Öffentlich arbeiten (eBook)
187 Seiten
Suhrkamp Verlag
978-3-518-75289-0 (ISBN)
»Schreiben, um zu beschreiben, beschreiben, um weiterarbeiten zu können, um hoffen zu können. Auch um auf Änderungen, Veränderungen hoffen zu können.« Christoph Hein, eine der wichtigsten Stimmen der deutschen Gegenwartsliteratur, gibt mit den hier versammelten Essais und Gesprächen aus den Jahren 1978 bis 1986 Einblick in seine Arbeit. Er stellt die Frage nach dem Stellenwert der Kunst in einem geteilten Deutschland, nach Macht und Machtlosigkeit der Literatur. Er erzählt von der Theaterarbeit in der DDR und der Schwierigkeit, die eigenen Stücke aufgeführt zu sehen - »Wenn wir nur etwas Geduld und Seelenstärke aufbringen, so können wir zu meinem 25., 50. etc. Todestag Inszenierungen der Stücke erleben« -, setzt sich mit Jakob Michael Reinhold Lenz, mit Anna Seghers, Thomas Mann und Walter Benjamin auseinander und gibt Aufschluß über eigene Werke wie die Novelle Der fremde Freund/Drachenblut oder das Stück Cromwell.
Diesem engagierten Plädoyer für eine kritische Kunst liegt die Einsicht zugrunde, daß Kultur der öffentlichkeit bedarf - und zwar ohne Restriktionen irgendeiner Art.
<p>Christoph Hein wurde am 8. April 1944 in Heinzendorf/Schlesien geboren. Nach Kriegsende zog die Familie nach Bad Düben bei Leipzig, wo Hein aufwuchs. Ab 1967 studierte er an der Universität Leipzig Philosophie und Logik und schloss sein Studium 1971 an der Humboldt Universität Berlin ab. Von 1974 bis 1979 arbeitete Hein als Hausautor an der Volksbühne Berlin. Der Durchbruch gelang ihm 1982/83 mit seiner Novelle <em>Der fremde Freund / Drachenblut</em>.<br /> Hein wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u.a. mit dem Uwe-Johnson-Preis und Stefan-Heym-Preis. Seine Romane sind <em>Spiegel</em>-Bestseller.</p>
Worüber man nicht reden kann, davon kann die Kunst ein Lied singen
Zu einem Satz von Anna Seghers
Wir dürfen ja nicht in der Beschreibung steckenbleiben. Denn wir schreiben ja nicht, um zu beschreiben, sondern um beschreibend zu verändern.
Anna Seghers, 1932
Ein spanisches Märchen, der Prinz mit den Eselsohren. Drei gute Feen schenkten dem neugeborenen Prinzen Schönheit, Verstand und Aufrichtigkeit. Und eben die Eselsohren, damit er nicht stolz und übermütig werde. Die Hybris zu wehren. Eselsohren jedoch sind Schande, zwingen zum Verschweigen, Verstummen, zur Lüge. Man verbirgt sie, den Prinzen, die Wahrheit. Schweigen bei Strafe des Todes. Nur ein Barbier bekommt die Eselsohren zu sehen, das Vorrecht des Handwerks. Und die Qual, schweigen zu müssen, droht ihn nicht weniger zu kosten als das Verbot zu reden: Schweigen oder Reden, eins bringt ihn um den Verstand, das andere um den Kopf. Er rettet sich in die Natur und vertraut die Wahrheit dem Wald und den Feldern an. Er hat die Wahrheit gesagt und doch nicht gesprochen. Aber auch die Erde kann das drückende Geheimnis nicht für sich behalten. Die Bäume flüstern es, die Gräser zischeln es, die Winde raunen es. Und die Pfeifen, die sich die Hirten aus dem Rohr schnitzen, blasen unaufhörlich das Lied: Der Prinz hat Eselsohren. Nun ist die Wahrheit öffentlich geworden, und die Wahrheit verlangt Blutzoll, den Kopf des Barbiers. Da jedoch − es ist ein Märchen − erhebt der Prinz Einspruch. Warum soll der Barbier den Kopf verlieren? fragt er und entblößt seine Ohren, er hat nichts gesagt als die Wahrheit; ich werde auch mit Eselsohren ein guter König. Und im gleichen Moment waren seine Eselsohren verschwunden.
Genannt, gebannt, die Macht des Wortes, die Macht der endlich ausgesprochenen Wahrheit? Ein Märchen von der Kunst, über Literatur? Ich nenne das Übel, die Schuld, das Vergehen, und im gleichen Augenblick ist die Welt verändert, ist sie ohne dieses Übel, diese Schuld, dieses Vergehen. Mehr als das Gold hat das Blei die Welt verändert, sagt ein vergangenes Jahrhundert, und mehr als das Blei in der Zündpfanne das Blei im Setzkasten. Also, scheint es, kommt alles nur darauf an, die Welt zu beschreiben. Und Legenden, nicht weniger wundersam als die der Religionen, sollen die hartnäckigen Zweifler überzeugen: eine Aufführung von Beaumarchais' ›Figaros Hochzeit‹, und der Sturm auf die Bastille begann. Oder gewichtige Zitate gewichtiger Kronzeugen − wie: Einhundert Jahre russische Literatur waren die Revolution vor der Revolution − werden wie geprüfte Wahrheiten gehandelt, obgleich sie nicht mehr sind als höchst angebrachte Verbeugungen und windschiefe Metaphern.
Metaphern sind vage Aussagen mit unüberprüfbarem Wahrheitsgehalt. Wir pflegen uns in sie zu retten, wenn der Sachverhalt weniger erlaubt, als unsere Neigung und Ansicht es wünschen.
Nein, Literatur ist wohl ein Reagieren auf Geschichte, aber kein Urheber derselben. Und sie gewinnt nicht an Gewicht, wenn wir ihr falsche Gewichte anhängen. Sie kann uns unterhalten, zerstreuen, belehren und sogar bilden; sie kann erfreuen, ärgern und schockieren; sie vermittelt, und sie erzeugt Kultur; wir können fremde Erfahrungen durch Literatur fast zu den unseren und vermittels ihrer Hilfe eigene Erfahrungen uns verständlich machen. Alle weitergehenden Bewegungen benötigen andere Bedürfnisse, grundlegendere und gründlichere, radikale also, die Liebe etwa oder den Ruhm oder den Hunger. Darüber sprechen Shakespeare und Marx, aber auch ältere Testamente, etwa das Alte. Ich nenne diese drei als Kronzeugen, da sie gewiß nicht in dem Ruf stehen, von der Macht des Wortes nichts ZU wissen.
Unser Jahrhundert setzt weniger Hoffnung auf Literatur, wenn es überhaupt noch darauf setzt. Die Bücherverbrennungen sind seltener geworden, und ich fürchte, der Grund dafür liegt nicht in der gestiegenen Achtung vor dem geschriebenen Wort, sondern allein in der erkannten Harmlosigkeit, für die man nicht einmal das Feuerholz opfern will. Zudem kam man auf probatere Mittel: Wer Bücherverbrennungen scheut, hat die Möglichkeit, die Manuskripte erst gar nicht drucken zu lassen oder die fertigen Bücher zu ertränken, zu ertränken in einem Büchermeer, das alles verschlingt und allein einige schillernde Blasen und etwas schmutzigen Schaum an die Oberfläche läßt. Dieses Ertränken von Büchern ist ihre nachhaltigste Vernichtung, da alle anderen Arten Aufsehen erregen und dadurch gelegentlich unerwünschte paradoxe Folgen mit sich bringen. Und sie unterscheidet sich von Bücherverbrennungen weniger, als die uns glauben machen wollen, die jene mittelalterlich wirkenden Scheiterhaufen verurteilen und die moderneren und vollständigeren Autodafés praktizieren.
Die großen Sätze über die Wirkung der Literatur kommen uns schwerer über die Lippen als den vergangenen Jahrhunderten. Mag der Bleisatz noch die Bleikugel übertroffen haben, heute, da die Bücher aus dem Computer kommen, der auch die Raketen steuern soll und das einkalkulierte Chaos, finden wir wenig Gründe, auf die friedenserhaltende, kulturbewahrende, vernunftbringende Literatur als die aussichtsreichere Kandidatin zu setzen. Literatur ist nicht militant, selbst dann, wenn sie sich derart gebärdet. Sie erreicht nur den, der sie aufnimmt, sie spricht nur zu jenem, der sie hören will. Die Botschaft der Antigone kränkte keines Kreon Ohr, denn die besaßen durch die Jahrtausende keins für sie. Um so heftiger werden von beiden Seiten die Ausnahmen ausgestellt: Die Worte erscheinen mächtiger und die Mächtigen anrührbar.
Literatur, so lehrt die Geschichte, ist nicht mächtig. Gegen Herrschaft und Unterdrückung ist sie machtlos und kann − wenn sich diese gegen sie selbst wendet − nur in allerdings vielfältigen Maskeraden oder den gleichfalls sehr verschiedenen Formen der Illegalität überleben. Sie gehört nicht zu den waldursprünglichen, primären Bedürfnissen, die auch in den zivilisierten Gesellschaften nichts von ihrer beherrschenden Stellung verloren haben.
(Eine Randbemerkung zur Zivilisation: Wir verstehen darunter die Gesamtheit der durch den Fortschritt von Wissenschaft und Technik geschaffenen und stetig verbesserten materiellen und sozialen Lebensbedingungen. Da diese Verbesserungen der Lebensbedingungen zumindest in zwei Erdteilen höchst fraglich ausfielen, können wir Zivilisation nur mit dem Stand der erreichten Technik gleichsetzen. Und da die technische Entwicklung in allen Staaten der Erde am großzügigsten, rücksichtslosesten und erfolgreichsten in der militärischen Forschung und Industrie betrieben wird und selbst die kleinsten Erfindungen für den zivilen Bereich, etwa den Haushalt, sich nur zu oft als Nebenprodukte der Kriegsforschung erweisen, können wir als genauere Definition formulieren: Zivilisation ist der jeweils erreichte Stand der Waffentechnik samt ihrer zivilen Abfallprodukte und den sich daraus ergebenden materiellen und sozialen Lebensbedingungen der staatsabhängigen Bürger. Soviel zum Zauberwort Zivilisation.)
Literatur hat das Fortschreiten der Menschheit nicht bewirkt. Wo sie ihren Beitrag dazu leistete, hat sie auch ihren Anteil am menschenfeindlichen Fortschritt und der Barbarei. Wenn nach den Kriegen große und bewegende Bücher gegen diese Art des Genozids erschienen, so soll nicht vergessen sein, daß zuvor eine Literatur geschrieben wurde, welche diesem Massenmord Vorschub leistete und ihn begrüßte. Auch die Literatur hat ihren Januskopf.
Sie ist nicht mächtig, die Literatur, sagte ich, sie ist machtlos. Ich vermied zu sagen, sie sei ohnmächtig. Denn wenn ich auch nicht die Euphorie vergangener Jahrhunderte bezüglich ihrer Wirkungen zu teilen vermag, zu behaupten, sie sei ohnmächtig, widerspricht meinen Erfahrungen, den geschichtlichen und persönlichen wie den privaten.
Ich habe jetzt eine Erfahrung zu nennen, die auf den Begriff zu bringen mir schwerfällt. Sie führt zu so komplexen Bereichen wie Literatur und Herrschaft, Sprache und Realität, Poesie und stattfindende Geschichte. Ich will versuchen, diese Erfahrung mit einfachen Worten zu beschreiben, in der Hoffnung, sie auf diese Art zu begreifen, zu erfassen. Anders gesagt: das Wahrgenommene auch aufzunehmen.
Ich bemerkte, daß in der Jetztzeit, also der stattfindenden Geschichte, wie in der Vergangenheit nicht notwendig das...
Erscheint lt. Verlag | 27.10.2019 |
---|---|
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Essays / Feuilleton |
Literatur ► Romane / Erzählungen | |
Schlagworte | Aufsatzsammlung • Deutschland • Geschichte 1978-1986 • Kinderbuchpreis des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 • Literarisches Leben • Literaturproduktion • Prix du Meilleur livre étranger 2019 • Samuel-Bogumił-Linde-Preis 2019 • Schriftsteller • ST 3590 • ST3590 • suhrkamp taschenbuch 3590 |
ISBN-10 | 3-518-75289-8 / 3518752898 |
ISBN-13 | 978-3-518-75289-0 / 9783518752890 |
Haben Sie eine Frage zum Produkt? |
Größe: 1,5 MB
DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasserzeichen und ist damit für Sie personalisiert. Bei einer missbräuchlichen Weitergabe des eBooks an Dritte ist eine Rückverfolgung an die Quelle möglich.
Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belletristik und Sachbüchern. Der Fließtext wird dynamisch an die Display- und Schriftgröße angepasst. Auch für mobile Lesegeräte ist EPUB daher gut geeignet.
Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise
Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.
aus dem Bereich