Klassiker! (eBook)

Ein Gespräch über die Literatur und das Leben
eBook Download: EPUB
2019
160 Seiten
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
978-3-446-26657-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Klassiker! - Michael Krüger, Martin Meyer, Rüdiger Safranski
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Welche Rolle spielen die Klassiker heute? Rüdiger Safranski im Gespräch mit Michael Krüger und Martin Meyer
Goethe und Schiller, Hölderlin und Nietzsche: Wie steht es um die Klassiker? Wie bewähren sie sich in einer Zeit, die einstige Gewissheiten unserer Kultur radikal in Frage stellt? Welche Rolle spielen sie noch auf dem Theater, für die private Lektüre? Fragen, die man am besten Rüdiger Safranski stellt. Seit seiner E.-T.-A.-Hoffmann-Biographie von 1984 ist es auch sein Verdienst, dass sich eine große Öffentlichkeit mit Leben und Werk literarischer und philosophischer Klassiker auseinandersetzt. Nun hat er sich mit seinem langjährigen Verleger Michael Krüger und dem Publizisten Martin Meyer zu einem Gespräch getroffen, das auch um die Frage kreist, welche Rolle die Klassiker in unserem Leben spielen.

Michael Krüger, geboren 1943 in Wittgendorf/Sachsen-Anhalt, lebt in München . Er war viele Jahre Verlagsleiter der Carl Hanser Literaturverlage und Herausgeber der 'Akzente' sowie der 'Edition Akzente' und von 2013 bis 2019 Präsident der Bayerischen Akademie der Schönen Künste. Er ist Mitglied verschiedener Akademien und Autor mehrerer Gedichtbände, Geschichten, Novellen, Romane und Übersetzungen. Für sein schriftstellerisches Werk erhielt er zahlreiche Auszeichnungen, u.a. den Peter-Huchel-Preis (1986), den Mörike-Preis (2006) und den Joseph-Breitbach-Preis (2010).

Herkunft, Kindheit, Schulzeit


Michael Krüger: Wir fangen bei der Geburt an.

Martin Meyer: Oder noch besser bei der Zeugung.

Rüdiger Safranski: Bei der Zeugung, ja, ja, genau.

MM: Die erste Frage kann, ja muss dann doch lauten: Wie kommt es, dass einer, der nach dem Krieg in einer kleinen württembergischen Provinzstadt geboren wurde, wo es wahrscheinlich nicht groß um Literatur ging und auch sicher kaum um Philosophie, sein Leben später dem großen und erhabenen Narrativ des deutschen Geistes um 1800 widmet?

RS: Wir Safranskis sind ja eine Flüchtlingsfamilie, auf einmal waren wir in Württemberg, in Rottweil, in einer an sich katholischen Stadt, und um uns herum, in den Flüchtlingskreisen, sind alle evangelisch, davon ziemlich viele Pietisten. Weil sie so streng waren, nannte man sie später in der Zeit des Vietcong Pietcong. Ich wurde in Rottweil geboren, war sogar noch von einem Bombenangriff betroffen. Da fiel dann zwar keine Bombe, aber ich wurde als kleines Baby in den Bombenkeller geschafft und habe alles heil überstanden, außer einem Ohrschaden, den ich seitdem habe: Das ist gewissermaßen ein Kriegsschaden, dass ich auf einem Ohr schlecht höre. Gezeugt worden bin ich aber in Königsberg während eines illegalen Fronturlaubs meines Vaters, wie ich später herausbekommen habe. Er ist von der Ostfront an die Westfront versetzt worden, unterwegs in Königsberg hat er mich wohl eilig gezeugt, denn er musste am nächsten Tag wieder weiter. Meine Mutter floh im Sommer 1944 aus dem noch unzerstörten Königsberg mit meiner kleinen Schwester, der Großmutter und mit mir in ihrem Leibe. Ich bin also pränatal vor den Russen geflohen. Wir gehörten zu den Heimatvertriebenen. Es gab ein schönes Buch in den frühen zweitausender Jahren, Kalte Heimat, da hat Andreas Kossert untersucht, wie eigentlich die Integrationsgeschichte der Flüchtlinge im Nachkriegsdeutschland abgelaufen ist. Als Kind bekam ich davon doch einiges mit, vor allem den Umstand, dass zu Hause Hochdeutsch geredet wurde und in der Schule Schwäbisch.

MK: Wo kam denn die Familie deines Vaters her?

RS: Die Vorfahren meines Vaters verlieren sich irgendwo in den polnischen Sümpfen im 19. Jahrhundert, mehr wissen wir nicht. Interessanter ist die mütterliche Linie. Die hießen Schleiminger und lebten im 18. Jahrhundert noch im Salzburgischen, bei Schladming. Sie waren Protestanten und wurden von dem offenbar ziemlich fanatischen, katholischen Erzbischof verjagt. Konfessionelle Säuberung eben. Der Preußenkönig, der Vater von Friedrich dem Großen, nahm sie Anfang des 18. Jahrhunderts in Ostpreußen auf. Dort siedelten sie und wurden Bauern, aber ein Teil ist aus Heimweh wieder zurückgekehrt, sie hielten das flache Land dort nicht aus. Verwandte von uns haben herausbekommen, dass diese Schleimingers aus dem Salzburgischen dorthin einst geflohen waren aus den verwüsteten Landstrichen Schwabens während des Dreißigjährigen Krieges. Mit der Flucht der Familie 1944 aus Ostpreußen nach Schwaben schließt sich also ein Kreis über drei Jahrhunderte hinweg. Flucht und Vertreibung — der Wahnsinn der europäischen, der deutschen Geschichte.

Als kleiner Junge merkte ich durchaus, dass wir zu einer Diaspora gehörten. Zwar hatte ich sonst wenig Probleme mit meinen Schulkameraden, ich war eigentlich vollständig integriert. Aber dann beobachtete ich bei meinen Eltern, dass sie meist mit den Heimatvertriebenen zusammen waren und von der Restbevölkerung in Rottweil kaum angenommen wurden. Es gab eben Vorbehalte. Ich persönlich habe das in der Schule erlebt. Wenn das Klassenbuch angelegt wurde, musste jeder seinen Namen sagen. Da meldeten sich dann die Schmelzles und Häberles und wie sie alle regionsüblich hießen, und dann kam der Safranski. Wie heischt du? Safranski? Gang amol an die Tafel und schreib des auf. An dieser Sonderbehandlung, wenn ich als Einziger an der Tafel meinen ungewöhnlichen Namen aufschrieb, bemerkte ich, dass da etwas Besonderes vorlag.

MK: Und welchen Beruf hatte der Vater?

RS: Der Vater war Jurist, hatte in Königsberg studiert, kam aus einer kleinbürgerlichen Familie, alles wurde zusammengekratzt, damit er studieren konnte. Er hatte den Referendar gemacht und wollte dann aber nicht in den nationalsozialistischen Staatsdienst. Das habe ich erst viel später herausbekommen. Er war kein Widerstandskämpfer, doch da er den Staatsdienst vermeiden wollte, bereitete er sich darauf vor, in einer Anwaltskanzlei zu arbeiten. Das war kurz vor dem Krieg.

MM: Wo spielte sich das ab?

RS: In Königsberg. 1938 wurde er zum Wehrdienst eingezogen, weil er nach dem Referendariat und ohne Staatsdienst ja »frei« war. Er war dann im Krieg und zwei Jahre in französischer Kriegsgefangenschaft. Als er wieder nach Hause kam, hatte er das Problem, dass er nicht im Staatsdienst gewesen war — man stellte zuerst diejenigen ein, die drinnen geblieben waren. Er musste eine Familie ernähren, und so hat er dann erst einmal in der Fabrik gearbeitet, und dann hat er umgelernt, eine kaufmännische Ausbildung absolviert und später dann als Prokurist gearbeitet. Es gab also neben der Deklassierung als Flüchtling auch noch eine berufliche Deklassierung. Die habe ich gespürt, wenn in der Schule gefragt wurde, was der Vater für einen Beruf habe. Ich sollte antworten, schärfte mir meine Mutter ein, »Jurist«, weil das besser klingt. Auf die Nachfrage, was denn für ein Jurist, konnte ich dann nicht antworten. Sehr peinlich!

MM: War die Mutter auch berufstätig?

RS: Ja, sie war bei der Post. Dass die Mutter berufstätig war, kam ja eher selten vor, das musste man rechtfertigen.

MM: War sie dort in der Verwaltung beschäftigt?

RS: Ja, und sie hat das wohl ganz gerne gemacht. Um den Haushalt und die Kinder, meine Schwester und mich, kümmerte sich eine Großmutter, die Mutter meines Vaters, und deswegen konnte meine Mutter arbeiten. Und mit dieser Großmutter kommen wir schon auf die Spur der geistigen Prägung. Diese Großmutter war nämlich richtig pietistisch. Das war nicht dieser schwäbische Pietismus, sondern der womöglich noch strengere ostpreußische. Wenn ich sie mir heute auf alten Fotos anschaue, muss ich an den späten Beethoven denken, so sah sie aus. Sie war ja nun auch schon alt, aber doch noch sehr rüstig und hat uns mit allen Mitteln in diese pietistischen Kreise hineingedrückt. Am Sonntag traf man sich immer am Nachmittag um zwei Uhr bei den Pietisten zur Gebetsstunde. Da saßen dann in einem kleinen Gemeindesaal drei, vier ältere Männer, manche mit Bart, und legten das Wort Gottes aus. Dreißig, vierzig Leute, meistens auch ältere Leute hörten ihnen zu. In meiner Erinnerung handelte es sich oft um düstere Themen, Offenbarungen Johannis und so weiter, sehr apokalyptisch. Auf mich wirkte es einschläfernd. Das Ganze hatte so etwas Sedierendes, etwas Beruhigendes. Ich denke jedenfalls nicht mit Schrecken daran, nur war es eben so, dass der Weg am Sonntag um zwei Uhr von den Safranskis zu diesem Ort, wo die Bibelstunde stattfand, an eine Gabelung führte. Dort musste man rechts abbiegen, und genau an dieser Abzweigung war das Kino. Und das Kino hatte am Sonntag immer um zwei Uhr Jugendvorstellung. Wenn wir mit der Großmutter kamen, standen meistens ein paar meiner Klassenkameraden vor dem Kino, aber wir bogen eben rechts ab, statt Kino Bibelstunde.

MM: Das dürfte bei den Kameraden aber eher Mitleid erzeugt haben …

RS: Na ja, eher vielleicht Spott. Es gab eben zwei Wege, wie das meine Großmutter und ich dann auch sahen, der weltliche und der geistliche, der von ihr so genannte »ernste«. Hier also der Ernst, dort das Lotterleben des Irdischen, des Weltlichen und so weiter. Dass es diese beiden Welten gibt, das war entscheidend. Nun muss ich aber sagen, dass meine Mutter ganz und gar weltlich war, eher eine Frohnatur, die auf Vergnügen aus war.

MM: Dann folgere ich messerscharf: Das Fröhliche stammt von Mutters Seite.

RS: Ja, das habe ich wohl von meiner Mutter. Auch der Vater hatte mit den Pietisten nichts am Hut. Er sagte jedem, der es hören wollte, er sei ein Heide. Ich erlebte nun diese beiden Welten nicht als eine zerreißende Spannung. Meine Schwester, die etwas älter ist, die vielleicht auch noch stärker unter dem Einfluss meiner Großmutter stand, hat das eher als Konflikt erlebt. Ich konnte die eine Welt mit der anderen offenbar ganz gut ausbalancieren. Sie relativierten sich wechselseitig.

...

Erscheint lt. Verlag 21.10.2019
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Essays / Feuilleton
Schlagworte Biografie • Böse • Freundschaft • globalsierung • Goethe • Hanser • Heidegger • Hoffmann • Hölderlin • Kanon • Klassik • Klassiker • Krüger • Lektüre • Literatur • Meyer • Nietzsche • Romantik • Safranski • Schiller • Schopenhauer • Wahrheit • Zeit
ISBN-10 3-446-26657-7 / 3446266577
ISBN-13 978-3-446-26657-5 / 9783446266575
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