsdekorationen oder schmutziger Neonröhren hilft nicht weiter. Statt Türen verschließen Metalltore die Eingänge, ohne Griffe oder Klinken, und manche der vergitterten Fenster erreichen die Größe von Fußballtoren. Als Theo dann doch wagt, ein Haus zu betreten, weil das Schild am Eingang Live-Music verspricht, blickt er in einen halbdunklen, verrauchten Raum, aus dem das Geräusch rollender Würfel zu hören ist. Musik und Tanz und Eleganz spielen sich nur im Innern vorbeirasender Autos ab.
Theo ist geschrumpft oder die Welt gewachsen, sie schlackert an ihm wie ein zu weit gewordenes Kleidungsstück. Schwarzbackige Löwen sehen von hoch oben auf ihn herunter, während die Stadt mit erstarrtem Gesicht in den Nachthimmel schaut. Irgendetwas ist schwer zu ertragen. Vielleicht Masse und Prunk der Fabriken, die wie Kastelle gestaltet sind, mit plumpen Türmen an allen vier Ecken und endlosen Reihen von Zinnen, die sich am Himmel festzubeißen scheinen. Es fällt schwer, sie nicht für schottische Burgen zu halten. Vielleicht sind Schlösser nicht zu ertragen, wenn sie nicht für Menschen, sondern für mächtige Maschinen errichtet...
Erscheint lt. Verlag | 25.3.2020 |
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Verlagsort | Frankfurt am Main |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Anthologien |
Literatur ► Romane / Erzählungen | |
Schlagworte | Abenteuer • Anthologie • Familie • Freude • Glück • Natur • Sommer • Strand • Urlaub |
ISBN-10 | 3-10-390007-4 / 3103900074 |
ISBN-13 | 978-3-10-390007-1 / 9783103900071 |
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