Lebenswerk (eBook)
220 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-75667-6 (ISBN)
Mutterschaft ist ein Prozess, in dem sich ein gewöhliches Leben in ein Chaos aus mächtigen Leidenschaften verwandelt. Rachel Cusk seziert diese Erfahrung am eigenen Leib - und das auf eine so ehrliche und unsentimentale Weise, dass sie damit zur »meistgehassten Schriftstellerin Großbritanniens« (The Guardian) geworden ist.
Rachel Cusk erzählt ein Jahr aus ihrem Leben als Mutter, und ihr Bericht wird zu vielen Geschichten - zu einem Abgesang auf Freiheit, Schlaf und Zeit, zu einer Lektion in Demut und harter Arbeit, zu einer Reise zu den Urgründen der Liebe, zu einer Mediation über Wahnsinn und Sterblichkeit und zu einer éducation sentimentale über Babys, Stillen, schlechte Ratgeberbücher, Krabbelgruppen und Schreiheulen. Und darüber, niemals, niemals einen Moment für sich selbst zu haben.
Rachel Cusk ist die Autorin von <em>Der andere Ort </em>(Prix Femina étranger), der <em>Outline</em>-Trilogie, der autobiographischen Essays <em>Lebenswerk</em> und <em>Danach</em> sowie mehrerer anderer belletristischer Werke und Sachbücher, darunter ihr jüngster Roman <em>Parade</em> (Goldsmiths Prize, 2024). Sie ist Guggenheim-Stipendiatin, Trägerin des Malaparte-Preises 2024 und wurde dieses Jahr mit dem Titel Chevalier de l'ordre des arts et des lettres ausgezeichnet. Sie lebt in Paris.
Vierzig Wochen
In der Schwimmbadumkleide gibt es weibliche Körper zu sehen. Im nackten Zustand nehmen sie, ähnlich wie Höhlenmalerei, erzählerische Eigenschaften an; Eigenschaften, die üblicherweise durch Kleidung und Kontext verschleiert werden und nur hier zum Vorschein kommen, an diesem feuchtwarmen, öffentlichen Ort, der uns anonym aufgrund unseres Geschlechts zu einer Gruppe zusammenfasst. Obwohl auch ich einen Frauenkörper habe, weckt der Anblick der Nackten vorübergehend eine kindliche Angst in mir, eine Mischung aus Ekel und Ehrfurcht vor Brüsten, Bäuchen, Hüften, dem ursprünglichen, ungeschönten Fleisch, das sich hier so selbstvergessen und bar jeden Reizes zeigt, als diente es allein der Reproduktion. Die Föhne singen, die Schranktüren knallen, über den gekachelten Boden des Duschraums fließt der Schaum in Schlieren. Geäderte, muskulöse Beine staksen hin und her, bloße Hände entwirren verfilztes Haar oder reiben vor Anstrengung zitternde Gliedmaßen ab. Die Brüste, Bäuche und Hüften werden durch Muttermale und Narben, gefältelte oder glatte Haut individualisiert, sie tragen eingestochene Runen oder sind so leer wie frisch gemeißelter Marmor; es handelt sich um aussagekräftige Materie, um Objekte, die allein über ihre Form kommunizieren. Manchmal sind da auch Kinder in der Umkleide, sie starren, wie ich früher gestarrt habe und es irgendwie immer noch möchte, in verbotenem Erstaunen und voller Angst vor der zweideutigen Erwachsenenphysiognomie mit ihren unverhüllten Ausbuchtungen, ihrer Behaarung, ihrer Patina aus Alter und Erfahrung, die von unsäglichen Geheimnissen der Lust und des Leidens zeugt, von Paarung, Schwangerschaft und Entbindung. Wie der Trailer eines Horrorfilms deutet der Erwachsenenkörper vage an, was in der Vorstellung des Kindes warten muss, bis ihm Zutritt zur vollständigen Enthüllung gewährt wird.
Als Kind habe ich mir von dem Augenblick an Sorgen gemacht, als ich Genaueres über den Geburtsvorgang und seine näheren Umstände erfuhr. Nach meiner Lesart gab es keine Fußnoten, und keine zusätzliche Klausel garantierte, dass nicht alle Frauen ein Kind bekommen müssen, geschweige denn können. Wie alle Tatsachen des Lebens erschien auch diese Frage unverhandelbar. Ich betrachtete meinen schmalen, kurvenlosen Körper und stellte mir vor, dass eines Tages ein zweiter Körper aus ihm herauskommen würde, wobei mir nicht ganz klar war, wie oder woher eigentlich. Soweit ich wusste, würde ich zu keinem späteren Zeitpunkt mit einer entsprechenden Vorrichtung ausgestattet werden. Mein Körper trug das Versprechen der Traumatisierung jetzt schon in sich, ähnlich einer mit Süßigkeiten gefüllten Piñata. Manche Leute bewahren die Figuren auf, weil sie selbst unter dem Druck ihres drängenden, unstillbaren Verlangens unfähig sind, ihnen die vorgesehene Gewalt anzutun, doch die meisten Leute haben kein Problem damit. In Kalifornien, wo ich aufgewachsen bin, wurde bei Kindergeburtstagen mit Stöcken auf die Piñata eingedroschen, bis sie platzte und ihre köstliche Füllung preisgab. Kein besonderes Verständnis war nötig, um zu ahnen, dass eine Entbindung eine extrem schmerzhafte Angelegenheit ist, und meine frühesten Erfahrungen mit dem Schmerz stellten sich rasch in den Dienst dieser Ahnung. Anscheinend war die Fähigkeit, körperliches Unbehagen zu ertragen, für Menschen meines Geschlechts eine notwendige Beigabe. Jedes Mal, wenn ich mich schnitt oder stieß, hinfiel oder zum Zahnarzt musste, spürte ich nicht nur den Schmerz, sondern Fassungslosigkeit darüber, dass ich ihn gespürt hatte, dass ich eine so kleine Verletzung wahrgenommen hatte, obwohl mich doch in der Zukunft eine viel größere, rätselhafte Qual erwartete.
In der Schule wurde uns ein Film gezeigt: Eine Frau bringt ein Kind zur Welt. Die Frau war nackt und hatte dünne, sehnige Arme und Beine, die rings um ihren riesigen, leidvoll angeschwollenen Bauch ruderten und strampelten. Ihr Haar war lang und verfilzt. Weder lag sie in einem Bett, noch war sie von einem hellen Glorienschein aus weißbekittelten Ärzten und Hebammen umgeben. Offenbar schien sie sich nicht einmal im Krankenhaus zu befinden. Sie war allein in einem kleinen Raum, leer bis auf einen niedrigen Hocker in der Mitte. Der Anblick des Hockers verstörte mich. Gegen den bevorstehenden Angriff schien er nur unzureichend Schutz zu bieten. Die Aufnahme wirkte trüb und nächtlich, und ich als Zuschauerin hatte den Eindruck, wie ein Voyeur durch ein Loch in der Wand einen schrecklichen, geheimen Vorgang zu beobachten, der mein Verständnis und meine Bereitschaft hinzusehen überstieg. Die Frau bewegte sich stöhnend und brüllend durchs Zimmer wie eine Verrückte oder wie ein Tier in einem Käfig. Manchmal lehnte sie sich minutenlang an die Wand und vergrub den Kopf zwischen den Armen, bevor sie sich abstieß und mit einem Aufschrei an die gegenüberliegende Wand warf. Es war, als kämpfe sie gegen einen unsichtbaren Gegner, und ihre Einsamkeit fand ich angesichts der Lautstärke und Heftigkeit ihrer Reaktionen befremdlich. Irgendwann merkte ich, dass sie gar nicht allein war; eine zweite, vollständig bekleidete Frau saß still in der Ecke. Gelegentlich murmelte sie kaum hörbar vor sich hin. Ihre Stimme klang nutzlos und schwach, doch offenbar meinte sie es gut. Ihre Anwesenheit verlieh der Szene ein Maß an Amtlichkeit, aber ihre Weigerung zu helfen und ihr mangelndes Mitgefühl schienen mir unerklärlich und grausam. Die nackte Frau raufte sich heulend die Haare. Sie wankte unvermittelt in die Mitte des Zimmers und sank auf den Hocker, zog ein Bein an, streckte das andere zackig zur Seite und legte sich die Hände an die Brust, als wollte sie singen. Ihre Gefährtin stand auf und kniete sich vor sie hin. Die feststehende Kamera zoomte diese neue Entwicklung nicht für uns heran, im Gegenteil, das Bild schien wie zur Warnung noch trüber und unschärfer zu werden. Die beiden Frauen verharrten eine Weile in einem halbdunklen Tableau der Zweisamkeit, und dann plötzlich beugte die bekleidete Frau sich vor und streckte die Hände aus, und hinein fiel ein kleiner, strampelnder Babykörper. Der finale Schmerzschrei der Nackten stieg als kanneliertes Freudenjodeln in die Höhe.
»Natascha hatte sich im Jahre1813 zu Beginn des Frühlings verheiratet«, schreibt Tolstoi im Epilog zu Krieg und Frieden über seine romantische Heldin, »und hatte im Jahre1820 schon drei Töchter und einen Sohn, den sie sich sehr gewünscht hatte und jetzt selbst nährte. Sie war voller und breiter geworden, so daß man in dieser kräftigen Mutter nur schwer die frühere schlanke, bewegliche Natascha wiedererkannte. Ihre Gesichtszüge waren bestimmter geworden und trugen den Ausdruck ruhiger Milde und Klarheit. Auf ihrem Gesicht lag nicht wie früher dieses beständig brennende Feuer der Lebhaftigkeit, das ihren besonderen Reiz gebildet hatte. Jetzt sah man bei ihr oft nur Gesicht und Leib, und von der Seele war nichts zu sehen. Man sah nur das kräftige, schöne, fruchtbare Weib.«
In der Schwangerschaft geben das Leben des Körpers und das des Geistes ihre Anstrengung der Getrenntheit auf und verflechten sich auf fatale und bleibende Weise. Die Mutterschaft als Nachspiel von Jugend, Schönheit oder Unabhängigkeit verspricht von Seite eins an, ein längeres und schwierigeres Buch zu werden; es wäre die Geschichte davon, wie Tolstois Natascha sich von der trällernden, mit Bändern geschmückten Herzensbrecherin in eine undurchschaubare Matriarchin verwandelt, wie aus Töchtern Mütter werden und aus jungen Heldinnen erbitterte Gegnerinnen des romantischen Plots. Aber dieses Buch hat Tolstoi nie geschrieben. Stattdessen schrieb er Anna Karenina, in dem er die in der Mutter übriggebliebene Frau herauspräparierte und uns ihr zerstörerisches Potenzial vor Augen führte. Denn Mutterschaft ist eine Karriere in Konformität; keine List könnte die Seele gewaltlos daraus befreien, und ihr Grundausbildungslager ist die Schwangerschaft.
Meine Ankunft in jenem Lager ist absehbar, aber schlecht vorbereitet. Über die Schwangerschaft weiß ich nur, was alle darüber wissen, nämlich wie sie von außen aussieht. Ich bin viele Male daran vorbeigegangen und habe mich gefragt, was hinter den hohen Mauern geschieht. Im Bewusstsein der Schmerzen, die jede Insassin als Bedingung ihrer Entlassung ertragen muss, habe ich sie mir immer als einen geheimen und hochspezialisierten Vorbereitungsprozess vorgestellt. In geschlossenen Umschlägen werden vertrauliche...
Erscheint lt. Verlag | 27.10.2019 |
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Übersetzer | Eva Bonné |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | A life's work |
Themenwelt | Literatur ► Biografien / Erfahrungsberichte |
Literatur ► Romane / Erzählungen | |
Schlagworte | A Life's Work deutsch • Babies • Baby • England • Erstes Jahr mit Baby • Erstes Jahr mit Kind • Familie und Beruf • Frau und Mutter • Geburt • Heinrich Maria Ledig-Rowohlt-Preis 2022 • Kinderkriegen • Mutterschaft • Mutter sein • Mütter und Töchter • neues Buch • #Regretting Motherhood • Regretting Motherhood • Schwangerschaft • ST 5192 • ST5192 • suhrkamp taschenbuch 5192 • Vereinbarkeit |
ISBN-10 | 3-518-75667-2 / 3518756672 |
ISBN-13 | 978-3-518-75667-6 / 9783518756676 |
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